| # taz.de -- Angriff auf Israel: Zwischen Angst und Kampfbereitschaft | |
| > Israel und die Hisbollah-Miliz kämpfen an der Südgrenze des Libanon. Der | |
| > Westen ignoriere die palästinensische Perspektive sagen viele | |
| > Libanes*innen. | |
| Bild: Soldaten der libanesischen Armee stehen im südlichen Grenzdorf Kfar Kila… | |
| Beirut taz | Das Dröhnen von getunten Autos auf der Schnellstraße durch | |
| Beirut, der Startschuss eines Marathons, ein kreisender Helikopter über dem | |
| Haus um drei Uhr morgens – und das auf Angst gepolte Gehirn sagt einem im | |
| Halbschlaf: Jetzt geht es los, jetzt kam der israelische Angriff. | |
| Seit dem Angriff der Hamas auf Israel haben sich das israelische Militär | |
| und die schiitische Hisbollah-Miliz fast täglich über die | |
| israelisch-libanesische Grenze hinweg beschossen, und auch palästinensische | |
| Gruppen haben vom Libanon aus Angriffe auf Israel gestartet. Viele Menschen | |
| im Libanon erinnern sich noch gut an 2006: Damals nahm die Hisbollah zwei | |
| israelische Soldaten als Geiseln, um libanesische [1][Gefangene] | |
| freizupressen. Stattdessen startete Israel eine groß angelegte | |
| Militäroffensive, nicht nur um die gefangenen Soldaten zurückzuholen, | |
| sondern auch um die Hisbollah von seiner Nordgrenze zu vertreiben. | |
| „Es war eine Katastrophe“, erinnert sich Samir El-Masri. Er ist 37 Jahre | |
| alt, besitzt ein Restaurant und zwei Einzelhandelgeschäfte im Ausgehviertel | |
| Hamra. „Wir mussten aus unseren Häusern fliehen und haben für wenig Geld in | |
| einem Haus in den Bergen Unterschlupf gefunden.“ Er sagt: „Wir wollen | |
| diesen Krieg nicht.“ | |
| Zurzeit verfolge er in den sozialen Medien, was passiert. „Sowohl das | |
| israelische Volk als auch das palästinensische Volk werden getötet. Wir | |
| sind schockiert über die große Menge an Blut von Zivilist*innen auf | |
| beiden Seiten“, sagt El-Masri. Er sagt auch: „Wir unterstützen [2][den | |
| Gazastreifen], denn das palästinensische Volk ist seit Jahren eingekesselt. | |
| Die Gewalt ist die Folge davon, dass sie die Menschen unter enormen Druck | |
| setzen. Sie leiden sehr: Ohne Wasser, Strom und nun auch ohne medizinische | |
| Versorgung.“ | |
| ## „Palästina gehört den Palästinenser*innen“, sagt Abir | |
| El-Masri ist nicht alleine mit dieser Perspektive. Bei vielen arabischen | |
| Menschen, die sich in den sozialen Medien mitteilen, verbreitet sich das | |
| Gefühl: Hier passiert ein Massenmord an Araber*innen, und der Westen | |
| schaut weg. | |
| Abir zum Beispiel: Sie ist Palästinenserin, hat als Familienrichterin in | |
| Großbritannien gearbeitet und lebt nun als Rentnerin in Beirut. Die Frau | |
| mit den rot-lila gefärbten Locken möchte ihren Nachnamen nicht nennen, | |
| erzählt aber, dass sie 1945 in Jaffa geboren wurde. Sie musste 1947 zu Fuß | |
| mit ihrer Familie in den Libanon fliehen, damals flohen etwa 700.000 | |
| arabische Palästinenser*innen aus dem früheren britischen | |
| Mandatsgebiet Palästina. Die Vertreibung wird auf Arabisch als Nakba | |
| (Katastrophe) bezeichnet. Sie fragt: „Wenn ich dich ständig schlage, | |
| würdest du dann still sein und dich bedanken? Oder würdest du | |
| zurückschlagen?“ | |
| „Was jetzt passiert, ist eine große Ungerechtigkeit. Palästina gehört den | |
| Palästinenser*innen und nicht Israel“, sagt Abir. „In Palästina | |
| lebten Christen, Juden, Muslime. Aber es wurde Palästina genannt, und es | |
| wird so lange Palästina genannt werden, wie die Palästinenser*innen | |
| leben und andere Menschen, die glauben, dass es Gerechtigkeit in dieser | |
| Welt gibt.Wir können gemeinsam in dem Land leben, aber sie dürfen es nicht | |
| wegnehmen. | |
| Sie selbst habe einen Teil ihrer Familie, christliche Palästinenser*innen, | |
| in Jerusalem und Haifa, lebe aber gerne im Libanon. „Die Libanes*innen | |
| sind wundervolle Menschen. Sie sind herzlich und stark.“ Aber leider sei | |
| der Libanon nicht mehr wie vorher. „Überall um uns herum ist Krieg. Die | |
| Menschen sind wütend, frustriert und es gibt Spannungen.“ | |
| ## Die Wirtschaftskrise nützt der Miliz und Partei Hisbollah | |
| Seit 2019 durchleben die Menschen im Libanon eine tiefgreifende Finanz- und | |
| Wirtschaftskrise. Tausende haben ihre Jobs verloren, die Ersparnisse auf | |
| den Konten der Banken sind verloren. Die Banken geben nur rund 350 Euro pro | |
| Monat aus, die Gehälter von Lehrkräften oder Militärs sind drastisch | |
| gesunken. „Während wir sonst umgerechnet 2.500 US-Dollar bekommen haben, | |
| ist unser Gehalt nur noch 50 Dollar wert, und wir bekommen einen Zuschuss | |
| der Amerikaner über 100 Dollar“, erklärt ein Soldat, der anonym bleiben | |
| möchte. | |
| Diese Situation hat der schiitischen Partei Hisbollah genützt. Sie ist im | |
| Parlament als politische Partei vertreten, hat aber auch eine hochgerüstete | |
| Miliz. Deren Kämpfer bekommen laut Medienberichten ihr Gehalt in US-Währung | |
| ausbezahlt und verdienen nun mehr als libanesische Soldat*innen. Das Geld | |
| soll aus dem Iran sowie illegalen Waffen-und Drogengeschäften stammen. | |
| „Die Hisbollah sind Widerstandskämpfer“, sagt der 22-Jährige Ali Awwad vom | |
| Beifahrersitz eines der informellen Minibusse aus, auf dem Weg von Hamra in | |
| die shiitischen Viertel im Süden der Stadt. Er selbst sei Kommunist aus der | |
| Bekaa-Ebene, einer der Hochburgen der Hisbollah. „Ich unterstütze die | |
| Hisbollah innenpolitisch überhaupt nicht. Sie nutzen Wohlfahrtsprogramme, | |
| um die Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Wenn du sie nicht unterstützt, | |
| bekommst du keinen Job“, sagt er. | |
| Wieso sind die Männer bereit, zu den Waffen zu greifen, Menschen zu töten? | |
| „Ein feindlicher Apartheid-Staat in der Nähe der eigenen Grenze wird uns | |
| unweigerlich schaden“, sagt ein 22-Jähriger Programmierer, der ebenfalls im | |
| Minivan sitzt. Er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung sehen und sagt, | |
| er sei „hauptsächlich Pazifist“. | |
| ## Der soziale Zusammenhalt im Libanon nimmt ab | |
| Aber das heiße nicht, dass er zulasse, wenn ihn jemand angreife. Dass die | |
| pro-palästinensische Rhetorik der Miliz Hisbollah den Libanon in einen | |
| Krieg manövrieren könnte, sieht er nicht. „Solange Israel existiert, werden | |
| wir Probleme haben. Wenn es nicht dieser Krieg ist, wird es einen anderen | |
| Krieg geben. Sie haben gezeigt, dass sie Land einnehmen, das ihnen nicht | |
| gehört. Was hält sie also davon ab, uns noch mehr Land wegzunehmen?“, sagt | |
| er. | |
| Der 22-Jährige kommt aus der Stadt Alma al-Schaab, ganz nah an der Grenze | |
| zum Westjordanland. Aus Angst vor Angriffen auf ihr Zuhause hätten viele | |
| der Nachbarn ihre Häuser geräumt. In Alma al-Schaab [3][wurde am Freitag | |
| der Videojournalist Issam Abdallah durch israelischen Beschuss im | |
| Südlibanon getötet]. Sechs weitere Journalist*innen wurden verletzt. | |
| Im Amerikanischen Krankenhaus in Beirut spenden Menschen am Samstag Blut | |
| für die Journalist*innen, die durch einen Granatenangriff des israelischen | |
| Militärs schwer verwundet wurden. Während das abgezapfte Blut in Beuteln | |
| schaukelt, laufen auf dem Fernsehbildschirm im Abnahmezimmer die Bilder der | |
| israelischen Luftangriffe auf Gaza. | |
| Die 30-jährige Italienerin Valeria Parracino hat gerade Blut gespendet. Sie | |
| lebt in Hasbaya, im Südlibanon und arbeitet dort in einer italienischen | |
| Nichtregierungsorganisation, die im Südlibanon mit Druzen, Christen und | |
| Muslimen zusammenarbeitet. „Viele Kolleg*innen haben Familie im Süden, | |
| es ist schwer für sie, ihr Haus zu verlassen. Gerade hat Müllmanagement | |
| keine Priorität, daher liegt unser Projekt erstmal auf Eis.“ | |
| ## Wer kann ausreisen, wer muss im Kriegsfall bleiben? | |
| Der soziale Zusammenhalt Libanon hat bereits durch die Wirtschaftskrise | |
| abgenommen. Nun kommen sicherheitspolitische Spannungen und die Angst vor | |
| einer Gewalteskalationen in einem neuen Krieg mit Israel dazu. | |
| Sollte das ganze Land in einen Krieg gezogen werden, können viele | |
| Ausländer*innen oder Menschen mit Doppelpass ausreisen. | |
| Libanesischen*innen, Geflüchtete und an ihren Arbeitgeber gebundene | |
| ausländische Arbeitskräfte haben es schwerer. | |
| „Ich selbst kann hier nicht weg, ich habe rund 40 Angestellte, für die und | |
| deren Familien ich finanziell Verantwortung trage“, sagt Samir El-Masri. | |
| „Ich kann nicht einfach dicht machen und sagen: Passt auf euch selbst auf.“ | |
| Wenn der Krieg beginnt, möchte er seine Kinder nach Dubai schicken, damit | |
| sie dort weiter ihren Bildungsweg gehen können. „Ich möchte nicht, dass | |
| meine Kinder das, was wir die letzten Jahre schon hinter uns haben, noch | |
| einmal durchleben. Ich möchte nicht, dass sie das Töten, das Blut und diese | |
| Gewalt sehen. Als Vater möchte ich, dass meine Kinder sicher sind. Dass sie | |
| Karriere machen, ein eigenes Haus bauen, in Sicherheit leben.“ | |
| 15 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Entfuehrte-Israelis-in-Gaza/!5966211 | |
| [2] /Vorgeschichte-des-Angriffs-auf-Israel/!5966215 | |
| [3] /Pressefreiheit-im-Israel-Gaza-Krieg/!5966384 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
| ## TAGS | |
| Hisbollah | |
| Libanon | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Palästinenser | |
| Hamas | |
| Palästinenser | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Palästinenser*innen im Libanon: Sehnsucht nach einem Zuhause | |
| Hunderttausende Palästinenser*innen leben im Libanon ohne | |
| Perspektive. Auch, weil die Regierung ihnen die Integration verweigert. Wie | |
| blicken sie auf den Krieg zwischen Israel und Hamas? | |
| Vorgeschichte des Angriffs auf Israel: Wie Gaza zu Gaza wurde | |
| Der Küstenstreifen und Israel haben eine wechselvolle Geschichte. Von | |
| weitgehend friedlichem Grenzverkehr in den Achtzigern zu Terror und | |
| Blockade. | |
| Pressefreiheit im Israel-Gaza-Krieg: Journalist*innen als Zielscheibe | |
| In dem Krieg zwischen Israel und der Hamas wurden bisher mindestens neun | |
| palästinensische, ein israelischer und ein libanesischer Journalist | |
| getötet. | |
| Folgen der Hamas-Barbarei: Wieso ich mich wieder als Jude fühle | |
| Ivan Ivanji überlebte die KZs. Er stand immer auf der Seite der | |
| Palästinenser – bis zum letzten Samstag. Jetzt kann er nicht mehr ruhig | |
| bleiben. |