| # taz.de -- Jane Austen und die Geschlechterrollen: Neue Frauen an der Seitenli… | |
| > In „Überredung“ blickt Jane Austen auf ein neues Geschlechterverhältnis. | |
| > Womöglich hat ihr letzter Roman eine heimliche, uneingestandene Heldin. | |
| Bild: Erstarrte Konventionen auf dem Land, offene Emotionalität an der See: en… | |
| Zu Beginn von Jane Austens letztem, 1818 veröffentlichtem Roman | |
| „Überredung“ ist die Heldin Anne Elliot von konventionellen Frauenbildern | |
| regelrecht umstellt. Ihre Schwestern Elizabeth und Mary führen als | |
| Angehörige des Landadels ein rein dekoratives Leben. Während Elizabeth an | |
| der Stelle ihrer verstorbenen Mutter die Honneurs macht und dabei viel Geld | |
| ausgibt, zieht sich Mary, die den Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers | |
| geheiratet hat, immer dann klagend und vorwurfsvoll auf ihre Couch zurück, | |
| wenn sie nicht durch Einladungen oder spontanen Besuch unterhalten wird. | |
| Die beiden Schwestern repräsentieren eine Schwundstufe des traditionellen | |
| Gutsherrinnen-Ethos, das die privilegierte Stellung des Landadels durch | |
| paternalistische Fürsorge für die Untergebenen zu legitimieren versucht. | |
| Mit Fürsorge aber mögen sich Elizabeth und Mary nicht mehr abgeben und | |
| führen stattdessen, ebenso wie Vater und Ehemann, ein Leben des luxuriösen | |
| Müßiggangs. | |
| Lady Russell wiederum, die Freundin von Annes früh verstorbener Mutter, | |
| beruft sich zwar gern auf die Werte ihres Standes, fährt aber lieber in der | |
| Kutsche über Land, als diesen Werten zur Realität zu verhelfen. | |
| Die US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerinnen Sandra M. Gilbert und | |
| Susan Gubar, psychoanalytisch informierte Gründermütter der feministischen | |
| Literaturwissenschaft, haben in ihrem Grundlagenwerk von 1979 „The Madwoman | |
| in the Attic“ („Die Verrückte in der Dachkammer“) auf die Schwierigkeiten | |
| hingewiesen, die sich den frühen Romanschriftstellerinnen wie etwa Jane | |
| Austen entgegenstellten. Weibliche Autorschaft bedeutete an sich schon eine | |
| Grenzüberschreitung, weil das Schöpferische als Domäne des Mannes galt. | |
| Entsprechend umstritten waren die Produkte weiblicher Schöpfung. | |
| ## Aspekte, die als suspekt galten | |
| Gilbert und Gubar vertreten die Auffassung, dass die Autorinnen des 19. | |
| Jahrhunderts solche Aspekte ihrer selbst (und ihrer Hauptfiguren), die | |
| ihrer Gesellschaft als suspekt galten, in die Nebenfiguren ihrer Romane | |
| projizierten. Anhand von Charlotte Brontës Roman [1][Jane Eyre] zeigen | |
| sie ausführlich, wie die Wut der Schriftstellerin (und ihrer Heldin) über | |
| die patriarchalen Verhältnisse, in denen zu leben sie gezwungen sind, ihren | |
| Ausdruck in dem Schreien und Toben der Nebenfigur Mrs. Rochester findet, | |
| die von ihrem Ehemann wegen ihres Wahnsinns ins Dachgeschoss gesperrt | |
| worden ist. Die Romanheldin erfüllt derweil mit vollendeter | |
| Selbstbeherrschung ihre Pflichten. | |
| Letzteres ist, wenn auch fragil geworden, auch in Jane Austens Roman | |
| „Überredung“ so. Die empfindsame Anne Elliot lebt noch gemäß den | |
| traditionellen Werten des Landadels, bleibt damit aber allein. Als | |
| unverheiratete Frau steht sie ohnehin am Rande der Gesellschaft, deren | |
| Leben sich weitgehend paarweise vollzieht. Für die Bälle in London ist Anne | |
| inzwischen zu alt, bei Tanzabenden in der Verwandtschaft spielt sie | |
| Klavier, und im Haus ihrer Schwester Mary lässt sie sich deren Aufgaben | |
| aufladen. | |
| Nun kommen aber neue Figuren ins Spiel. [2][Der Landadel] hat auch | |
| wirtschaftlich seine besten Zeiten hinter sich, und die Romanhandlung | |
| beginnt damit, dass Annes Vater das angestammte Herrenhaus vermieten muss, | |
| um seine Schulden zu bedienen. Der neue Mieter ist ein Admiral Croft, der | |
| an der Schlacht von Trafalgar teilgenommen hat und sich nun, nach dem Ende | |
| der Napoleonischen Kriege, auf dem Land zur Ruhe setzen will. Sein | |
| Schwager, Kapitän Frederick Wentworth, ist bei der Marine reich geworden, | |
| weil die Schiffsführer, wenn sie ein feindliches Schiff kaperten, dessen | |
| Ladung behalten und zu Geld machen durften. | |
| Ebendieser Frederick Wentworth hatte vor neun Jahren eine Liebesbeziehung | |
| mit Anne und wollte sie heiraten. Der junge Mann hatte weder Geld noch war | |
| er von Stand – Anne wies ihn ab. Der Roman handelt davon, wie Anne Elliot | |
| ihren einstigen Bewerber zurückgewinnt. | |
| ## Dem Admiral in die Zügel greifen | |
| Zusammen mit Admiral Croft betritt auch seine Frau die Szene. Sie war, | |
| Krieg hin oder her, meist mit ihm zusammen auf See und sieht ebenso | |
| wettergegerbt aus wie er. Zurück an Land, beteiligt sie sich mit aller | |
| Selbstverständlichkeit an den Pachtverhandlungen für das Herrenhaus. Ihr | |
| Mann wiederum interessiert sich auch für häusliche Dinge. Gemeinsam fahren | |
| die Eheleute mit dem Einspänner über Land, und wenn auf dem Weg ein | |
| Hindernis auftaucht, greift die Gattin dem Admiral beherzt in die Zügel. | |
| Anders als die in Konventionen erstarrten Landadligen reden die Angehörigen | |
| der neuen, quasibürgerlichen Schicht der Marineangehörigen ohne jede | |
| Umschweife miteinander und zeigen offen ihre Gefühle. Eine erzählerische | |
| Ironie liegt darin, dass Freunde der Crofts Annes Cousine Louisa nach einem | |
| schweren Unfall wie selbstverständlich in ihrem Haus pflegen und damit | |
| genau die Fürsorge zeigen, die dem Landadel neuerdings abgeht. | |
| Anne fühlt sich von der Lebensweise und den Ansichten der Marineangehörigen | |
| spontan angezogen und übernimmt deren zugewandte Emotionalität und | |
| Offenheit in ihr eigenes Wertesystem. Die Erzählerin begleitet diesen | |
| Prozess mit einer Innensicht der Figur, die in der zeitgenössischen | |
| Literatur ihresgleichen sucht. Über weite Strecken sehen die Leser:innen | |
| die Welt durch Annes Augen. Sie teilen ihr Bewusstsein, während Anne sich | |
| in der Auseinandersetzung mit der Lebensweise der Marineangehörigen einen | |
| eigenen Weg sucht. | |
| Was Anne von den Marineangehörigen nicht übernimmt, ist die | |
| kameradschaftliche Gleichberechtigung in deren Ehen. Zwar hat sie nach dem | |
| Unfall Louisas spontan die richtigen Maßnahmen ergriffen und dabei gezeigt, | |
| dass sie durchaus auch Anweisungen geben kann. Aber gegenüber Frederick | |
| Wentworth, der vom weiblichen Geschlecht „Festigkeit des Herzens und Anmut | |
| im Betragen“ verlangt und sich im Übrigen strikt gegen die Anwesenheit von | |
| Frauen auf den Schiffen der Marine ausspricht, verhält sich Anne ganz und | |
| gar gemäß dem konventionellen Frauenbild ihrer Gesellschaft. Als Mrs. | |
| Wentworth wird sie ihrem Ehemann ganz sicher niemals in die Zügel greifen. | |
| ## Herausforderung für die Leserschaft | |
| Wie lässt sich das Festhalten Annes und ihrer Schöpferin Jane Austen am | |
| traditionellen weiblichen Rollenbild erklären? Hätte eine | |
| Selbstermächtigung im Stil Mrs. Crofts die Anlage der Anne-Figur als | |
| empfindsamer Romanheldin durchkreuzt? Ganz sicher wäre eine Hauptfigur mit | |
| Zügen der Admiralsgattin für die zeitgenössische Leserschaft, männlich wie | |
| weiblich, eine Herausforderung gewesen. | |
| An dieser Stelle lässt sich noch einmal an Sandra M. Gilbert und Susan | |
| Gubar denken. Auch für Jane Austens Roman „Mansfield Park“ hatten sie das | |
| Muster aufgezeigt, auf die Nebenfiguren zu schauen. In [3][Mansfield | |
| Park] wird die Hauptfigur Fanny Price, die sich ständig bemüht, es allen | |
| recht zu machen, von der Nebenfigur Mrs. Morris konterkariert, die sich | |
| ihre Umgebung mithilfe ihrer Ränkespiele zu Willen macht. Und sich damit | |
| eine ähnliche Handlungsmacht herausnimmt wie eine Romanschriftstellerin, | |
| die über das Schicksal ihrer Figuren verfügt. | |
| Nach dieser Lesart wäre die den Mietvertrag mitverhandelnde und die Kutsche | |
| mitsteuernde Mrs. Croft die heimliche Heldin von „Überredung“, das | |
| uneingestandene Vorbild Anne Elliots und eine Identifikationsfigur für Jane | |
| Austen, die als Kind hinter ihren Brüdern zurückstehen musste und als | |
| unverheiratete Frau von deren materiellen Zuwendungen abhängig war. Die | |
| ihre Romane zunächst anonym veröffentlichte und mit ihnen erst spät im | |
| Leben ein eigenes Einkommen erzielte. | |
| Als Autorin aber nahm sich Jane Austen die Freiheit, im Medium der Fiktion | |
| die Geschlechterordnung ihrer Zeit infrage zu stellen und einen Ausblick zu | |
| eröffnen auf ein mögliches neues Geschlechterverhältnis, dessen | |
| Verwirklichung noch weit in der Zukunft liegen sollte. | |
| 10 Dec 2025 | |
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| Renate Kraft | |
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