# taz.de -- Aus dem taz-Magazin: Refugium der Utopien | |
> Der Monte Verità ist die Schweizer Teststrecke der Erzählung von Freiheit | |
> und Flucht. Die Geburtsstätte der Alternativbewegung. So soll das für | |
> immer bleiben. Kann das gut gehen? | |
Bild: Einer der Großen des Monte Verità: Hermann Hesse. | |
Offenbar soll niemand auf die Idee kommen, sich den Weg ins Himmlische | |
leicht vorzustellen, unbeschwerlich. "Benvenuti in Paradiso", heißt es auf | |
der ersten Seite des Leporellos, mit dem dieses Stück Überirdisches wirbt, | |
"Willkommen im Paradies". Vom Postbusbahnhof ist es nicht zu sehen, auch | |
von der Seeseite aus liegt es verdeckt. Der Hügel, der nun erklommen werden | |
muss, sieht, alles in allem, auch nicht höher aus als gewöhnliche | |
Erhebungen jenseits der Alpen. Wir sind im Tessin, das Städtchen heißt | |
Ascona, dort campiert in diesen Tagen die deutsche | |
Fußballnationalmannschaft, und der See heißt Lago Maggiore. Aber weder ist | |
das Trainingslager als Paradies zu begreifen, noch geht es hier um Fußball, | |
auch wenn es der Zufall will, dass dieser überirdische Flecken quasi | |
oberhalb des Camps von Joachim Löw thront. Der meteorologisch fassbare | |
Himmel ist jedenfalls fett verhangen, es könnte bald schütten, es hat gar | |
keinen Anschein von Dolce Vita, und wie sich im Laufe von zwei Tagen | |
erweisen wird, ist dies nicht falsch prophezeit. Im Gegenteil, im | |
lauschigen Tessin kann und wird es regnen, wie man es sonst nur in | |
Norddeutschland vermutet. Aber was solls. Paradies ist Paradies, da sollen | |
durchnässte Klamotten und spontan abgekühltes Gemüt doch bitte nicht | |
stören. | |
Hoch über dieser Siedlung wird nun das Paradies liegen, und es kann doch | |
nicht so schwer sein, es zu erreichen. Doch der Marsch hinauf, ungefähre | |
viertausend Stufen hinter sich lassend, keinen Meter ohne ebenen Gang, | |
dieser Aufstieg ist das Allerletzte. Paradies - es nimmt sich aus, als | |
müsse ein Aufenthalt dort mit Mühen erkauft werden. Möglicherweise trägt zu | |
dieser stark empfundenen Last des Aufstiegs bei, dass die Fußgängerzone vom | |
Omnibusbahnhof, den man passiert, kommt man mit der Eisenbahn bis zur | |
Endstation Locarno, mit Geschäften gepflastert ist, die auf einen gewissen | |
Wohlstand ihrer Kundschaft setzen, Juwelen, Uhren, Porzellan, Kunst und | |
Kunstgewerbe, Bäderzubehör und eine Buchhandlung. Fehlte nur noch ein | |
Treppenliftgeschäft, das würde passen, denn die Menschen, die vor den | |
Schaufenstern stehen bleiben, haben ihre erste Lebenshalbzeit doch sehr | |
hinter sich. Insofern musste der Aufstieg enttäuschen. Steil führt er nach | |
oben, empörend steil. Zwischendurch ein Stück Straße von vielleicht | |
zweihundert Meter Länge, aber sie auch nicht plan, zur zweiten Treppe | |
führend. | |
Oben, endlich, verborgen hinter Gebüsch und Bäumen mit ziemlich hohen | |
Kronen, das, was uns gepriesen ist. Der Monte Verità, der Berg der Wahrheit | |
- Anfang des vorigen Jahrhunderts das Mekka der allerersten | |
Alternativbewegung, das "Paradies", das andere Leben, das | |
Experimentierfeld, die Teststrecke einer großen Erzählung vom Ausstieg aus | |
allen Zwängen, aus bürgerlichen Korsetts und spießigen Traditionen. Es war, | |
falls die Überlieferung nicht irgendwann noch etwas anderes behauptet, das | |
erste Aussteigerprojekt der europäischen Moderne. Und dass es hier am | |
südlichen Rand der italienischen Schweiz angesiedelt wurde, hat eben damit | |
zu tun, so mutmaßt Andreas Schwab, der wichtigste Chronist dieses Hauses, | |
dass damals das Tessin einerseits zwar eidgenössisch noch war, aber eben | |
noch nicht Italien. Es fand sich in der sicheren Schweiz - und dieses | |
Tessin hatte noch fast nichts vom Mondänen, das in den Fünfzigerjahren mit | |
palmengeschmückten Orten wie Lugano, Bellinzona, Locarno oder eben Ascona | |
fantasiert wurde. Dieser Teil, selbst aus Zürcher Sicht weit hinter den | |
Alpen, war noch nicht befleckt von den Segnungen der Moderne. Dass Ascona | |
keinen Bahnanschluss hatte, sprach in den Augen der Pioniere des Monte | |
Verità für ihre Wahl, es war jedenfalls kein Hindernis. Es musste nur weit | |
weg sein - ganz weit weg, kein weltstädtischer Bazillus sollte es | |
verseuchen, kein bürgerlicher Schmutz es heimsuchen. | |
Das alles wäre als Wissen im Übrigen längst versunken, hätte es nicht in | |
den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts einen neuerlichen Anlauf | |
gegeben, eine Welt zu kreieren, die sich als aus der Welt aussteigend | |
verstand. "Macht kaputt, was euch kaputt macht", hieß es in jenen Jahren, | |
aber das Credo war nicht neu, das erkannte niemand besser als der | |
Kunstkurator und Documenta-Chef des Jahres 1972, Harald Szeemann. Ihm, dem | |
1933 in Bern geborenen Schweizer, verdankt der Monte Verità eine gewisse | |
Unsterblichkeit. Szeemann war es, der diesen Berg als Geburtsstätte der | |
Alternativbewegung überhaupt erfand, er gab diesem Topos den nötigen | |
erzählerischen Schwung, er konstruierte aus einem Haufen von Details ein, | |
nun ja, Kunstwerk. Das präzise Datum einer Gründung dieser Siedlung auf dem | |
Wahrheitsberg ließ sich nämlich gar nicht recht nennen, aber Szeemann nahm | |
alle möglichen Zufälligkeiten zusammen und buk daraus einen Strang von | |
Folgerichtigkeit. 1978 nannte er eine Ausstellung "Monte Verità". Es war | |
ein perfekter Zeitpunkt. Das Jahr nach dem Deutschen Herbst, die Zeit, als | |
Verena Stefans Frauenselbsterfahrungs- und -behauptungsbuch "Häutungen" | |
erschienen war, als die kommunistischen Subkulturen abgewirtschaftet hatten | |
und überall in der westlichen Welt Worte wie Selbsterfahrung, | |
Ganzheitlichkeit und Utopie zu magischen Vokabeln wurden. | |
Szeemann aber guckte sich die Sache genau an, ließ seine Assoziationen | |
schweifen - und befand, eine Geschichte der alternativen Geschichte ließe | |
sich nicht erzählen, hielte man sich unnötig mit Details auf, wer genau | |
welche Baupläne zu realisieren in Auftrag gab. Der Kunsthistoriker nahm | |
einfach zusammen, was offenkundig nicht getrennt wahrzunehmen ist. So schuf | |
er die Legende vom Monte Verità. Die davon berichtet, dass sich der | |
russische Anarchist Michail Bakunin 1869 in Locarno niederließ und von der | |
herrschaftslosen Gesellschaft träumte; dass Lebensreformer um das Jahr 1900 | |
um Ascona herum eine Sonnenkuranstalt planten, vom dritten Weg zwischen | |
Kapitalismus und Kommunismus träumten, dass von Kooperativen die Rede war, | |
von Individualität, der Liebe zum Tier und zum Menschen, weshalb in der | |
Tessiner Urbevölkerung rasch von den Gemüsemenschen die Rede war, von den | |
Irren, die murmelnd an Wegen anzutreffen waren, betend, der Sonne entgegen. | |
Szemann war ein kluger Mann, er wusste darum, dass ein Ort erst zum | |
Fluchtpunkt von Träumen wird, wenn man ihm die Aura des Magnetischen | |
verleiht: wohin alle Späne treiben. Der Monte Verità hatte ja auch allen | |
anderen Bohemetreffpunkten gegenüber einen unschätzbaren Vorteil. | |
Worpswede? Bei aller Liebe zu Modersohn, Modersohn-Becker, Rilke und | |
Vogeler - aber das Teufelsmoor bei Bremen war doch die meiste Zeit des | |
Jahres ein entsetzlich öder, triefend kalter Platz. Viel Nebel, jede Menge | |
Nieselregen, keine Verbindungen zur weiten Welt. Oder Skagen? Die dänische | |
Künstlerkolonie an der Spitze Jütlands litt während ihrer großen Zeit | |
Anfang des vorigen Jahrhunderts immer unter den gleichen Nachteilen wie | |
alle alternativen Kommunen nördlich der Alpen - zu weit weg von allem, was | |
dann doch das bohemistische Leben ein wenig komfortabel macht, von | |
Kopenhagen zum Beispiel mehr als eine Tagesreise auf meist sandigen Wege | |
entfernt. | |
Ascona, Locarno und Minusio, über ihnen eben der Monte Verità, lagen da | |
viel, sehr viel näher. Zugverbindungen gab es dank des Gotthardtunnels von | |
Zürich und München allenthalben; es war für die europäischen Bohemes | |
andererseits ins Tessin keine Reise in die Nachbarschaft, doch es war nicht | |
ganz aus der Welt. Die Riviera nicht fern, das Italienische quasi vor der | |
Tür, das Klima hatte für alle, die aus kühleren Gegenden kamen, etwas | |
Verführerisches. | |
Und so sammelte Szeemann geistes- und kulturwissenschaftlich alles an | |
Indizien, was seinem Herzen nahelag: ein Personen- und Sachverzeichnis der | |
alternativen Prominenz jener Zeit. Alles, was damals Rang und Namen hatte, | |
so legte der Kurator nahe, musste sich auf den Monte Verità und seine Magie | |
beziehen; er fertigte für seine beim alternativen Publikum in Berlin, | |
Frankfurt am Main und Hamburg sehr beliebten Ausstellungen eine | |
Ahnenschaft. Denn wollte nicht auch die alternative Bewegung der jüngsten | |
Zeit einen dritten Weg, eine Welt der Kooperationen, Sonnenduschen und den | |
ganzheitlicheren Körper? War nicht auch sie ein Aufschrei gegen die | |
Zumutungen der Moderne, gegen Lohnarbeit, überhaupt gegen Arbeit und das | |
Elend des Lebens an sich? Auf dem Monte Verità ist dies alles fein erprobt | |
worden, wenngleich Andreas Schwab, der Chronist dieses Milieus, zu bedenken | |
gibt, dass Szeemann intellektuell alles zusammenrührte, was vielleicht | |
nicht zusammenpasste. In Ascona, noch auf Seehöhe, zeigt er ein Lokal, in | |
dem die Sünder des wahrhaftigen Lebens Platz nahmen. "Erich Mühsam", sagt | |
er, "aß dort zu Abend, auch Fleisch." Tierisches als Nahrung aber war in | |
den Hütten und Speisesälen des Monte Verità etwa so erlaubt wie eine | |
Teufelsverehrung mitten im Vatikan. | |
Es war ein Whos who der tonangebenden Geisteslandschaft in Wartestellung, | |
was ins Tessin reiste. Nicht alle mochten sie auf dem Monte Verità Herberge | |
nehmen, aber wer auf sich hielt, fuhr dorthin, nach Ascona, Locarno, oder | |
wurde gleich, wie Hermann Hesse nur etwas weiter weg bei Lugano, in | |
Montagnola sesshaft. Liest man all die Werke, Traktate, Hervorbringungen | |
künstlerischer Art jener Jahre von Männern und Frauen, die zur Community | |
des Monte Verità gezählt werden können, kommt ziemlich viel Weltschmerz, | |
Weltenkummer und Weltuntergangslyrik zusammen. Eine Atmosphäre der | |
Vergeblichkeit und zugleich des ästhetischen Protests gegen alle Moderne. | |
Aber man schätzte die Schweiz eben nicht nur als Land, um der inneren | |
Emigration so etwas wie geistiges Unterfutter einzunähen, sondern auch | |
praktisch als Heimstatt des echten, des politischen Exils. Während des | |
Ersten Weltkriegs wird Ascona einer der beliebtesten Zufluchtsorte. Bloß | |
weg von der Kriegsmaschinerie, wer in die Schweiz floh, wollte mit | |
soldatischen Körpern sich nicht gemein machen und keineswegs Kanonenfutter | |
werden. Das machte die neutrale Schweiz ja überhaupt so attraktiv: Freisinn | |
als Credo, gemäßigt neugierig, fern von weltanschaulicher Mission im | |
Verständnis seiner Bürger. Wer seinen Aufenthalt bezahlen kann, wird | |
bleiben können - und die Jüngerschar, die es ins Tessin zog, verfügte ja | |
über die Mittel, sich das Extraweltliche trotzdem behaglich zu machen. Das | |
Museumhaus, in dem die Ausstellung von Harald Szeemann konserviert ist und | |
das dringend der Renovierung bedarf, wirkt auf den ersten Blick so schlicht | |
und natürlich, wie es sich für ein Gebäude der alternativen Architektur | |
gehört. Aus Holz die Fassade - aber in den Räumen bereits Zentralheizungen. | |
Nein, die Boheme hing glühend dritten Wegen und natürlichen Lebensweisen an | |
- aber bitte ohne Frieren und Zittern! | |
Es war ein Wellnessniveau, das sich in den Niederungen des Tessin, bei der | |
Urbevölkerung, nicht eben spiegelte. Dort heizte man mit Holz, wenn | |
überhaupt. Und es war ja zugleich eine Differenz in den Lebensumständen, | |
die durchaus zu erzielen beabsichtigt war. Man wollte in Ruhe gelassen | |
werden, man suchte das Abgetrennte, doch eben, so Monte-Verità-Interpret | |
Andreas Schwab, "um dabei beobachtet zu werden", auf dass es anderen zum | |
Vorbild gereiche. Auch dies, kann angefügt werden, ist heftig verwandt mit | |
unseren Alternativen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Deren Ausruf | |
lautete ja, falls man die Jahre des ökoalternativen Neuaufbruchs so fassen | |
darf: "Wir sind anders, wir wollen nicht sein wie ihr - nehmt euch uns als | |
Vorbild." | |
Viele wollten es damals nicht. Was aus Zeitungsschnipseln sich erschließt, | |
ist vor allem dies: Die Tessiner nahmen die Pilgerer auf den Spuren ihrer | |
neuen Welten keineswegs klaglos hin, sprachen von "Irren" und "Wirren", | |
aber, nun ja, die Schweiz ist eben die Schweiz, man übergeht sich im | |
Ungefähren. Eiferer, die die Bauten auf dem Monte Verità hätten planieren | |
wollen, gab es keine. Warum auch? Historische Fotos in der | |
Erinnerungsstätte zeigen ein Ascona, das eher weltverloren wirkte, die | |
sträucher- und gestrüppgarnierten Hügel bar jeden menschlichen Eingriffs. | |
Die Boheme, sie brachte eben auch diesen Flecken Schweiz auf die | |
Wahrnehmungswandermappe der frühen alternativen Kreise - und mit der Zeit | |
eben auch Geld. Und trotzdem verhielt man sich kopfschüttelnd, | |
desinteressiert oder pragmatisch. Irgendwann gehörte der Monte Verità zu | |
Ascona wie eine Mütze zum Kopf. Es wärmte das Selbstbewusstsein der | |
kommunalen Räte sehr, nicht mehr im letzten Winkel zu leben, sondern, | |
wenigstens irgendwie, am Puls der Zeit. | |
Auf der anderen Seite hatte man mit den Phantasmen der Gäste nichts zu | |
schaffen. Mit den spökenkiekerischen Obsessionen der Künstler, die dort | |
Quartier nahmen. Die sich mit Genuss unter Sonnenduschen stellten, die | |
immer noch zu sehen sind, freilich verrostet. Ein mächtiges Ölbild hängt im | |
Museum, das den ganzen Grusel, der auf dem Wahrheitshügel kultiviert wurde, | |
vielleicht am stärksten einfängt. Zu sehen sind ein Mann und eine Frau | |
unter einem Baum; an ihrer rechten Seite sieht man eine giftige, schmutzige | |
Stadt; links von ihnen, gemalt in einem Lichtkegel, äsen drei Rehe, ein | |
Urbild der natürlichen Familie. Der Horror sei die Stadt, aus der ein | |
jeder, der rechtschaffen ist, sich nur kontaminiert retten kann. Hinter dem | |
Adam-und-Eva-Paar steht ein Sensenmann, eine Todeswarnung, die wahr würde, | |
fänden sie durch allerlei Sündenangebote hindurch nicht zum Pfad der Tugend | |
zurück. Davon abgesehen, dass sich gerade dieses Gemälde wie eine Karikatur | |
grünalternativen Naturglaubens ausnimmt, ist ihm auch der Kinderglaube an | |
die Unschuld, ja Körperlosigkeit der eigenen Eltern eingeschrieben - ein | |
heterosexueller Propagandaschinken, dessen Nähe zu | |
Blut-und-Boden-Gemütshaltungen verblüfft. Geht man aber den Monte Verità | |
noch ein paar Treppen höher, kommt man an ein Haus, das nur selten geöffnet | |
ist. Es nennt sich Elisarium und muss ein Schrein genannt werden, ein Haus, | |
in dem alle Exponate mählich zu verstauben oder gar zu verschimmeln drohen. | |
Kein Geld ist vorhanden, um es zu bewahren. Man sieht eine Art | |
übermannshohes Panoramabild, gemalt von Elisar von Kupffer - mit immer | |
gleichem Motiv, eben vorgeschlechtsreifen Knaben in einer Welt, frei von | |
Verhüllung und Soldatentum, unschuldig ihr Gestus, bar allen sexuellen | |
Interesses. Auch dies war der Monte Verità, ein "Sanatorium der Sehnsucht", | |
wie Andreas Schwab ihn nennt, für alle Ideen und Fantasien, die mit den | |
damals geltenden bürgerlichen Standards von Sitte und Anstand nicht im | |
Einklang waren. | |
Ob diese Schätze, in welchem Teil des Monte Verità auch immer sie noch | |
geborgen sind, im Museum vor allem, je wieder glänzen können, steht | |
freilich dahin. Der Mann, der für die Zukunft des Konferenzortes angeheuert | |
wurde, heißt Claudio Rossetti und wirkt wie der freundlichste Mann, aber | |
nicht wie ein Manager. Aber als solcher hat er schon eine Menge geleistet | |
für diesen Laufsteg der antibürgerlichen Boheme des frühen vorigen | |
Jahrhunderts. Das Hotel ist renoviert, das Haupthaus mit einem | |
Konferenzsaal ausgestattet, ohne dass es die späte Bauhausform verloren | |
hätte. Er hat Wege anlegen lassen und sucht immer noch nach drei Millionen | |
Franken, um das Museum und noch andere Teile des Ensembles aufpolieren zu | |
lassen. Er sagt: "Ohne ganz normalen Konferenzbetrieb wird aus dieser | |
Anlage nichts mehr, wir müssen einfach akquirieren als gewöhnlicher | |
Tagungsbetrieb." Um die Magie des Monte Verità - wäre es dann um sie nicht | |
geschehen? Rossetti lächelt und kommt mit einem schlagenden Argument, dem | |
wichtigsten: "Die Magie muss sich auch in rentablen Zahlen ausdrücken." | |
Womit er ja recht hat. Die alternativen Zirkel wissen ja längst nicht mehr | |
automatisch vom Monte Verità, sie gehen ins Engadin Ski fahren, nach | |
Salecina, eine linksradikal inspirierte Herbergsgründung, prominent | |
geworden in den Siebzigerjahren. Oder gleich nach Davos, zu den | |
alternativen Veranstaltungen des Weltwirtschaftsforums - die Schweiz hat ja | |
immer neue Orte, um Sehnsucht nach dem Besinnlichen zu kanalisieren. Die | |
alternativen Menschen von heute wollen es wie ihre Ahnen ja nicht unbequem | |
haben. Insofern ist der Monte Verità nicht die allerbeste Adresse. Man muss | |
eben in Locarno aussteigen, mit dem Omnibus nach Ascona und dann zu Fuß | |
sehr hoch nach oben. | |
Schließlich fehlt diesem historischen Platz so etwas wie eine Eigenheit: | |
Ascona ist längst kein Fischer- und Bauernörtchen mehr, mit edlen Wilden | |
als Einwohnern, sondern eine touristisch kalkulierende Gemeinde, die schon | |
in den Fünfzigerjahren still dafür Sorge trug, dass sich in diesem Teil des | |
Tessins nur das gediegene Publikum ansiedelt, keine Menschen mit Spleens | |
oder Ticks, Irre oder Wirre. Kein Wunder, dass Opel Ascona, erstes Baujahr: | |
1970, eine Automarke war, die niemand fuhr, der für cool gehalten werden | |
wollte. Für den musikalisch entscheidenden Fortschritt hält man in Ascona | |
bereits, dass sommers ein Jazzfestival gegeben wird - natürlich nicht so | |
bedeutend wie das in Montreux. Nun, das auch auf keinen Fall: Man lässt | |
Dixieland spielen, eine Stilart, die direkt aus den wirtschaftswunderlichen | |
Fünfzigern importiert wurde. Ein Festival als Statement gegen alle | |
Versuchungen. Nein, Ascona will solide und bieder bleiben - und das ist für | |
den Monte Verità in gewisser Hinsicht der vorweggenommene endgültige Tod. | |
So kann nämlich aus einer Renaissance des wichtigsten Treffpunkts der | |
ersten Ökos und Weltverbesserer überhaupt nie mehr was werden. Da müssen | |
sich selbst die Versuche des Claudio Rossetti, auf seinem Berg eine | |
Kultstätte des Grünen Tees zu etablieren, wie längst verlorene Liebesmüh | |
ausnehmen. | |
Gleichwohl: Prominenz aus heutiger Zeit war ja schon da, das lässt sich | |
nicht leugnen. Der Vizeaußenminister von Afghanistan, Rigoberta Menchú, | |
Friedensnobelpreisträgerin von 1992, sogar Bill Clinton soll kurz überlegt | |
haben, dort eine Friedenszeremonie zu begleiten: kein schlechtes | |
alternatives VIP-Portfolio, um in der der "Da musst du gewesen sein"-Liga | |
ganz oben gelistet zu werden. Doch möglicherweise können Rossettis Pläne | |
zur Verwandlung in einen Konferenz- und Seminarplatz unter vielen anderen | |
gelingen - der Monte Verità könnte damit werben, mal etwas sehr Besonderes | |
gewesen zu sein. | |
Doch dieses Refugium hat immer davon gelebt, dass man nicht Krethi und | |
Plethi Einlass gewährte. Man hielt doch auf Eingeweihtheit und Distanz zum | |
gemeinen Volk. Insofern vertragen sich Projekte wie die Rossettis nicht gut | |
mit allen Wünschen, dass der Monte Verità seine anekdotenreiche Historie um | |
aktuelle Geschehnisse bereichern könnte. Doch was bleibt diesem Ort übrig? | |
Es könnte doch auch sein, dass die Schweiz als Lieblingsexil von | |
Flüchtlingen aus allen Lebenslagen, aus Krieg und Hunger, nicht mehr diesen | |
Rang hat. Dass sich der ideologische Mehrwert, den das wilde Tessin und | |
sein Monte Verità versprach, längst verflüssigt hat. Weil nämlich | |
inzwischen alle Welt auf Ganzheitlichkeit, Utopie und Grenzenlosigkeit des | |
Selbst hält, weil das Lebensreformprojekt oberhalb von Ascona nie etwas | |
anderes war als Wellness mit geistigem Anspruch und der Attitüde von | |
Weltbeglückung. Dieser ganze übernervöse Kram, der einst Monte Verità zum | |
Paradies für Aussteiger bürgerlichsten Zuschnitts machte, ist doch lange | |
schon Teil des modern bürgerlichen Lebensentwurfs schlechthin. Montessori, | |
Antiautorität, Demeter, alle Arten von asiatisch anmutender | |
Körperertüchtigung wie Tai-Chi bis zu Meditation, auch der Ausdruckstanz | |
als Antwort auf großbürgerlichen Walzer und adliges Schreiten nach einem | |
Menuett - eingeebnet ins große Ganze der modernen Lebensformen. Vegetarisch | |
zu essen ist auch längst üblich geworden und allenfalls noch ein fahles | |
Zeichen von Gesundheitsbewusstsein. | |
Geblieben ist - was für eine Leistung! - das Bewusstsein derer, die Harald | |
Szeemann dem europäischen Gesamtprojekt namens Monte Verità zuschlug. Diese | |
hysterische Sorge um die ganze Welt, diese Verachtung für alles, was die | |
Moderne hervorgebracht hat und die Inanspruchnahme aller Nützlichkeiten, | |
die die ansonsten geschmähte Welt so bereithält: Man fliegt als | |
Globalisierungsgegner ja recht gern um den Globus, um sich um die Natur zu | |
sorgen. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts fuhr man gern ins Tessin, um | |
dort die Welt zu geißeln. Der Monte Verità zeigt, dass eine solche Boheme | |
vor allem dies hinterlässt: viel Staub, um den bei feuchten Wetterlagen | |
jede Menge Mücken kreisen. | |
12 Jun 2008 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
Jan Feddersen | |
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