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# taz.de -- SciFi-Essay als Schauspiel: Das Universum antwortet nicht
> Zukunft mit großem Aschenbecher: Das Deutsche Theater Berlin zeigt
> Stanisław Lems Essay „Eine Minute der Menschheit“.
Bild: Zärtlich wie ein schüchterner Liebhaber erklärt Bernd Moss als Dr. Wol…
Es gibt nichts. Das ist die Erkenntnis, die im [1][Deutschen Theater
Berlin] in der ersten Minute dieses Theaterabends von der Bühne in den
Zuschauerraum kommuniziert wird. Die Bühne bleibt erst mal schwarz, das
Wörtchen „nichts“ nistet sich im Dunkel ein, wird mehrstimmig intoniert und
jemand vom Bühnenpersonal fragt nach: „Mich auch nicht?“.
In fünf Minuten Theaterspiel rückt man zur puren Essenz vor, wenn es um uns
Menschen geht: Die eigene Existenz wird infrage gestellt. Man schaut auf
die Bühne wie in ein großes schwarzes Loch und fragt sich: „Was kann jetzt
noch kommen?“
Anita Vulesica hat sich [2][Stanisław Lems] Essay „Eine Minute der
Menschheit“ vorgenommen. Darum werden in den folgenden 100 Minuten noch ein
gutes Dutzend existenzielle Fragen verhandelt. Der polnische Autor und
Philosoph entschied sich 1983 für das Genre einer fiktiven Rezension eines
nicht existierenden Buches.
Regisseurin Vulesica macht daraus ein literarisches Septett. Sie zeichnet
mit einem Ensemble, das sich in seine Rollen wirft, illustre, in der
Karikatur verhaftete und trotzdem als Individuen wahrnehmbare Figuren.
Benjamin Lillie rast als Host wie ein aufgezogenes Blechspielzeug über die
Bühne. Die KritikerInnen-Runde lümmelt in alten Campingstühlen. In der
Mitte der Bühne thront ein qualmender Stehaschenbecher. Und hinter dieser
Szenerie baut sich eine Lautsprecherattrappe auf. Sie nimmt die ganze Höhe
und Breite der Bühne ein.
In der Mitte aber, wo sich eigentlich der Ton materialisiert, ist ein Loch.
Da sitzen wie zu ihrem eigenen Marketing-Poster erstarrt Johnson und
Johnson, die imaginierten AutorInnen von „Eine Minute der Menschheit“,
gespielt von der DT-Statisterie.
Lems Ausgangsfrage ist ganz konkret: Was macht die ganze Menschheit in
einer Minute? In seiner fiktiven Rezension stellt er sich ein Buch vor, das
glaubt, diesen Mammut-Fragekomplex mithilfe von Statistik beantworten zu
können.
Bernd Moss verteidigt als Dr. Wolley diesen Ansatz mit Verve. Unermüdlich
rollt er Wandkarten mit unzähligen Diagrammen auf, von winzig bis zwei
Meter groß.
## Zärtlicher Blick auf Diagramme
„Warten“ ist für Wolley-Moss das Gebot der Stunde. Wie ein Fremdkörper we…
sein Beamtenton durch die hitzige Diskussion, wenn er seine Karten
aufreizend langsam auf- und wieder zurollt, und mit diesem einen Wort
diesen Prozess begleitet.
Es sind charmant-irre Karten mit einer durchgeknallten Detailverliebtheit,
die sich Bühnenbildnerin Henrike Engel ausgedacht hat. Moss widmet sich
ihnen mit der Körperlichkeit eines schüchternen Liebhabers. So deutet er
fast zärtlich auf die Diagramme, die die verschiedenen Todesursachen der
Menschen zueinander ins Verhältnis setzen sollen.
Frieder Langenberger als Dr. Stanley sorgt zuverlässig für urplötzliche
Einbrüche der Stille, denn er stellt immer wieder die eine Frage, die alle
anderen in einen Schockzustand versetzt: „Und was ist mit der Liebe?“ Dr.
Stanley fragt nach dem Wie der Messbarkeit von „dem Guten“ im Gegensatz zur
Statistik „des Bösen“ in der Welt.
Das sind die intensiven Momentinseln im Meer aus Pseudosatire. Sie sind
notwendig, denn nur so bekommt diese Frage und das darauf folgende
kollektive Schweigen ihr enormes Gewicht.
## Alle verschwinden im Loch
Langenberger gibt Dr. Stanley etwas Verschreckt-Verschrobenes, gleichzeitig
absolut Glaubwürdiges. So wird dessen emotionaler Ausbruch, in dem er seine
Liebe zu Dr. Crawley und der ganzen Welt artikuliert, durch Langenberger
zum Gravitationszentrum der Inszenierung.
Vulesica setzt wiederkehrende szenische Bausteine, wie die wilde
Buch-Diskussion, den Werbejingle, den Kollektiv-Aufputsch-Tabletten-Konsum
und das wie fremdgesteuert wirkende Singen geschickt gegeneinander.
Es ist eine Musikalität, die im Verhältnis zur gespielten Zeit an
Intensität gewinnt und auf die inhaltliche Ebene strukturierend wirkt.
Nebenbei wird immer wieder die Linearität der Zeit infrage gestellt.
Wiebke Mollenhauer stellt als Dr. Sharky am Schluss fest: „Nichts. Das
Universum antwortet nicht.“ Alle verschwinden im Loch des
Riesenlautsprechers. Man bleibt übrig und ist innerlich hinausgeworfen aus
der Komfortzone Erde ins unkontrollierbare All.
2 Dec 2025
## LINKS
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[2] /Stanisaw-Lem-am-Schauspiel-Frankfurt/!6084909
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
Deutsches Theater
Bühne
Schauspiel
Kae Tempest
Musik
Kino
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