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# taz.de -- Behindertenaktivist über seine Kämpfe: „Ich bin ehrlicher gewor…
> Udo Sierck hat ein Buch geschrieben über die Behindertenbewegung. Heute
> sorgt er sich, dass das Erkämpfte wieder zunichte gemacht werden könnte.
Bild: An schlechten Tagen ignoriert er die Blicke der Leute: Udo Sierck in Mün…
Freitagabend im Münchner Theaterhaus „Kammerspiele“. Der Autor Udo Sierck
ist aus Schleswig-Holstein angereist, um sein neues Buch „Frech und Frei“
vorzustellen. Darin schreibt er über die Kämpfe der Behindertenbewegung.
Sierck sitzt im Rollstuhl, als Aktivist hat er demonstriert für die
[1][Rechte von Menschen mit Behinderung]. Ins Theater sind um die 30
Menschen gekommen, manche sitzen im Rollstuhl oder nutzen einen
Blindenstock. Nach Siercks Auftritt ist er in Gespräche eingebunden, da ist
keine Zeit für ein längeres Interview. Deswegen treffen wir uns eine Woche
später bei Zoom. Sierck ist zugeschaltet aus Gnutz, einem Dorf nördlich von
Hamburg. In seinem Arbeitszimmer stapeln sich Bücher.
taz: Herr Sierck, sind Sie frech?
Udo Sierck: Ich bin vor allem dickköpfig. Die Frechheit wird mir von außen
zugeschrieben, weil ich Dinge sage, die offenbar provozieren.
taz: Zum Beispiel?
Sierck: Früher habe ich Sätze gesagt wie „Behindert sein ist schön“ oder
„Lieber lebendig als normal“. Das war vor 50 Jahren eine Provokation.
taz: Heute nicht mehr?
Sierck: Heute würde ich sagen, dass Behinderung kein Schadensfall ist.
Trotzdem kann Behinderung auch Nachteile haben.
taz: Klingt, als hätten Sie Ihre Radikalität eingebüßt.
Sierck: Nein, ich bin nur ehrlicher geworden.
taz: Sie wurden 1956 in Hamburg geboren und haben die [2][Sonderschule]
besucht. Warum hat man Sie dorthin geschickt?
Sierck: In meiner Jugend gab es für behinderte Kinder nur zwei
Möglichkeiten: Sonderschule oder gar keine Schule. Dass körperbehinderte
Kinder wie ich auf reguläre Schulen gingen, war nicht üblich. Mit einer
Behinderung hatte man eine Sonderlaufbahn vor Augen: Sonderkindergarten,
Sonderschule, Werkstatt für Behinderte, Wohnheim, Sonderfriedhof.
taz: Sonderfriedhof?
Sierck: Die großen Wohnheime für behinderte Menschen hatten eigene
Friedhöfe, wo die Bewohner:innen beerdigt wurden. Soweit ich weiß,
wurden die aber abgeschafft.
taz: Was haben Sie denn für eine Behinderung?
Sierck: Ich habe eine spastische Einschränkung. Bei meiner Geburt war meine
Speiseröhre zugewachsen, deswegen musste ich operiert werden. Während der
Operation gab es Probleme mit der Sauerstoffzufuhr, ich war ein paar
Sekunden tot. Die Spastik ist das Ergebnis davon.
taz: Statt Sonderschule und Werkstatt haben Sie einen anderen Weg
eingeschlagen. Sie haben Abitur gemacht und Bibliothekswesen, Ethnologie
und Geschichte studiert. Mussten Sie sich das erkämpfen?
Sierck: Ja. Aus dieser Sonderlaufbahn kommt man ohne Kämpfe nicht raus.
Mein Glück war, dass mir der Unterricht immer leicht gefallen ist. Der
Kampf bestand darin, Kontakt zu nicht behinderten Gleichaltrigen
herzustellen. Zum Glück habe ich einen Zwillingsbruder, der seine Freunde
mit nach Hause gebracht hat. Eigene Freunde hatte ich aber lange nicht.
taz: Wie sind Sie dann von der Sonderschule aufs Gymnasium gekommen?
Sierck: In Hamburg gab es ab den 70er Jahren ein Modell, bei dem die klugen
körperbehinderten Schüler aus der Sonderschule probeweise in die normale
Schule gehen durften. Ich war einer von zwei Glücklichen pro Jahr.
taz: Für so einen Schritt brauchte es Glück?
Sierck: Ja. Man brauchte Eltern, die einen unterstützten,
Sonderschullehrkräfte, die an einen glaubten, und Lehrer:innen am
Gymnasium, die keine Angst vor einem hatten. Und Mitschüler:innen, die
einen akzeptierten.
taz: Sie sind in den 60er Jahren aufgewachsen. Wirkte da die Nazi-Zeit noch
nach? In der NS-Diktatur wurden Menschen mit Behinderung als
„[3][lebensunwertes Leben]“ betrachtet und teilweise ermordet.
Sierck: Es gibt Umfragen aus dem Jahr 1973. Darin wurde nach dem Lebenswert
behinderter Menschen gefragt. Ungefähr ein Drittel war der Meinung, dass
behinderte Neugeborene lieber direkt sterben sollten, als den Lebensweg
anzutreten. Als Jugendlicher habe ich auf der Straße gehört: „Den hätten
sie unter Hitler vergast.“ Damals habe ich mich nicht getraut, etwas zu
erwidern.
taz: Später wurden Sie politisch aktiv und schlossen sich der Hamburger
„Krüppelgruppe“ an. Die Gruppe war Teil der Behindertenbewegung, die ab
Ende der 70er Jahre in Westdeutschland mit radikalen Protesten auf die
Diskriminierung behinderter Menschen aufmerksam machte. Wie kamen Sie dazu?
Sierck: Ich bin politisiert worden durch die [4][Proteste gegen das
Atomkraftwerk Brokdorf] in der Nähe von Hamburg. Dort habe ich gelernt,
dass man sich aktiv zur Wehr setzen muss, wenn man etwas wirklich nicht
will. Diese Erkenntnis hat mich und ein paar andere dazu gebracht, mehr
über unseren Alltag als behinderte Menschen nachzudenken. Wir waren dann in
einer Gruppe, in der auch Nichtbehinderte dabei waren. Sobald wir
öffentlich auftraten, wurden immer die Nichtbehinderten als Ansprechpartner
adressiert. Da haben wir erkannt, dass wir die Krüppelgruppen bilden
müssen, in denen wir unter uns sind.
taz: Krüppel ist ein Schimpfwort. Wieso haben Sie sich ausgerechnet so
genannt?
Sierck: Von der Gesellschaft wurde uns vorgegaukelt, dass wir dazugehören,
aber das stimmte nicht. Wir haben uns Krüppel genannt, um Ausschluss und
Diskriminierung sichtbar zu machen. Krüppel ist ein hässliches Wort und hat
als Provokation wunderbar gedient.
taz: Bei der Eröffnung einer Rehabilitationsmesse 1981 schlug der Aktivist
Franz Christoph dem anwesenden Bundespräsidenten Karl Carstens mit seiner
Krücke ans Schienbein. Hat die Bewegung eine gewisse Militanz gebraucht?
Sierck: Als Bewegung mussten wir Regeln und Gesetze überschreiten. Ohne
wären wir nicht ernst genommen worden. Franz Christoph hat den
Bundespräsidenten mit der Krücke vors Schienbein geschlagen. Jeder andere
nicht behinderte Mensch muss nach so einer Aktion mit einer Anklage
rechnen. Bei Franz Christoph ist nichts passiert. Für ihn war das ein
Musterbeispiel dafür, dass behinderte Menschen nicht ernst genommen werden.
Das Bild des behinderten Menschen bis in die Mitte der 80er Jahre war
eindeutig: Behinderte sind lieb, dankbar und leicht zu verwalten. Wir haben
damit gebrochen. Unsere Aktionen waren laut und von aggressiven Tönen
begleitet.
taz: Sie selbst waren als Aktivist bei einem Sit-in im Foyer des Spiegel im
Jahr 1987. Was war da los?
Sierck: Der Spiegel hatte in einem Artikel über die Folgen der
Reaktorkatastrophe in Tschernobyl berichtet. Offenbar gab es danach
vermehrt Geburten von Menschen mit Behinderung und dem [5][Downsyndrom]. In
dem Artikel hieß es, das Downsyndrom sei eine gerade noch mit dem Leben zu
vereinbarende Behinderung. Das ist eine diskriminierende Formulierung. Mit
dem Sit-in haben wir darauf aufmerksam gemacht, wie Sprache diskriminiert.
taz: Und was war das Ergebnis?
Sierck: Wir haben zwar nicht erreicht, dass der Spiegel sich in der
nächsten Ausgabe dazu positioniert hat. Aber wenn es danach um das
Lebensrecht neugeborener behinderter Menschen ging, hat sich der Spiegel
auf die Position der Behindertenbewegung eingelassen.
taz: Sie selbst haben als Autor für die Krüppelzeitung geschrieben, eine
Zeitung mit ausschließlich behinderten Menschen in der Redaktion, die über
Diskriminierung in der Gesellschaft berichtete. War Schreiben Ihre Form des
Widerstands?
Sierck: Es gab damals kein Internet, wir brauchten eine Plattform, wo wir
unsere Themen diskutieren konnten. Die Krüppelzeitung hat radikal und ohne
Wunsch nach Harmonie berichtet. Insofern war Schreiben ein Akt des
Widerstands.
taz: Sie haben damals auch für die taz geschrieben, Sie berichteten über
Angriffe auf humangenetische Beratungsstellen. Dort werden Menschen zu
möglichen Erbkrankheiten beraten. Eine dieser Beratungsstellen in Hamburg
soll von den 70er bis zur Mitte der 80er Jahre geistig behinderten Mädchen
und Frauen zur Sterilisation geraten haben. Nachdem Sie für die taz darüber
berichteten, gab es bei Ihnen eine Hausdurchsuchung. Was ist passiert?
Sierck: Wir haben erfahren, dass damals in Westdeutschland jährlich etwa
tausend geistig behinderte Mädchen und Frauen ohne ihre Einwilligung
unfruchtbar gemacht worden sind. Wir haben das veröffentlicht und darauf
hingewiesen, dass die humangenetischen Beratungsstellen in diesem
Zusammenhang eine Rolle gespielt haben. Eines Morgens stand dann das
Bundeskriminalamt vor meiner Tür und durchsuchte meine Akten, um zu wissen,
wie ich an die Informationen gekommen bin.
taz: Das durften die Beamten? Was war mit dem Informantenschutz?
Sierck: Der Informantenschutz wurde schlicht ignoriert.
taz: Was war die Folge?
Sierck: Die Hausdurchsuchung wurde relativ ergebnislos abgebrochen, der
Verdacht auf Unterstützung einer kriminellen Vereinigung an meiner Person
ist im Sande verlaufen. Danach habe ich nichts mehr gehört.
taz: Mal wieder Glück gehabt?
Sierck: Ja, auch. Mehr sage ich dazu nicht. (lacht)
taz: Heute spielen geistige und psychische Behinderungen eine größere Rolle
in der Behindertenbewegung.
Sierck: In den Krüppelgruppen haben wir immer gesagt, dass wir die
Hierarchie unter behinderten Menschen aufheben wollen. Also dass die
„guten“ Behinderten die Querschnittsgelähmten sind, ganz unten stehen die
geistig Behinderten. Der größte Erfolg der Behindertenbewegung war, dass
1994 der Zusatz „Niemand darf wegen seiner Behinderung diskriminiert
werden“ ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Das haben wir nur erreicht, weil
hinter dieser Forderung Organisationen und Einzelpersonen standen, die das
ganze Spektrum von Behinderung oder Psychiatrie-Erfahrung abgebildet haben.
Bei Psychiatrie-Erfahrenen kommt hinzu, dass man ihnen ihre Behinderung
nicht ansieht und sie diese in der Öffentlichkeit preisgeben, wenn sie
darüber sprechen.
taz: Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil?
Sierck: Beides. Es kann ein Nachteil sein, wenn man auf sich selbst
zurückgeworfen wird, weil man nicht dazu steht. Es kann von Vorteil sein,
wenn man nicht ständig so angeglotzt wird wie ich.
taz: Werden Sie noch viel angeglotzt?
Sierck: Ja, aber nicht mehr so offensiv wie vor 50 Jahren. Wenn ich einen
guten Tag habe, starre ich zurück. Die Leute fühlen sich dann ertappt.
taz: Das freut Sie?
Sierck: Ich freue mich, wenn die Leute darüber nachdenken, wie sie sich
gerade verhalten haben.
taz: Und was machen Sie an einem schlechten Tag?
Sierck: Da ignoriere ich die Blicke. Wenn man das 60 Jahre erlebt hat,
funktioniert das. Aber es ist eine Gratwanderung. Nur ignorieren wäre
fatal. Ich muss mir jeden Tag Gedanken machen, was passiert, wenn ich in
der Öffentlichkeit auftrete.
taz: Ein Leitsatz der Behindertenbewegung ist es, Behinderung als soziales
Konstrukt zu verstehen. Ein hoher Bordstein ist also eine Behinderung für
eine Person im Rollstuhl, nicht die Person ist behindert. Wie sähe denn
eine inklusive Welt aus, die Sie gestalten würden?
Sierck: Die Frage nach den Barrieren ist einfach zu beantworten. Die
könnten alle weggebaut werden. Und dann muss umgedacht werden, weg von
Sonderinstitutionen wie Sonderschulen und Werkstätten für Behinderte hin zu
inklusiver Bildung oder Arbeit in üblichen Arbeitsabläufen. Alle Modelle,
die das wissenschaftlich untersuchen, sagen, es ist machbar …
taz: … aber es würde kosten.
Sierck: Dieses Geld wird nicht aufgebracht, weil es politisch nicht gewollt
ist.
taz: Kann eine Sonderschule für manche Kinder mit Behinderung nicht auch
ein guter und geschützter Raum sein?
Sierck: Der geschützte Raum ist ein Mythos. In der Sonderschule gilt
genauso das Leistungsprinzip wie an anderen Schulen auch. Außerdem haben
Absolvent:innen dann einen Sonderschulabschluss, der nichts wert ist.
Kein Arbeitgeber übernimmt eine Person mit dem Stempel „Sonderschüler“.
taz: In den Werkstätten gibt es schon lange die Forderung nach Mindestlohn
für die Angestellten.
Sierck: Mindestlohn ist in meinen Augen der erste Schritt, um Respekt für
die Arbeit der Angestellten zu zeigen. Aber das System der Aussonderung
bleibt trotzdem bestehen. Man soll die Werkstätten natürlich nicht einfach
schließen und die Leute müssen dann selbst schauen, wo sie bleiben. Sie
müssten beim Übergang begleitet werden.
taz: Sind Sie sicher, dass die Leute [6][in den Werkstätten] deren
Auflösung wirklich wollen würden? Sie blicken da aus einer akademischen
Perspektive darauf.
Sierck: Viele Leute in den Werkstätten sind froh, dass sie überhaupt eine
Beschäftigung haben. Das liegt daran, dass die Mehrheit der behinderten
Jugendlichen zur Dankbarkeit erzogen wird. Seit einigen Jahren rumort es
auch in den Werkstätten, die Beschäftigten fordern einen Zugang zum
sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Aber ja, es gibt auch Menschen, die eigene
Rückzugsräume brauchen.
taz: [7][Mit der AfD] sitzt eine gesichert rechtsextremistische Partei im
Bundestag, die Förderschulen zum „Regelfall für Schüler mit
sonderpädagogischem Förderbedarf“ machen will. So steht es im
Parteiprogramm. Macht Ihnen das Angst?
Sierck: Heute trauen sich viele wieder, offen zu sagen, was sie denken. Die
AfD hängt Wahlplakate mit dem Slogan „Deutschland. Aber normal“ auf. In den
Augen der Bevölkerung bin ich nicht normal. Alarmierend ist auch, dass im
Mai 2024 in einer Wohneinrichtung für Menschen mit sogenannten geistigen
Behinderungen ein Stein durch die Tür flog und darauf stand: „Euthanasie
ist die Lösung“.
taz: So etwas ist aber hoffentlich ein Einzelfall?
Sierck: Es gibt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die feststellt,
dass seit Jahren wieder mehr Menschen sozialdarwinistischem Gedankengut
zustimmen. Etwa: Wie in der Natur sollte auch in der Gesellschaft das Recht
des Stärkeren gelten. Ich würde jetzt noch keinen Alarm schlagen. Aber ich
sorge mich, dass die Kämpfe, die wir seit 50 Jahren führen, langsam
zurückgedrängt werden.
taz: Vermissen Sie heute die Radikalität der Krüppelbewegung?
Sierck: Natürlich. Die Öffentlichkeit bekommt von den Anliegen behinderter
Menschen relativ wenig mit. Heute werden unsere Diskussionen im Internet
geführt. In der Öffentlichkeit sind wir nicht mehr so präsent wie vor 30
oder 40 Jahren.
taz: Wenn Sie eine Sache für die Rechte von Menschen mit Behinderung sofort
ändern könnten, welche wäre das?
Sierck: Dass in dem Bewusstsein der Bevölkerung ein Hebel umspringt. Und
der Hebel wäre: Behinderte Menschen, egal, wie sie sich präsentieren, sind
mit Respekt und Anerkennung zu behandeln. Das ist für mich das
Entscheidende. Denn selbst wenn alle Sondereinrichtungen abgebaut werden:
Wenn man behinderte Menschen trotzdem nicht akzeptiert, dann ist nichts
gewonnen.
14 Dec 2025
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Marietta Meier
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