| # taz.de -- Aktivistin über Eierstockkrebs: „Wir müssen übers Sterben rede… | |
| > Andrea Krull ist die Gründerin des Vereins Eierstockkrebs Deutschland. | |
| > Ein Gespräch über Hoffnung und Unterstützung. | |
| Bild: Hat unter anderem eine Lebensbox entwickelt und einen Abschiedsknigge: An… | |
| Frau Krull, fangen wir an mit Bullshit-Bingo: „Sieht man Ihnen gar nicht | |
| an“ oder „Sie sind aber tapfer“ – welchen dieser Sätze haben Sie zu oft | |
| gehört, welcher nervt Sie mehr? | |
| Andrea Krull: Ich habe beide zu oft gehört, und sie nerven gleichermaßen. | |
| Aber klar, es ist schwer für Nicht-Betroffene, den richtigen Umgangston zu | |
| finden. | |
| Sie sind vor sechs Jahren an Eierstockkrebs erkrankt. Wie beschreiben Sie | |
| sich heute: Haben Sie Krebs gehabt oder sind Sie noch Krebspatientin? | |
| Ich sage, ich hatte Krebs. Ich weiß aber durch Studien, dass jeder | |
| Krebspatient lebenslang weiter an den Nachfolgewirkungen und psychischen | |
| Belastungen leidet. Auch ich habe Angst. Das Trauma begleitet einen | |
| ständig. | |
| Erzählen Sie was von Ihrem Leben vor dem Krebs: Sie leben in Neumünster und | |
| sind Lehrerin … | |
| Nein, ich bin keine Lehrerin. Ich stamme aus Hannover, habe Politik, | |
| Englisch, Italienisch studiert und wollte Journalistin werden, bin aber im | |
| Tourismus gelandet. Ich war Chefeinkäuferin der TUI für fünf Länder, habe | |
| da Tools wie Sprache, Diplomatie, Verhandlungsgeschick trainiert. Dann habe | |
| ich mich verliebt, vor 20 Jahren meinen Sohn gekriegt und bin nach | |
| Schleswig-Holstein gezogen. Damals gab es kein Homeoffice, also war ich | |
| erst mal arbeitslos. Dann machte die Agentur für Arbeit den Vorschlag, ich | |
| könnte Lehrerin werden. So bin ich quer eingestiegen. Das hat mir die Tools | |
| Pädagogik und Sichtweisenumkehr verschafft. Mit diesen vielen Tools kann | |
| ich die Geschäfte der Selbsthilfe steuern. | |
| Beruf, Familie, und auf einmal kam die Krebsdiagnose. Wie lief das ab? | |
| Mein Frauenarzt hielt es für eine Zyste, schickte mich aber zur Abklärung | |
| ins Städtische Krankenhaus in Kiel. Da gab es die Diagnose. Bingo, das war | |
| ein Hammer. Es wurde viel Druck aufgebaut, das Gefühl, sofort etwas tun zu | |
| müssen. Eine Woche später wurde ich operiert. Ich hatte Glück, dass ich in | |
| diesem Krankenhaus gelandet bin, das ärztliche und pflegerische Fachleute | |
| für den schwer zu behandelnden Eierstockkrebs hat. Aber da ich wenig | |
| wusste, hätte ich mich auch in einem Wald-und-Wiesenkrankenhaus operieren | |
| lassen, wenn ich dort gelandet wäre. Diese komplexe Operation wird in zu | |
| vielen Kliniken gemacht. Es wäre weit besser, wenn es bundesweit nur wenige | |
| Zentren dafür gäbe. Wie gesagt, ich selbst hatte Glück mit dem Städtischen. | |
| Ich bin keine leichte, aber eine intellektuelle Patientin, ich wollte | |
| verstehen, was mit mir passiert. Man hat meine Fragen beantwortet, und das | |
| war der Beginn unserer bis heute bestehenden Zusammenarbeit. | |
| Sie haben eine Selbsthilfegruppe gegründet. Wie und warum? | |
| Den Entschluss habe ich noch auf der Intensivstation gefällt, im Bett, an | |
| sieben Schläuchen und mit einem Computer über meinem Kopf: Wenn ich hier | |
| rauskomme, knallt der Bach. Ich kann Studien und Tabelle lesen, und die | |
| Statistik sagt, dass die Überlebensraten bei diesem Krebs gering sind. Ich | |
| dachte, mir bleiben ein, zwei Jahre. | |
| Nach dem Motto: Keine Chance, aber ich nutze sie? | |
| Genau. Es gab damals bundesweit eine Selbsthilfegruppe für Eierstockkrebs | |
| in Berlin. Die Leiterin sagte, die sterben grade alle, da läuft nicht mehr | |
| viel. Ich habe gesagt, das geht so nicht. Wir brauchen mehrere Gruppen und | |
| Vernetzung. Heute, sechs Jahre später, sind wir soweit. Wir haben zehn | |
| Gruppen in Deutschland, mit uns arbeiten die besten Kliniken und Experten, | |
| wir kriegen alle Informationen, das Netzwerk steht. Ich habe alles | |
| erreicht, was ich mir damals vorgenommen habe. | |
| Sie haben es schon gesagt: Eierstockkrebs ist eine Krebsart mit hohen | |
| Rückfall- und Todesraten. Wie gehen Sie damit um? | |
| Tatsächlich haben viele, die zeitgleich mit mir erkrankt sind, ein Rezidiv, | |
| sind also erneut in Behandlung, und es gibt Todesfälle. Für mich ist das | |
| beinhart, ich kenne schließlich viele der Frauen und baue Beziehungen auf. | |
| Aber wir versuchen, positiv zu bleiben. Für eine Freundin habe ich grüne | |
| Socken gestrickt, sie ist verstorben, bevor ich fertig war. Aber daraus ist | |
| die Grüne-Socken-Kampagne entstanden: Wir rufen bundesweit dazu auf, Socken | |
| zu stricken, und verteilen sie als Symbol der Hoffnung an betroffene | |
| Frauen. | |
| Warum tun Sie sich das an? Wozu Selbsthilfe? | |
| Selbsthilfe gibt Hoffnung. In unserem Fall ist das besonders schwer, weil | |
| die Überlebenschance so scheiße ist, aber es gibt gerade jetzt viele | |
| Fortschritte, es wäre dumm, wenn diese Informationen nicht weitergegeben | |
| würden. Und wir können gemeinsam die Hierarchien zwischen Ärzten und | |
| Patientinnen abbauen. Viele von uns sind gut gebildet, stehen im Beruf, | |
| managen ihr Leben. Wir wollen wissen und mitbestimmen. Bei unserem | |
| Bundeskongress laufen die Ärzte ohne weißen Kittel und Namensschild herum. | |
| Es geht um Augenhöhe. Hinzu kommt: Nur Betroffene wissen, was es heißt, | |
| eine Krebsdiagnose zu erhalten. Der Schlüssel ist Reden, auch mit denen, | |
| die als Angehörige Co-Betroffene sind. Natürlich haben wir alle Angst vorm | |
| Sterben. Wir müssen an das Thema heran. | |
| Aber wie? | |
| Ja, wie geht sterben? Keiner weiß, wie man ordentlich stirbt. Ich habe eine | |
| Lebensbox entwickelt und einen Abschiedsknigge mit Ratschlägen für | |
| Sterbende. Denn für die gibt es bisher nichts. Kurse für Angehörige und | |
| Ehrenamtliche ja, aber nichts für Betroffene selbst. Aber wir müssen übers | |
| Sterben reden. Wer sich nicht damit befasst, lebt nicht gut in der | |
| Zwischenzeit. | |
| Reicht es Ihnen nicht langsam, immer mit Krankheit und Tod zu tun zu haben? | |
| Sie machen das ja ehrenamtlich. | |
| Stimmt, ich bin an einem Punkt, an dem ich vieles durchgesetzt habe und | |
| gern weniger machen würde. Die Gruppen laufen, ich habe selbst über 1.000 | |
| Frauen beraten und weitere in Facebook-Gruppen betreut. Ich habe immenses | |
| Know-How aufgebaut, bin die deutsche Stimme der Patienten bei | |
| internationalen Treffen. Es läuft richtig gut, aber als One-Woman-Show. Mir | |
| wäre es lieber, ich hätte Unterstützung. Aber es ist schwer, andere zu | |
| finden, die aktiv mitmachen. Sind ja alle krank. | |
| Was hätten Sie gerne noch? | |
| Wie gesagt, im Moment befasse ich mich hauptsächlich mit Hilfen für die | |
| Sterbenden und die Angehörigen. Generell hätte ich gern eine hauptamtliche | |
| Stelle, jemand, der Informationen weitergibt und Beratung macht. Im Moment | |
| rufen die Frauen bei mir an, und wenn die verzweifelt sind, kann ich | |
| schlecht sagen, du, es ist grade Sonntag und ich will nichts davon hören. | |
| Ich mache das, weil ich damals, als ich selbst frisch betroffen war, so | |
| eine Frau wie mich gebraucht hätte. Darum kann ich schlecht aufhören. Aber | |
| wenn ich weniger machen könnte, wäre das großartig. Es kann nicht sein, | |
| dass wir Patientinnen selbst alles managen müssen. Es wäre meiner Meinung | |
| nach der Job der Krankenkassen und den Job machen sie nicht. | |
| Ein Problem bei Selbsthilfe kann sein, dass Pharmafirmen die Gruppen für | |
| Lobbyarbeit nutzen. Haben Sie sich mit dem Thema befasst? | |
| Sicher, die Pharmas kommen, aber da greifen inzwischen die | |
| Compliance-Regeln, an die sich die Firmen halten. Grundsätzlich finde ich | |
| die Arbeit der Pharmaindustrie in der Forschung nicht schlecht. Wir achten | |
| darauf, was wir tun, aber wir nehmen gemeinsam mit Pharmafirmen an | |
| Arbeitsgruppen teil, wenn die Zusammenarbeit einen Benefit für Frauen mit | |
| Eierstockkrebs ergibt. Wir wollen beispielsweise verständliche | |
| Beipackzettel, auf denen die Nebenwirkungen klar beschrieben sind. | |
| Wie sieht Ihr Leben neben dem Ehrenamt aus – falls Zeit bleibt? | |
| Na logisch gibt es ein Leben daneben! Ich muss ja arbeiten, habe Familie | |
| und Freunde, ich reise gern. Eigentlich bin ich dafür prädestiniert, viel | |
| Freizeit zu haben. Neulich war ich im Bayerischen Wald wandern, traumhaft. | |
| In der Natur komme ich raus mit dem Kopf. Ansonsten gilt es zu überleben, | |
| denn man hört nie auf, Krebspatientin zu sein. | |
| 21 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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