# taz.de -- BDS und der Nelly-Sachs-Preis: Deutsche Reflexe | |
> Die BDS-Aktivistin Shamsie bekommt den Nelly-Sachs-Preis nicht. Das ist | |
> verständlich, doch israelkritische Positionen werden zu oft | |
> diskreditiert. | |
Bild: Autorin Kamila Shamsie auf der Frankfurter Buchmesse 2018 | |
In Dortmund hat eine Jury der britisch-pakistanischen Autorin Kamila | |
Shamsie erst den Nelly-Sachs-Preis verliehen, [1][dann wieder entzogen], | |
weil Shamsie die Israel-Boykott-Bewegung BDS unterstützt. Das wiederum hat | |
harschen internationalen Protest provoziert. Mehr als 200 vor allem | |
angloamerikanische AutorInnen, darunter mehrere | |
LiteraturnobelpreisträgerInnen, bekundeten ihre Bestürzung über die | |
Aberkennung des Preises. Eine peinliche Affäre für die Jury. | |
Auf den ersten Blick fügt sich der Fall Shamsie in eine Reihe von | |
kritikwürdigen Anti-BDS-Aktionen. Der Bundestag hat BDS [2][in toto für | |
antisemitisch] erklärt, was Augenmaß und Differenzierung vermissen ließ. | |
BDS besteht in Deutschland, anders als in Irland oder Schweden, nur aus ein | |
paar Dutzend AktivistInnen und spielt politisch keine Rolle. Zudem ist BDS | |
eine facettenreiche Bewegung, die von christlich motivierten AktivistInnen, | |
die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzten, über antikolonial | |
inspirierten Widerstand bis zu fundamentalistischen Israelgegnern reicht. | |
## BDS ist komplexer, als es scheint | |
In Deutschland ist man aus historischen Gründen mehr als vorsichtig mit | |
Boykottforderungen in Richtung Israel. Das ist richtig. Trotzdem ist das | |
Bild komplexer, als es der auf die NS-Zeit fixierte deutsche Blick erfasst. | |
So war BDS in Palästina der Versuch, nach dem Debakel der gewaltsamen | |
Intifada einen zivilen, friedlichen Weg einzuschlagen. | |
In der deutschen BDS-Debatte kommt dies ebenso wenig vor wie die Tatsache, | |
dass in Israel Liberale vor einer Hexenjagd gegen BDS warnen. Sie hegen | |
wenig Sympathien für die Boykottbewegung, sind aber alarmiert, weil sie in | |
der professionell inszenierten Anti-BDS-Kampagne des Ministeriums für | |
strategische Angelegenheiten eine rechtsautoritäre Formatierung der | |
Öffentlichkeit und einen Angriff auf die liberale Demokratie in Israel | |
erkennen. Die Netanjahu-Regierung bereitet völkerrechtswidrig die | |
Annektierung eines Teils des Westjordanlandes vor – die Anti-BDS-Aktionen | |
der Regierung sollen Kritik an der Besatzung als illegitim diffamieren. | |
In Deutschland kreist die Debatte indes über das Kampfwort Antisemitismus. | |
Das ist naheliegend, aber unterkomplex. Man dürfe, heißt es großzügig, die | |
israelische Regierung kritisieren. Doch wer das entschlossen tut, wird | |
schnell als antisemitisch disqualifiziert. Die deutsche BDS-Debatte ist | |
undifferenziert und so selbstfixiert, dass noch nicht mal auffällt, wie | |
seltsam der BDS-Beschluss des Bundestages in anderen westlichen Demokratien | |
wirkt. | |
## Deutsche Ängstlichkeiten | |
Der Fall Shamsie scheint in dieses Muster zu passen: hier deutsche | |
Ängstlichkeit, dort Protest von literarischen Koryphäen wie Richard Ford, | |
A. L. Kennedy, Deborah Eisenberg, Rachel Kushner, Michael Ondaatje und Teju | |
Cole, die allesamt nicht zu den üblichen Unterzeichnern in Sachen BDS | |
zählen. Hat die Jury also doppelt versagt – erst weil sie wenig über | |
Shamsie wusste, dann weil die deutschen Reflexe einschnappten? | |
Der Fall ist schwieriger. Die deutsch-jüdische Schriftstellerin Nelly | |
Sachs, von den Nazis ins schwedische Exil getrieben, hat so intensiv wie | |
Paul Celan den Mord an den Juden literarisch bearbeitet und der Qual des | |
Überlebens eine Stimme gegeben. „Wir Geretteten/ Immer noch essen an uns | |
die Würmer der Angst“, heißt es in dem Gedicht „ Chor der Geretteten“. | |
Israel erschien Sachs als das Land des „Urväterstaubs“. Ob sie, wie Peter | |
Hamm mutmaßte, fürchtete, dass in Israel aus „den Verfolgten bald Verfolger | |
werden könnten“, wissen wir nicht. Sachs war mit Politik weniger vertraut | |
als mit existenzieller Einsamkeit. Mag sein, dass sie die Idee Israel mehr | |
bewunderte als deren Verwirklichung. | |
Sachs, die 1966 den Nobelpreis zusammen mit dem hebräischen Autor Samuel | |
Joseph Agnon bekam, verstand sich als Stimme des jüdischen Opferkollektivs. | |
Shamsies Bücher hingegen werden nicht ins Hebräische übersetzt, weil die | |
Autorin nicht mit israelischen Verlagen zusammenarbeiten will. Wir können | |
annehmen, dass dieser Boykott Sachs mehr als nur missfallen hätte. Es ist | |
unsinnig, PreisträgerInnen auf das politische oder poetische Programm der | |
NamensgeberInnen zu verpflichten. Aber es ist ebenso unklug, jemand zu | |
küren, der in wesentlichen Punkten Konträres vertritt. Wäre es nicht | |
unangemessen, sagen wir, einen Edward-Said-Preis an einen israelischen | |
Rechten zu verleihen? | |
## Ist Israelkritik wirklich verfassungsfeindlich? | |
Allerdings ist der Fall Shamsie letztlich nur eine Randnotiz. Im größeren | |
Bild ist das Problem, dass BDS-Unterstützer wie Shamsie hierzulande wohl | |
gar keinen Preis bekommen. Und das gilt ebenso für Hunderte von AutorInnen | |
aus früher kolonialisierten Ländern, für afrikanische Philosophen und | |
lateinamerikanische Feministinnen, die mit BDS sympathisieren. | |
Ein halbes Jahr nach dem Bundestagsbeschluss ist erkennbar, dass dies nicht | |
das Ende, sondern erst der Anfang einer Ausgrenzungskampagne war. Radikal | |
israelkritische jüdische Organisationen wie die Jüdische Stimme dürfen bei | |
der [3][Bank für Sozialwirtschaft kein Konto haben]. In München bekommen | |
BDS-nahe Organisationen kaum noch Räume für Veranstaltungen. Der Leiter des | |
Jüdischen Museums in Berlin, der eine umstrittene Jerusalem-Ausstellung | |
verantwortet hatte, [4][musste zurücktreten]. Die Liste ist noch länger. | |
Die Atmosphäre wird stickiger. | |
Der Berliner Innensenator Andreas Geisel will nun BDS vom Verfassungsschutz | |
beobachten lassen. Sogar [5][„grundsätzliche Kritik“ an Israel] scheint ihm | |
verfassungsfeindlich, BDS sei „noch nicht gewalttätig“. Das ist ein | |
hübsches Argument. Wenn der Verfassungsschutz alle Organisationen | |
überwachen will, die nicht gewalttätig sind, kommt da von Fridays for | |
Future bis zum Roten Kreuz eine Menge Arbeit auf den Verfassungsschutz zu. | |
Man muss angesichts solcher Geheimdienst-Paranoia nicht gleich die | |
Demokratie in Gefahr sehen. Aber es ist unheimlich, wie leichthändig das | |
Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aufgegeben wird. Wo ist eigentlich | |
die liberale Öffentlichkeit, wenn man sie mal braucht? | |
30 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Kein-Nelly-Sachs-Preis-an-Kamila-Shamsie/!5626559 | |
[2] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw20-de-bds-642892 | |
[3] /BDS-und-Antisemitismus/!5601897 | |
[4] /Nach-Kritik-am-Juedischen-Museum-Berlin/!5603080 | |
[5] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/andreas-geisel-innensenator… | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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