# taz.de -- Bremen eröffnet Musiktheater-Saison: Die Psycho-Oper | |
> Marco Štorman inszeniert Peter Grimes, Brittens | |
> psychologisch-dramatisches Meisterwerk - mit viel Empathie für den | |
> gewalttätigen Protagonisten | |
Bild: Im Bremer Theater: Peter Grimes‘ gedoppeltes Seelenleben (Will Hartmann) | |
„Wir leben in einer Welt tiefgreifender sozialer Konflikte aus Eigennutz | |
und Missachtung anderer Menschen, der Zerstörung der Umwelt.“ Diese | |
Feststellung umreißt präzis den Plot der Benjamin-Britten-Oper „Peter | |
Grimes“, mit dem der Goetheplatz nun seine Musiktheater-Saison eröffnete. | |
Aber sie steht nicht im Premieren-Programmheft, sondern in der Einleitung | |
zur Bremer „Woche der seelischen Gesundheit“, die ebenfalls gerade begann. | |
Theater am Puls der Stadtgesellschaft – auch, wenn‚s diesmal Zufall ist. | |
Sogar der ökologische Aspekt passt perfekt: Grimes ist ein einsamer | |
Küstenbewohner, der das Meer leer fischen will, um als reicher Mann es | |
endlich allen zu zeigen. Allerdings sterben auffällig oft seine Lehrjungen: | |
auch wieder ein Zufall? Man muss das Misstrauen der als bizarre Meute | |
inszenierten Dorfbewohner gegen Grimes nicht notwendig als Massenhysterie | |
lesen – sie wäre sogar als Solidarität mit den misshandelten Waisenhäuslern | |
darstellbar, die bei Grimes als Lehrjungen schuften. Ist es nicht gut, wenn | |
die Gemeinschaft hinguckt? Bei Verletzungen nachfragt und auf die | |
Aufklärung von Todesumständen besteht? | |
Das sind Fragen, die ebenso wie Grimes‘ moralische Einordnung bei Britten | |
unbeantwortet und ambivalent bleiben. Regisseur Marco Štorman hingegen | |
nimmt klar Partei: Seine Empathie von gehört dem Einzelnen, der Hauptfigur, | |
deren Gesicht sich als eindrucksvolle Videoprojektion immer wieder am | |
Bühnenbild bricht. Štorman hat sich für eine selten so zu sehende | |
Pro-Grimes-Inszenierung entschieden: Ein Konzept, das angesichts der | |
sensationellen persönlichen Perfomance von Will Hartmann als Grimes | |
ästhetisch voll aufgeht. Dass zwischen Gast und Ensemble, alle unter dem | |
packenden Dirigat von Markus Poschner, kaum künstlerische Fallhöhe zu | |
erleben ist, zeigt, welch talentierte Riege an Sänger-Darstellern | |
mittlerweile am Haus arbeitet. Auch der Theaterchor glänzt auf der | |
dauergefluteten Bühne. | |
„In allen Lebensbereichen wachsen immer häufiger kreative Initiativen für | |
ein neues Miteinander – auch mit den Schwächeren unter uns.“ Dieser | |
hoffnungsvolle Ausblick, wieder zitiert aus dem Geleitwort der | |
Gesundheitswoche, ist bei Britten nur bedingt zu finden. Grimes ist am Ende | |
tot: Er versenkt sich selbst mit seinem Fischerboot, ein Suizid, den das | |
Theater Bremen freilich als selbstbestimmt inszeniert. Bei Britten rät ihm | |
sein einziger Unterstützer im Dorf, der pensionierte Kapitän, zu diesem | |
Schritt. Ein zweifelhafter Freundschafts-Dienst, den Štorman sozusagen weg | |
inszeniert hat. Zur Woche der seelischen Gesundheit hätte Suizid-Beihilfe | |
auch wirklich nicht gepasst. | |
9 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
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