# taz.de -- BBC und Nahost-Konflikt: Wer auf die Straße darf | |
> BBC-Mitarbeiter:innen sollen von einer Demo gegen Antisemitismus | |
> fernbleiben. Das zeigt, wie absurd die Idee vom neutralen Journalismus | |
> ist. | |
Bild: Demo gegen Antisemitismus in London | |
In London läuft mal wieder die Erregungsmaschine heiß. Dass jüdische | |
Mitarbeitende der British Broadcasting Corporation (BBC) am Sonntag nicht | |
an der großen Demo gegen Antisemitismus in der britischen Hauptstadt | |
teilnehmen sollten, hat zu Protesten und zu Rücktrittsforderungen an die | |
Adresse von BBC-Chef Tim Davie geführt. Die Aufregung ist verständlich, | |
denn natürlich erstreckt sich diese „No-Go“-Vorschrift auf alle | |
BBC-Journalist*innen – zumindest so lange sie im weitesten Sinne bei ihrer | |
Arbeit mit politischer Berichterstattung zu tun haben. | |
Die Spielregeln sind klar: Wer in den für Nachrichten und aktuelle | |
Informationen zuständigen „factual journalism“-Redaktionen der BBC | |
arbeitet, „sollte nicht an öffentlichen Demonstrationen oder | |
Zusammentreffen zu kontroversen Themen teilnehmen“. So steht es in den | |
redaktionellen Leitlinien der BBC, die qua Gesetz zu „Impartiality“, also | |
einer Kombination von Ausgewogenheit und Neutralität, verpflichtet ist. | |
Dass es sich beim Krieg im Nahen Osten um so einen „controversial issue“ | |
handelt, ist dabei genauso klar wie der Umstand, dass sich das für | |
politisch denkende und handelnde Menschen mit der Neutralität bestenfalls | |
auf dem Papier realisieren lässt. Die Praxis sieht anders aus, bedeutet | |
aber natürlich auch, dass Pro-Palästina-Märsche für die BBC Kolleg*innen | |
genau so tabu sind. | |
Doch das Thema am Sonntag hieß nicht Pro-Israel oder Pro-Netanjahu, sondern | |
Anti-Antisemitismus, und jetzt wird’s natürlich philosophisch. Ja, eine | |
Demo gegen Antisemitismus, wie er leider auch immer wieder bei vielen | |
propalästinensischen Kundgebungen nicht nur in London laut wird, kann, ja | |
muss [1][in diesen Zeiten auch mit dem Krieg in Gaza] zusammenhängen. Aber | |
sie deshalb zur „Kontroverse“ zu erklären, erweist der Sache einen | |
Bär*innendienst. Und ist nur Wasser auf den Mühlen der Äpfel mit Birnen | |
vergleichenden Strichezähler*innen auf beiden Seiten. | |
## Hausgemachtes Dilemma | |
Dass die BBC auch anders kann, beweist sie bei den „Pride“-Märschen, die �… | |
ja, natürlich! – nicht als kontrovers eingestuft werden. Obwohl viele von | |
denen, die jetzt aus der konservativen Ecke die BBC kritisieren, das | |
vermutlich auch anders sehen. | |
Das Dilemma ist dabei hausgemacht: Die von der BBC verlangte und ihrem | |
Director General Tim Davie ziemlich kleinkariert gelebte Impartiality ist | |
für konkrete Anlässe wie Parteipolitik oder vergleichbare Themen vielleicht | |
sogar ganz brauchbar. Aber für große gesellschaftliche Strömungen und | |
Stimmungen kann das nicht funktionierten. Dazu kommt, dass auch die | |
Differenzierung zwischen (nachrichten-) journalistischem Personal und | |
anderen BBC-Gesichtern, für die diese Auflagen nicht gelten, nach außen | |
schwer vermittelbar ist. | |
Und dann ist da noch Gary Lineker, der über seine privaten Accounts gerade | |
mal wieder Beiträge empfiehlt, in denen Wissenschaftler im Zusammenhang mit | |
Gaza von einem „Genozid“ Israels sprechen. Aber die Fußballlegende | |
moderiert ja nur die wichtigste Sportsendung der BBC. Damit erreicht | |
Lineker vermutlich zwar mehr Menschen als so manches Nachrichtenformat, | |
gilt aber als unpolitisch. | |
Die ganze Mär vom [2][unpolitischen oder neutralen Journalismus] ist | |
ohnehin überholt (falls sie überhaupt je gestimmt hat). Gerade die Zeiten, | |
in denen Populist*innen und Demagog*innen aller Couleur die | |
Errungenschaften der Aufklärung wieder einreißen wollen, verlangen klare, | |
transparente Kante. Journalist*innen sollten ihre Position offenlegen | |
und gleichzeitig fair und ausgewogen arbeiten. Die Trennung von Bericht und | |
Meinung hilft da schon eine ganze Menge weiter. | |
## Nicht wählen gehen? | |
So zu tun, als stehe man außen oder über den Dingen, ist Quatsch. Wer das | |
von sich behauptet, ist jedenfalls keinE Journalist*in. Was vor allem in | |
den USA namhafte Medienmenschen nicht daran hindert, sogar zu postulieren, | |
Journalist*innen sollten besser gar nicht erst wählen gehen. | |
„Es mag merkwürdig erscheinen, nicht an Wahlen teilzunehmen oder die eigene | |
politische Präferenz nicht transparent zu machen. Das stimmt aber nicht. | |
Wer Journalistin wird, gibt zu einem gewissen Grad seine Mitwirkung in der | |
Öffentlichkeit auf, denn Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut des | |
Journalismus“, argumentierte 2008 zum Beispiel Alicia C. Shepard vom | |
öffentlich-rechtlichen National Public Radio. | |
Sorry, aber diese Haltung ist genauso absurd wie jetzt laut werdende | |
Vorwürfe von interessierter Seite, die BBC fördere mit ihrer – um es noch | |
mal klar zu sagen: falschen – Haltung den Antisemitismus. | |
26 Nov 2023 | |
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[1] /Beschwerden-ueber-Berichte-der-BBC/!5966859 | |
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## AUTOREN | |
Steffen Grimberg | |
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