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# taz.de -- Das Jahr: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?
> 2017 ist (fast) rum. Wir haben da aber noch ein paar Fragen. Zur Lage der
> Nation, der Welt und überhaupt. Und die kann uns nur einer beantworten.
Bild: So diffus wie die Sicht in den Bundestag: Martin Schulz (hinterm Adventsk…
taz: Sigmar Gabriel gibt im Januar den SPD-Vorsitz an [1][Martin Schulz]
ab. Es folgen: Schulz-Hype, Schulz-Zug, Umfragehoch, Wahl zum Vorsitzenden
mit 100 Prozent. Und dann: Die SPD verliert erst moderat im Saarland,
schlimmer in Schleswig-Holstein und katastrophal in Nordrhein-Westfalen.
Die Bundestagswahl wird ein Desaster. Woran lag ’s?
Friedrich Küppersbusch: Alle elf Sekunden verläuft sich ein Sozi in Merkel.
Schulz startete kantig und von Agenda und Groko scheinbar unvorbelastet.
Das genügte, die SPD an ihre wilde Jugend zu erinnern. Nach der
[2][Saar-Wahl] warf sie die Option [3][R2G] weg, ab da fehlte der
Zaubertrank „eigene Mehrheit“. Direkte Angriffe auf Merkel ließ er sich bis
zum Wahlabend wegberaten, als er sie „Ideenstaubsauger“ zieh und endlich
das machtvolle „Wir werden Würselen“-Gefühl noch mal wehen ließ. So
torkelte die SPD einmal mehr ohne Machtvorschlag, mit einem unklaren
Kandidaten und ohne gesellschaftlichen Gegenentwurf durch den Wahlkampf –
Ideenstaubsaugervertreter, darf ich Ihnen mal die Auslegeware im Kanzleramt
sondieren?
Im Februar gibt das britische Unterhaus Theresa May den Auftrag, mit der EU
über den [4][Brexit] zu verhandeln. Drei Monate später [5][verliert May die
absolute Mehrheit], die Brexit-Verhandlungen kommen nur zäh in Gang. Wird
das noch was?
Chaotische Verhandlung, die Zufallsmehrheit für den Brexit und inzwischen
Sorgen über wirtschaftliche Verluste: Könnte man Labours Catweazle Jeremy
Corbyn mit Macron oder Trudeau klonen, wäre das erstens ein sexy
Linkspopulist und zweitens der Mann der Stunde. Die Kunst dürfte sein, die
Wut auf „die da oben“ von der EU wegzulenken auf – irgendetwas anderes
Böses. Kapitalismus, Globalisierung, irgendeine Schnapsidee halt.
Vielleicht gelingt es den Eurokraten, den Brexit so ekelhaft zu gestalten,
dass sich ein neuer Claim ergibt: „Rache an der EU – wir bleiben drin!“ Zu
wünschen wär’s.
Im März sterben fünf Menschen in London bei einem Terrorangriff in der Nähe
des Parlaments und auf der Westminster Bridge. Es folgen Anschläge in
Stockholm, St. Petersburg, London, Paris, Manchester, Brüssel, Barcelona,
New York, Las Vegas, Ägypten. Haben wir uns an den Terror gewöhnt – oder
haben wir uns an ihn zu gewöhnen?
Gemeinsamer Nenner der blutigen Revue ist Verrohung – weit eher als ein
eindeutiger ideologischer Gegner. In dieser Summe erweist sich Terror als
stumpfe Waffe: Was wer wem damit sagen wollte, nebelt diffus über den
Blutlachen. Wie jeder andere Psychopath hat der Terrorist Anspruch darauf,
ordentlich Realität vor den Kopf geknallt zu bekommen. Der Terror sollte
sich nicht an uns gewöhnen.
Der türkische Präsident Erdoğan lässt im April das Volk über eine Änderung
der Verfassung abstimmen, die es ihm erlaubt, den Staat in ein
Präsidialsystem umzubauen. Er bekommt dafür eine knappe Mehrheit. Derweil
sitzt der deutsche [6][Journalist Deniz Yücel] ohne Anklage im Knast. Wie
weiter mit dem Land?
Deutschlands Haltung zur werdenden Diktatür reicht von Merkels
Vollverschleierung aller Absichten bis zu Gabriels Attacken gegen den
Antitürk. Noch näher liegt allerdings, die türkischstämmigen Deutschen hier
zu unterstützen und ihren Gemeinschaften zu geben, was der Bundespräsident
am Tag der Deutschen Einheit verhieß: „Heimat liegt in der Zukunft.“
Erdoğan zupft am Jojo der Menschenrechte. Wenn es mal einen gut
deutschnationalen politischen Ansatz gibt, dann: Das tun wir nicht.
In Frankreich siegt [7][Emmanuel Macron] und wird mit 39 Jahren jüngster
Präsident Frankreichs. Ist, vom Glamour abgesehen, auch was Politisches von
ihm übrig geblieben?
Allez les bleus! Der europäische Laster hat ein Rad ab, Großbritannien, und
das deutsche eiert unregiert. Macron tritt gegen die zersplitterte
Gewerkschaftsmacht Frankreichs an, das beurteilt sich kaum nach deutschem
Brauch der Einheitsgewerkschaft. Wichtiger: seine Vorschläge zu Finanzen
und europäischem Haushalt. Einfacher: Wenn der Staat den Markt beherbergt,
ist es keine kommunistische Idee, den Staat näherungsweise so groß zu
machen, wie der Markt längst ist. Was der Markt alleine hinkriegt, kann man
sich nicht zuletzt in den Wahlergebnissen der Rechtspopulisten anschauen:
Ungerechtigkeit. Heikel die deutsche Position dazu: Macrons Vorschläge zu
Europa bleiben unbeantwortet, weil man nur geschäftsführend ist. Während
seine „europäische Armee“ bereits unterstützt wird – da darf
Geschäftsführung kein Hindernis sein.
Im Rekordtempo peitscht die Bundesregierung im Juni die [8][Ehe für alle]
durch. Merkel macht die Frage quasi über Nacht zur „Gewissensentscheidung“,
und schwupp, vier Tage später votiert eine große Mehrheit der Abgeordneten
für die Ehe von Schwulen und Lesben. Dabei war Merkels Kehrtwende offenbar
reine Wahlkampftaktik. Schlimm?
Merkels Banner: Wer nicht Teil der Lösung ist, ist Teil des Problems. So
gesehen fragt sich, ob sie je anders als geschäftsführend regiert hat, die
Mehrheit im Blick und schneller als jeder Hase: Fly like an Igel. Die
stramme Zustimmung zur Ehe für alle war tragische Pointe unter einer
Legislatur, in der Rot-Rot-Grün vier Jahre die Mehrheit hatte. Willy Brandt
wünschte sich mal den Satz: „Man hat sich bemüht“, als Nachruf; hier hie�…
er: „Man hätte sich bemühen können.“
Die Staatschefs verhandeln beim [9][G20-Gipfel] im Juli mit großen Worten,
aber mäßigem Erfolg, während in Hamburg Barrikaden brennen und Geschäfte
geplündert werden. Welche dieser beiden Strategien hält die Globalisierung
effektiver in Schach?
Für die Ausschreitungen hat sich Olaf Scholz entschuldigt. Für G20 steht
Ähnliches noch aus.
Im August demonstrieren Ultrarechte in [10][Charlottesville] im
US-Bundesstaat Virginia. Ein Neonazi fährt mit seinem Auto in
Gegendemonstranten und tötet eine junge Frau. US-Präsident Donald Trump tut
sich sehr schwer, die rechte Gewalt zu verurteilen, zeigt dafür aber an
anderer Stelle Härte: Via Twitter fordert er Nordkorea auf, den USA nicht
mehr zu drohen. Sonst werde er „Feuer und Zorn“ sprechen lassen. Hatten Sie
sich die Regentschaft von Trump in etwa so vorgestellt?
[11][Trump] ist in Wirklichkeit noch viel dämonischer! So skrupellos, dass
er nicht davor zurückschreckt, uns den 1992er Slogan von Bill Clinton
zuzupoltern: „It’s the economy, stupid.“ Muss er gar nicht, die
US-Wirtschaftsdaten sind blendend, und bevor der Schuldenvulkan losbricht,
kann er ein zweites Mal gewählt sein.
Nach der Bundestagswahl im September jubelt eigentlich nur eine Partei: die
AfD. Mit knapp 13 Prozent zieht sie in den Bundestag ein, doch schon am
nächsten Tag beginnt ihr Zerfall. Frauke Petry verkündet ihren Rückzug aus
der Partei, ihr Ehemann, der NRW-Landes- und Fraktionschef Marcus Pretzell
folgt ihr. Wie kann Petry jetzt noch politische Karriere machen?
Mählich bekommt es etwas Serielles: Lucke, Petry, jetzt Weidel – am Ende
isses Gauland wurscht, wer neben ihm die Medien bespaßt. Er selbst war
länger in der CDU als Angela Merkel und weist die AfD damit als älteste der
Altparteien aus. Petry hat was Sektenführerhaftes, von Storch
Gedankendurchfall, und viele weitere Talkshow-Aufreger werden noch kommen
und gehen. Weder die personellen Kirmesattraktionen noch die alten
Stinkstiefel werden die Zukunft der AfD sein. Es ist ein Wettlauf: ob sie
implodiert oder einen deutschen HC Strache findet.
Im Oktober wird öffentlich, dass der Hollywoodproduzent [12][Harvey
Weinstein] über Jahrzehnte Schauspielerinnen sexuell belästigt, begrapscht,
erpresst, unter Druck gesetzt und vergewaltigt haben soll. Unter dem
Hashtag #metoo folgt eine Debatte über sexuelle Belästigung, weitere
Anschuldigungen gegen Politiker, Schauspieler und Journalisten werden laut.
Einige verlieren ihren Posten.
Stimmt. Mal was anderes: Männer sterben im Schnitt fünf Jahre früher, ihre
Selbstmordrate ist dreimal so hoch wie die der Frauen, 75 Prozent aller
Obdachlosen sind Männer, und überhaupt: Zum Erscheinen des Statistischen
Jahrbuches sollten wir Jungs uns zu einem mächtigen Trauerzug
zusammenfinden. Bei alkoholfreiem Bier diskutieren wir dann, dass diese
Zahlen keinesfalls biologisch bedingt sind – sie variieren von Gesellschaft
zu Gesellschaft. Und dann folgern wir, dass die vermeintliche Herrenrolle
eine mäßig hübsche Verpackung um beschissene Geschlechterzuschreibungen ist
und wir alle eine #metooerstrecht-Armbinde tragen künftig.
Im November stellt die FDP ihr Wahlkampfmotto unter Beweis: Sondierungen
first, Bedenken second. Jamaika scheitert am Nein der FDP. War das feige
oder geradlinig von [13][Christian Lindner]?
Wenn ein deutscher Außenminister mit Trump, Putin, Erdoğan, der EU
verhandelt und nach vier Wochen nachts beleidigt rausläuft: „Die anderen
haben mich nicht mitspielen lassen, die sind alle doof, und ich hab keine
Lust mehr!“ – dann ist es vor allem eines: richtig. Lindner und Kubicki
haben zusammen null Sekunden Regierungserfahrung. Die Pose, Überforderung
als Heldenmut zu verkaufen, zielt auf die B-Note für den künstlerischen
Eindruck. Die FDP ist nicht regierungsfähig, und irgendwie hat es der
Weltgeist geschafft, es durch sie hindurchzutranszendieren.
Im Dezember warten wir auf eine Regierung, auf eine erneuerte SPD,
erneuerte Grüne und auf ein frohes neues Jahr. Erwarten wir vielleicht zu
viel?
Wir hätten auch noch „100 Jahre Erster Weltkrieg vorbei“ und „50 Jahre
1968“ im Angebot. Eine von propagandistischen Interessen zerfräste
Fußball-WM in Russland und Ministerien allein zu Haus in Berlin. Über allem
aber: 73 Jahre kein Krieg auf deutschen Boden. Danke. Frohes Neues!
Fragen: afro
31 Dec 2017
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Friedrich Küppersbusch
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