# taz.de -- Autobahn-Abseilaktion vor Gericht: Polizei als „Tatwerkzeug“ | |
> Vier Klimaaktivist*innen hatten sich 2020 über der A7 bei Schleswig | |
> abgeseilt. Dafür verurteilt sie das Amtsgericht wegen Nötigung zu | |
> Geldstrafen. | |
Bild: In Frankfurt hat ein Gericht solch eine Aktion erlaubt: Aktivistin seilt … | |
SCHLESWIG taz | Ist es ein Gewaltakt, ein Banner über einer Autobahn | |
aufzuhängen? Ja, befand das Amtsgericht Schleswig und verurteilte vier | |
Aktivist*innen zu Geldstrafen. Sie hatten sich im November 2020 über | |
der A 7 [1][nahe Schleswig abgeseilt], um im Rahmen einer bundesweiten | |
Protestaktion auf den Klimawandel hinzuweisen und die Verkehrswende zu | |
fordern. Die Polizei ließ daraufhin die Autobahn sperren, ein Stau | |
entstand, der rund drei Stunden dauerte. | |
Der Staatsanwalt bewertete das als „gemeinschaftliche Nötigung“: Die Aktion | |
habe stattgefunden „im Bewusstsein, dass die Polizei die Autobahn sperren | |
würde“. Denn es sei um die „Sperrung der Brücke für einen möglichst lan… | |
Zeitraum“ gegangen, um zahlreiche Menschen „an ihrem Fortkommen zu | |
hindern“. | |
Von einem „politischen Prozess“ sprach die Aktivistin Irene T. Nach der | |
Logik des Staatsanwalts sei die Polizei das „willenlose Werkzeug“ gewesen, | |
das für die Demonstrierenden die Straße gesperrt habe – „So ein Bullshit�… | |
sagte T. in ihrem Schlusswort. | |
Tatsächlich führte die Sperrung der Autobahn dazu, dass weniger Menschen | |
das Banner mit der Botschaft „Stoppt den Autowahn“ sehen konnten, das T. | |
und die anderen Beteiligten über den Fahrbahnen festhielten. | |
## Gericht folgt Sicht der Polizei | |
Sie selbst hingen, darauf wiesen die ehrenamtlichen Wahlverteidiger der | |
Angeklagten hin, nicht direkt über der Straße, sondern über dem Mittel- und | |
den Randstreifen. Die Demonstration sei zwar nicht angemeldet, aber dennoch | |
durch das Grundgesetz geschützt gewesen, sagte Wahlverteidiger Yannik. | |
[2][Eine Nötigung], die laut Gesetz „Gewalt oder Drohung mit empfindlichem | |
Übel“ beinhaltet, sei die Aktion keineswegs gewesen, fügte Wahlverteidiger | |
Sam hinzu, der Frauke B. vertrat: „Die Menschen hingen neben einer | |
Autobahn, sie taten eher sehr wenig.“ Die Sperrung der Straße sei „entgegen | |
den Interessen und kaum vorhersehbar“ gewesen. Das Banner selbst sei keine | |
Störung – ähnliche Banner würden oft eingesetzt, etwa um auf Rettungsgassen | |
hinzuweisen. | |
Die Richterin sah es anders. Die Sperrung der Straße sei „alternativlos“ | |
gewesen, hieß es in der Urteilsbegründung, die sich damit der Sicht der | |
Polizei anschloss. Der Stau habe „kilometerlang“ zurückgereicht, dies sei | |
„beabsichtigt“ gewesen. Die Polizei sei „instrumentalisiert“ und „als | |
Tatwerkzeug missbraucht“ worden. Das Verhalten der Aktivist*innen sei | |
„nicht unerheblich sozialwidrig“. | |
Zwar sei Klimaschutz ein hohes Gut, aber die Gefährdung der | |
Verkehrsteilnehmer*innen auf der vielbefahrenen Straße wiege | |
schwerer. | |
## 60 Anträge der Angeklagten | |
60 Tagessätze à 20 Euro verhängte die Richterin jeweils. Zahlen müssen die | |
Verurteilten auch die Gerichtskosten. Der Staatsanwalt hatte sogar 75 | |
Tagessätze gefordert. | |
Vorangegangen war ein turbulentes Verfahren, bei dem die Richterin | |
zunehmend hart durchgriff. So muss ein Mann 500 Euro zahlen, weil er | |
Konfetti in den Saal warf. Mehrere Personen wurden mit Gewalt aus dem Raum | |
geführt, weil sie nach Stellungnahmen geklatscht hatten. | |
Obwohl der Tatverlauf schnell aufgeklärt war, brauchte das Gericht drei | |
Verhandlungstage, vor allem weil die Beklagten über 60 Anträge gestellt | |
hatten, die einzeln behandelt werden mussten. In einer Reihe davon ging es | |
um andere Aktionen über Autobahnen, die nicht bestraft worden waren. | |
Inhaltliche Anträge befassten sich mit der CO2-Belastung durch | |
Straßenverkehr und den Klimazielen der Regierung – als Zeugen wünschten | |
sich die Aktivist*innen unter anderem die Minister Robert Habeck | |
(Grüne) und Volker Wissing (FDP) sowie eine Naturschützerin aus Chile. Das | |
Gericht wies alle Anträge zurück, sie seien „zur Erforschung der Wahrheit | |
nicht erforderlich“. | |
Dass kein Mitglied der Bundesregierung nach Schleswig kommen würde, war | |
auch den Beteiligten klar. | |
## Staatsanwaltschaft zeigt sich zufrieden | |
Dennoch seien die Anträge weder ein Scherz noch ein Mittel, den Prozess zu | |
verlängern, erklärte Wahlverteidiger Sam. Vielmehr gehe es um die | |
politische Begründung der Aktion. Es sei bedauerlich, dass sich das Gericht | |
offenbar inhaltlich damit nicht befasst habe. Er sah einen „[3][unschönen | |
Umgang mit Aktivist*innen], der sich leider allmählich durchsetzt“. | |
In ihrem Schlusswort zählte Frauke B. Ereignisse auf, die sich parallel | |
zum Prozess ereignet hatten: Als sie den Strafbefehl erhielt, gab es | |
Überflutungen in Pakistan, am ersten Prozesstag Starkregen und Erdrutsche | |
in Kinshasa, am zweiten einen Eissturm in den USA. Es mache sie traurig und | |
wütend, dass Wetterextreme das „neue Normal“ seien und trotzdem weiter | |
Straßen geplant würden. Irene T. sagte: „Ob es nun auf Knast oder | |
Geldstrafe hinausläuft, ich werde darunter leiden. Aber ich weiß, warum ich | |
meine Seite gewählt habe.“ | |
Der Staatsanwalt zeigte sich mit dem Urteil zufrieden. Die | |
Aktivist*innen könnten innerhalb einer Woche Berufung einlegen. Ob sie | |
das tun, steht noch nicht fest. | |
5 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.abendblatt.de/region/schleswig-holstein/article231016192/Umwelt… | |
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__240.html | |
[3] /Razzien-bei-der-Letzten-Generation/!5899043 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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