# taz.de -- 100 Jahre Ende des Ersten Weltkriegs: Im Gedenken vereint und getre… | |
> In jedem europäischen Land beschäftigen die Bürger andere Fragen zum | |
> Ersten Weltkrieg. Spaltet oder vereint diese Vielfalt des Gedenkens | |
> Europa? | |
Bild: Gedenken auf dem größten Soldatenfriedhof des Ersten Weltkrieg in Belgi… | |
FREIBURG epd | Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg soll die Europäer | |
verbinden. So wollten es die Politiker in Europa zum 100. Jahrestag des | |
ersten globalen und totalen Krieges, der 1914 begann und 1918 endete. „Es | |
gab den Versuch, ein europäisches Gedenken zu organisieren“, sagt der | |
Freiburger Historiker Jörn Leonhard, Autor eines Standardwerks zum Ersten | |
Weltkrieg. | |
Bilder zeugen davon, wie Politiker diesem Wunsch Ausdruck verliehen: 2014 | |
umarmten sich die damaligen Staatspräsidenten Joachim Gauck und Francois | |
Hollande, später Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Somme, | |
im strömenden Regen. | |
Dem gemeinsamen Gedenken ihrer Spitzenpolitiker folgten jedoch viele | |
Europäer nicht. „In den gesellschaftlichen Debatten der kriegsbeteiligten | |
Länder standen ganz unterschiedliche Fragen im Mittelpunkt des Interesses“, | |
beobachtete Historiker Leonhard auf seinen Vortragsreisen durch Europa. | |
In Deutschland diskutierte man über die Frage der Schuld am Kriegsausbruch, | |
ausgelöst durch einen Bestseller des Cambridge-Historikers Christopher | |
Clark mit dem programmatischen Titel „Die Schlafwandler“. Es setzte eine | |
Debatte darüber in Gang, ob Deutschland doch nicht die Hauptverantwortung | |
für den Ersten Weltkrieg zu tragen habe – was bis zu diesem Zeitpunkt | |
breiter Konsens in der Geschichtsforschung war. | |
## Unterschiede nicht leugnen | |
Belgien, im Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt, bewegte hingegen die | |
Frage, ob der Umgang mit Frauen angemessen war, die Beziehungen zu | |
deutschen Soldaten oder mit von Deutschland geförderten flämischen | |
Separatisten unterhielten. Frankreich würdigte den Beitrag seiner | |
Kolonialsoldaten zur Kriegsführung, für die Russen stand der Erste | |
Weltkrieg im Schatten der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917. Und | |
in Großbritannien sahen einflussreiche Stimmen im Ersten Weltkrieg den | |
Beginn eines langen Niedergangs und die Anfänge einer Suche nach dem Platz | |
des Landes in der Welt, die mit dem Brexit an Brisanz gewonnen hat. | |
„Diese Unterschiede zwischen den Ländern darf man nicht leugnen, weil das | |
Abwehrreaktionen hervorruft“, mahnt Historiker Leonhard. „In der Erzählung | |
von Europa als Ausgangspunkt zweier Weltkriege und der europäischen | |
Integration als Überwindung allen Übels mögen sich einige Politiker | |
wiederfinden, aber nicht die Mehrheit der Menschen in ihren Ländern.“ | |
Dennoch gebe es Kriegserfahrungen, die alle ehemaligen Kriegsteilnehmer | |
beträfen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: der Zusammenbruch der | |
Imperien der Habsburgermonarchie, des Zarenreichs sowie des Osmanischen | |
Reichs, der Konflikträume wie den Nahen Osten und die Ukraine hinterlassen | |
hat, die uns bis heute mit dem Ersten Weltkrieg verbinden. | |
So sehen das auch die Bundesregierung und von ihr geförderte Einrichtungen | |
wie das „Deutsche Historische Museum“, wo man 2018 „internationale Aspekte | |
und gegenwärtige Herausforderungen“ des Ersten Weltkrieges diskutieren | |
will. Im Schatten des Berliner Museums versuchen das Bundesinstitut für | |
Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa oder das | |
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung den 100. Jahrestag | |
des Kriegsendes 1918 und seine Folgen zu nutzen, um Entscheidern aus | |
Politik und Wirtschaft Erträge einer modernen Osteuropaforschung | |
vorzuführen. | |
## Gedenken kann doch verbinden | |
Beim breiten Publikum könnten es derartige Angebote aber schwer haben, denn | |
2018 jährt sich auch die Novemberrevolution zum 100. Mal – und so erinnern | |
die politischen Ereignisse von damals vor allem an die politische | |
Instabilität. | |
Auf den ersten Blick scheint es Parallelen zu geben zur derzeit schwierigen | |
Regierungsbildung und zum Aufstieg der AfD. „Wir sind in Deutschland | |
schnell bei der Frage: Sind wir auf dem Weg in Weimarer Verhältnisse?“, | |
sagt auch Historiker Leonhard – und wehrt ab: „Diese Krisenrhetorik wird | |
der Bundesrepublik nicht gerecht.“ | |
Deutschland leide weder unter Hyperfinflation noch unter den Bedingungen | |
eines Friedensvertrags. „Die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg | |
hilft uns vor allem, uns dieser Unterschiede bewusst zu werden“, sagt | |
Leonhard: „Geschichte wiederholt sich nicht, und deshalb können wir dem | |
Ersten Weltkrieg auch keine Antworten abringen, wie wir den Nahen Osten | |
befrieden“. | |
Wenn man aber aus der Geschichte nichts lernen kann, wenn ein gemeinsames | |
Gedenken Europas an nationalen Erinnerungen scheitert, warum dann all die | |
Forschungsgelder und Podiumsdiskussionen, die Ausstellungen und | |
Spitzentreffen? Weil Gedenken eben doch verbinden kann: „In allen Ländern | |
gerieten die Heimatfronten in den Blick, Kriegsopfer statt –helden, Frauen | |
und Kolonialsoldaten statt weiße Militärführer“, fasst Historiker Leonhard | |
100 Jahre Forschung und Gedenken an den Ersten Weltkrieg zusammen. Man | |
könnte auch sagen: In der Erinnerung ist heute Platz für (fast) alle. | |
2 Jan 2018 | |
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