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# taz.de -- Digitalisierte Kultur: „Natürlich ist eine digitale Kultur nicht…
> Tuvalus Kultur soll existieren, selbst wenn die Inseln verschwinden –
> eben im Digitalen. Ein Gespräch über 3D-Modelle und Geheimwissen.
Bild: In Tänzen geben Tuvaluaner:innen Geschichten weiter
taz: Frau Kühlem, als Archäologin erforschen Sie eigentlich vergangene
Kulturen. Aktuell interessiert Sie aber die Zukunft: Auf Tuvalu helfen Sie
den Menschen, ihr kulturelles Erbe digitalisiert vorm Verschwinden zu
bewahren. Müssen wir damit rechnen, dass die Kultur ganzer Nationen künftig
nur noch digital existiert?
Annette Kühlem: Die Frage ist natürlich, in wie naher Zukunft. Aber ja, für
Tuvalu ist das schon ein realistisches Szenario angesichts des
Klimawandels. Da das Land nur wenige Meter über dem Meeresspiegel liegt,
ist es besonders gefährdet. Und gerade auf den pazifischen Inseln hängen am
Land Abstammungsgeschichte, Mythologien und das Selbstverständnis der
Menschen. Kurz gesagt: ihre Identität.
taz: Wie kann man sich Tuvalus Kultur vorstellen?
Kühlem: „Die“ eine Kultur in Tuvalu gibt es nicht. Die Nation ist ein
Produkt des Kolonialismus. Der Name selbst bedeutet „acht Inseln“, auch
wenn heute neun dazugehören. Jede der Inseln hat ganz individuelle
Ausprägungen von kulturellen Identitäten. Das sollte man respektieren und
nicht über einen Kamm scheren. Zumal wir aufpassen müssen, dass wir nicht
mit unserem deutschen Kulturverständnis ankommen. Wie tuvalische Kultur
definiert ist, das entscheiden die Tuvaluaner:innen.
taz: Mit dem Wunsch, einen Weg zu finden, die eigene Kultur zu bewahren,
wandte sich Tuvalu an die Vereinten Nationen. Wie kam es zu der
Zusammenarbeit mit dem Deutschen Archäologischen Institut (DAI)?
Kühlem: Wir meldeten uns auf Tuvalus Gesuch und es entstand eine
Kooperation mit Tuvalus Kulturministerium und der [1][Rising Nations
Initiative], die sich für die Interessen der pazifischen Inselstaaten
einsetzt. Zusammen entstand die Idee für ein digitales Repositorium – eine
wissenschaftliche Datenbank für Tuvalus kulturelles Erbe. Unsere
Hauptaufgabe ist es, bei der digitalen Infrastruktur zu unterstützen. Uns
interessieren aber auch archäologische Daten und wir führen Ausgrabungen
durch, gerade weil die Wissenslücke für Tuvalu riesig ist.
taz: Wieso hat man sich für Digitalisierung als Methode entschieden, um das
kulturelle Erbe zu schützen?
Kühlem: So traurig es ist, vieles wird nicht physisch erhalten bleiben. Die
[2][Digitalisierung] erfasst Landschaften, Orte oder Objekte in ihrem
kompletten kulturellen Kontext. Die Objekte verortet zu erfassen, hat einen
hohen kulturellen Wert. Man kann sie nicht auf ein Frachtschiff laden und
woanders hinbringen. Damit sind Sachen aus ihrem Kontext entfernt und auf
eine Art entwertet.
taz: Wie gehen Sie bei der Digitalisierung vor?
Kühlem: Bei archäologischen Orten erstellen wir zum Beispiel digitale
3D-Modelle, damit Informationen über bestimmte Fundorte erhalten bleiben.
Das wird mit traditionellem Wissen aus Interviews mit lokalen
Wissenshaltern verknüpft. Viel dokumentieren die Bewohner:innen selbst,
sie entscheiden, was erhalten bleibt und was nicht. Dafür hat jede Insel
ein Dokumentationsset mit Tablets und Mikrofonen erhalten und die Menschen
lernen in Workshops die Techniken zur Dokumentation.
taz: Gibt es auch Dokumentationen, die aufwendiger sind?
Kühlem: Wir sind im Austausch mit verschiedenen Kooperationspartnern, um
beispielsweise so etwas wie Tänze über Motion-Capture-Technologie zu
dokumentieren. Tänze dienen in der polynesischen Gesellschaft oft dem
Wissenstransfer und vermitteln etwa über Gesten und Gesang Mythen und
Geschichten. Die Technik kennt man aus dem Gaming-Bereich: Ein Tänzer trägt
einen bestimmten Anzug, der dann Gestiken und Körperbewegung digital
erfasst.
taz: Und die Datenbank selbst, wer gestaltet die?
Kühlem: Auch die bauen wir gemeinsam mit den Insel-Communitys auf. Wir
arbeiten mit einer Programmierungsfirma zusammen und haben in den letzten
zwei Monaten zusammen mit den einzelnen Inselgruppen ausgearbeitet, wie sie
die Datenbank definiert haben wollen. Welche Metadaten und Kategorien
wichtig sind.
taz: Was ist dabei herausgekommen?
Kühlem: Ganz viel dreht sich um Urheberrechte. Information oder Wissen sind
stark an bestimmte Clans, Familien oder auch Einzelpersonen geknüpft. Es
geht darum, wem Informationen gehören und wer berechtigt ist, sie zu
teilen. In dem Zusammenhang gibt es das sogenannte Geheimwissen. Das darf
eigentlich gar nicht geteilt werden. In der technischen Umsetzung hat dann
nur eine bestimmte Familie oder Person die Administratorenrechte für den
Teil der Datenbank.
taz: Was kann man sich unter Geheimwissen vorstellen?
Kühlem: Ein eindrückliches Beispiel war für mich die Herstellung von Kanus
und die Rennen, bei denen Gruppen verschiedener Inseln gegeneinander
antreten. Die Siegergruppe zerstört sofort ihr Kanu: Kein anderer soll
sehen können, was die technischen Spezifikationen dieses Kanus sind, was es
so schnell und wendig gemacht hat. Dieses Wissen ist nur für diese eine
Gruppe reserviert.
taz: Was wollen Tuvaluaner:innen neben dem Geheimwissen unbedingt
bewahren?
Kühlem: Es geht viel um handfeste Techniken. Etwa Fischen oder Gartenbau.
Das sind Aspekte, die für Generationen fürs Überleben wichtig waren.
Heutzutage haben die lokalen Experten häufig aber niemanden mehr, an den
sie das Wissen weitergeben können.
taz: Die Frage nach Erhalt des kulturellen Erbes ist also mindestens
genauso eine der Generationen?
Kühlem: Definitiv. Niemand sagt: Jetzt haben wir alles als 3D-Modell, dann
können wir ja gehen. Trotzdem haben viele junge Menschen die äußeren Inseln
schon verlassen. Gar nicht unbedingt, weil sie denken, dass Tuvalu in den
nächsten Jahrzehnten unbewohnbar sein wird. Das ist eher ein Narrativ von
außen. Aber vielen geht es um bessere Zukunftsperspektiven, auch was
Bildung und Job belangt. Nur: Für jemand Jungen, der jetzt in Brisbane
lebt, ist etwa der Anbau von Sumpftaro – einer wichtigen Nutzpflanze vor
Ort – einfach nicht mehr relevant.
taz: Aber muss Kultur nicht auch gelebt werden, um weiterzuexistieren?
Kühlem: Natürlich ist eine digitale Kultur nicht das Gleiche wie eine
gelebte. Aber das Repositorium bietet eine Plattform für Austausch – auch
für Leute, die emigriert sind und in der Diaspora leben. Wenn sich [3][zum
Beispiel jemand aus der Brisbane-Community] dazu entscheidet, gerne einen
speziellen Tanz an die eigenen Kinder weitergeben zu wollen, kann die
Person auf die Datenbank zurückgreifen. Zumal Kultur sich immer wieder neu
entwickelt. Das heißt, abgeschlossen ist dieses Projekt sowieso nie – auch,
wenn die Pilotphase nur noch bis Ende 2026 geht. Bis dahin sollte die
Struktur fertig sein. Wenn dann jemand 2035 ein Lied komponiert, kann das
einfach in die Datenbank eingefügt werden.
24 Dec 2025
## LINKS
[1] https://climatemobility.org/initiatives/rising-nations/
[2] /Digitalisierung-von-Kulturerbe/!5303617
[3] /Klimavisa-fuer-Tuvaluer/!6103705
## AUTOREN
Clara Dünkler
## TAGS
Flüchtlingssommer
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Zukunft
Tuvalu
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Schwerpunkt Klimawandel
3D
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