# taz.de -- Bahnfahren in Corona-Zeiten: Der Mann mit der Maske | |
> Wer am Wochenende ICE fuhr, erlebte den Unterschied: Auf dem Bahnsteig | |
> noch Misstrauen, im Zug ist Corona vergessen. Wäre da nicht dieser | |
> Nachbar. | |
Bild: Abfahrt nach Leipzig! | |
Auf meiner BahnApp werden drei rote Männchen angezeigt. Das bedeutet: sehr | |
hohe Auslastung. Das überrascht mich. Ich wähnte mich schon vollkommen | |
allein im Großraumabteil des ICE nach Leipzig. Jetzt aber ist der | |
17.30-Uhr-Zug am Freitagnachmittag komplett voll, der von 18.30 auch. Es | |
werden Ersatzverbindungen angezeigt, die allesamt anderthalb Stunden länger | |
brauchen. Also buche ich schnell den Zug um 16.30 Uhr trotz der roten | |
Männchen und einen Sitzplatz. Das würde ich normalerweise nicht machen. | |
Ich pendle häufig zwischen den beiden Städten, mein Freund und meine | |
Familie leben in Leipzig. Aber in Zeiten der Pandemie ist es anders. Nach | |
langen Minuten vor dem Kleiderschrank entscheide ich mich für den großen | |
Koffer – man weiß ja nicht, welche Eilmeldung am nächsten Morgen auf dem | |
Handydisplay wartet. Ob irgendwann Bundesländer abgeriegelt werden oder der | |
Bahnverkehr eingestellt wird. Ich packe also einen großen Stapel Klamotten, | |
viele Bücher und übrig gebliebene Lebensmittel wie drei Bananen und einen | |
Brokkoli ein. Gleich fühl ich mich besser. Irgendwie vorbereitet. | |
Der unterirdische Bahnsteig am Hauptbahnhof ist voll. Die Menschen | |
versuchen trotzdem, weit auseinanderzustehen. Man beäugt sich. Man wartet. | |
Ich merke, dass auch ich mich misstrauisch umschaue. Eine Schaffnerin und | |
ein Schaffner von der Deutschen Bahn warten ebenfalls auf den Zug. In | |
rührender Hilfsbereitschaft desinfizieren sie sich gegenseitig die Hände. | |
Der Zug fährt ein. Jetzt ist es doch vorbei mit dem misstrauischen Abstand. | |
Die Menschen bilden hektisch Trauben um jede Zugtür. Ich lasse mich lässig | |
zurückfallen, habe ja reserviert. Als ich in Waggon 7 vor Platz 138 stehe, | |
merke ich, dass die Reservierungsanzeigen im Zug nicht funktionieren und | |
jemand auf meinem Platz sitzt. | |
Der Mann starrt angestrengt aus dem Fenster in das Nichts des schwarzen | |
Tunnels. Ich wäge kurz ab, ob ich ihn darauf hinweisen solle, dass er auf | |
meinem Platz sitzt, setze mich dann aber doch einfach neben ihn. Für einige | |
Minuten bin ich damit beschäftigt, das Szenario durchzuspielen, wenn jemand | |
käme, der den Platz reserviert hat, auf dem ich jetzt sitze. | |
## Frühling gegen Corona | |
Corona habe ich vergessen. Die anderen Reisenden wohl auch. Der Zug fährt | |
zu spät los. Einige Reihen vor mir streiten sich eine Frau und ein Mann | |
lauthals. Eine doppelte Sitzplatzreservierung. Die Schaffnerin mit den | |
desinfizierten Händen kommt und schlichtet. | |
Der Mann schleicht mit gebeugtem Kopf schnell in Richtung Waggon 8, während | |
die Frau sich siegreich auf ihrem Sitzplatz niederlässt. Die Sonne scheint. | |
Ich schaue aus dem Fenster auf die schüchtern-grünen Felder, und mich | |
überkommt ein Bedauern: dass das Leben jetzt zum Erliegen kommt, passt | |
nicht mit dem frühlingshaften Erwachen der Natur zusammen. | |
Da bückt sich mein Sitznachbar abrupt und kramt eine blaue Maske aus seinem | |
Rucksack. Nervös streicht er sie sich über den Kopf vor Mund und Nase. Ich | |
merke, wie Empörung in mir aufsteigt. Vielleicht bin ich ihm zu sehr auf | |
die Pelle gerückt, als ich meinen Kopf zu seiner Seite gedreht habe, um aus | |
dem Fenster zu schauen, das er verdeckt, weil er auf meinem reservierten | |
Fensterplatz sitzt. | |
Da steht er unvermittelt auf und schaut mich an. Um seine Augen bilden sich | |
viele Fältchen, anscheinend lächelt er unter seiner Maske. Er zeigt auf den | |
Gang, ich mache Platz. Jetzt merke ich, dass der Zug in den Leipziger | |
Bahnhof einrollt. Ich lächle verlegen. Die Maske war wohl doch nicht | |
meinetwegen. | |
18 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Marlene Militz | |
## TAGS | |
Kolumne Berlin viral | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Deutsche Bahn | |
Kolumne Berlin viral | |
Kolumne Berlin viral | |
Kolumne Berlin viral | |
Kolumne Berlin viral | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fliegen in Zeiten von Corona: Zum Husten lieber aufs Klo | |
An Bord eines der letzten Direktflüge von New York nach Berlin. Wer niest, | |
macht sich verdächtig. Wird es Probleme bei der Einreise geben? | |
Das Beste aus der Corona-Zeit machen: Zu Hause vorm iPad tanzen | |
Das lehrreiche Homeschooling, die vielen tollen Streamingangebote, so schön | |
kann das Zuhausebleiben sein? Nein, leider nicht. | |
Freunde besuchen in Corona-Zeiten: Lamentieren wegen der Bundesliga | |
Mein Freund ist seit der Corona Krise wieder besser gelaunt. Sagt aber, es | |
läge an den längeren Tagen. | |
Berliner Kneipen nach Corona: Wenn sogar Schlawinchen schließt | |
Das Schlawinchen ist eine Institution. Seit über dreißig Jahren hatte die | |
Berliner Kneipe ununterbrochen offen. Dass sie nun zu ist, sagt alles. | |
Radfahren in der Corona-Krise: Zwei Passanten ohne jede Empathie | |
In Mailand ist der Gang zur Mülltonne der einzig legale Ausflug des Tages. | |
In Berlin kann man schön in der Sonne radeln, doch auch da lauert Gefahr. | |
Corona-Krise in Berlin: Stille in der Stadt | |
In Berlin hat der Frühling begonnen. Aber dieses Jahr ist er anders als | |
sonst, obwohl manche Straßen fast genauso gefüllt sind wie sonst. | |
Finnlands Vorteile in Seuchenzeiten: Die Entschleunigten | |
Von den Finn*innen kann man derzeit viel lernen: Im dünn besiedelten Land | |
hält man auch ohne Shutdown lieber Abstand voneinander. | |
Nahverkehr während Corona-Krise: Die Bahnsteige leeren sich | |
Der Regionalverkehr der Bahn soll in den kommenden Tagen reduziert werden. | |
Weniger Reisende gibt es schon jetzt. |