| # taz.de -- Barrierefreies Musiktheater: Musik als Ganzkörpererfahrung | |
| > Das Kollektiv [in]Operabilities will Oper auf und vor der Bühne inklusiv | |
| > gestalten. „Die Insel“ war im Radialsystem zu spüren, fühlen und hören. | |
| Bild: Wenn das fiktive Schiff in der Oper „Die Insel“ in See sticht, streic… | |
| Ein Opernbesuch setzt vieles voraus: Geld im Portemonnaie, kombiniert | |
| möglichst mit musikalischer Vorbildung, auch Grundkenntnisse in | |
| Alt-Italienisch, griechischer, römischer und germanischer Mythologie sind | |
| hilfreich. Vor allem aber muss man sehen und hören können und in der Lage | |
| sein, sich – je nach Platzlage – zu einem Sitzplatz im dritten Rang | |
| vorzukämpfen. Kurz: Oper ist nicht barrierefrei. | |
| Das Kollektiv [in]Operabilities möchte das ändern. Mit dem | |
| Musiktheaterstück „Die Insel“ lotet das aus [1][gehörlosen, sehenden und | |
| nichtsehenden Künstler*innen] bestehende Ensemble eine als exklusiv | |
| verschriene Kunstform neu aus. | |
| Grundlage des Experiments ist die Oper „Rinaldo und Alcina“ der | |
| österreichischen Komponistin [2][Maria Theresia Paradis], die vor mehr als | |
| 200 Jahren als blinde Musikerin Aufsehen erregte. Erhalten geblieben ist | |
| nur das Libretto. Es erzählt die damals beliebte Geschichte der Zauberin | |
| Alcina, die einen auf ihrer Insel gestrandeten Ritter verzaubert, sodass er | |
| in Liebe zu ihr entbrennt, bis er schließlich von seiner Geliebten befreit | |
| wird. | |
| [in]Operabilities gestaltet dieses Libretto um – zu einem Gesamtkunstwerk | |
| für alle Sinne. Wenn das fiktive Schiff in See sticht, streichelt der | |
| Fahrtwind die Gesichter des Publikums – ausgelöst von riesigen Fächern, die | |
| die Darsteller:innen durch die Luft schwingen. Lichtsignale zucken als | |
| Blitze durch den Raum, an der Decke hängende Donnerbleche imitieren | |
| Gewittergeräusche auf offenem Meer. | |
| Den Zuschauer:innen steigt der distinkte Geruch weißer Dämpfe aus der | |
| Nebelmaschine in die Nase, aus deren Mitte die Magierin Alcina tritt. | |
| Gespielt wird die Herrin der Insel von der gehörlosen Darstellerin Athena | |
| Lange mit eindringlichen Präsenz. In graziösen und zutiefst musikalischen | |
| Bewegungen gebärdet sie Alcinas Zaubersprüche und verlängert sie zu großen | |
| Tanzbewegungen. | |
| Klingende Kostüme | |
| Rinaldo, verkörpert von [3][der blinden Tänzerin Sophia Neises,] erkundet | |
| rollend, kriechend und springend den kreisrunden Bühnenraum, geht mit den | |
| Zuschauer:innen auf Tuchfühlung und spielt auf einem Daumenklavier, das | |
| an Rinaldos Rüstung befestigt ist. Auch die anderen Kostüme klingen: | |
| Armreifen und Muschelketten klackern, Stoffe rascheln. Das Ensemble atmet | |
| laut hörbar ein und aus, stampft rhythmisch mit den Füßen, skandiert wie | |
| improvisiert wirkende Sprechgesänge: „Glücklich ist, wer Alcinas Grenzen | |
| betritt.“ | |
| Bei [in]Operabilities ist Musik eine Ganzkörpererfahrung, die man nicht nur | |
| mit den Ohren wahrnehmen kann. Das gilt auch für die eingesetzten | |
| Instrumente. Die Vibrationen von Cello und Theremin – ein elektronisches | |
| Instrument, das mit seiner langen Antenne ein bisschen an ein UFO erinnert | |
| – bringen elektronisch verstärkt den Holzboden zum Vibrieren und fahren | |
| einem von den Füßen durch alle Glieder. | |
| Wer die Musik nicht hören kann, kann sie spüren. Auf den Monitoren an den | |
| Wänden kann man den Text mitlesen. Zugleich kann man einer akustischen | |
| Beschreibung des Bühnengeschehens lauschen, die von Sängerin Marie Sophie | |
| Richter wahlweise gesprochen oder gesungen wird, während sie sich auf dem | |
| Cello zupfend dazu begleitet. Diese überraschende Mischung aus | |
| Gebärdensprache, Audiodeskription und Übertiteln wird zu einer | |
| performativen Collage, die über verschiedene Wahrnehmungsebenen zugänglich | |
| ist. | |
| „Die Insel“ führt vor, wie Kultur inklusiv und gemeinschaftlich erlebt | |
| werden kann, und fragt, was eine Oper eigentlich zur Oper macht. Diese | |
| Frage ist so alt wie die Kunstform selbst. Während die Opern Claudio | |
| Monteverdis um das Jahr 1600 noch dramma per musica hießen und die Gattung | |
| ganz klar unter das Primat der Sprache stellten, drehte Komponist Antonio | |
| Salieri, ein Zeitgenosse von Maria Theresia Paradis, den Spieß knappe 200 | |
| Jahre später um und ernannte die musikalische Virtuosität zum wichtigsten | |
| Element der Oper: Selbstbewusst deklarierte er das berühmt gewordene Motto | |
| Prima la musica e poi le parole. | |
| Gemeinschaftstiftende Erfahrung | |
| Noch heute tobt in der Fachwelt der Streit darum, was in der Oper am | |
| wichtigsten ist: Text oder Musik? [in]operabilities versucht eine | |
| alternative Antwort, die bis zu den Ursprüngen des Theaters als | |
| gemeinschaftsstiftende Erfahrung zurückgeht: Man findet sich im Kreis | |
| zusammen und erzählt ganz einfach eine Geschichte – mit allen zur Verfügung | |
| stehenden Mitteln. Man erlebt gemeinsam die Facetten des Menschseins. | |
| Oder wie es Lisa Sophie Richter, ans Publikum gewandt, ausdrückt: „Wir | |
| wollen eine Oper machen. Warum das? Weil uns jemand erzählt hat, dass in | |
| der Oper alle unsere Gefühle gefühlt werden dürfen. Weil es da eine | |
| Geschichte gibt, die uns erlaubt, uns zu verwandeln.“ | |
| 1 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Schors | |
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