| # taz.de -- Bedrohte Nischen in Berlin: Tausende Prozent Steuererhöhungen | |
| > Gemeinwohlorientierte Flächen wie Wagenplätze oder Clubs kämpfen mit den | |
| > Folgen der Grundsteuerreform. Der Senat kennt das Problem – und tut | |
| > wenig. | |
| Bild: Die Zukunft des Wagendorfs in Friedrichshain und seiner 17 Bewohner:innen… | |
| Fast sieht es in dem Wagendorf [1][Laster und Hängerburg in Friedrichshain] | |
| wie in einer Kleingartenanlage aus. Nur fehlen die Hecken und Zäune, die | |
| die Parteien üblicherweise voneinander isolieren. Zwischen den Bauwagen in | |
| verschiedenen Farben, auf deren Dächern Solarpaneele angebracht sind, | |
| stehen große alte Bäume, dazwischen sind Kunstskulpturen und Hochbeete zu | |
| entdecken. Im Sommer gibt es hier wöchentlich eine Küfa für den Kiez und | |
| Kinonächte, in denen junge Filmemacher:innen ihre Werke präsentieren | |
| können. | |
| Doch die Wagenburg und die Zukunft ihrer 17 Bewohner:innen ist akut | |
| bedroht. Der Grund dafür ist ein Spuk, der aktuell zahlreiche Gewerbe- und | |
| Kultureinrichtungen gefährdet: Die Grundsteuerreform, die Anfang dieses | |
| Jahres in Kraft getreten ist und die teils astronomische Steuererhöhungen | |
| zur Folge hat. Auch einigen Mieter:innen dürfte wegen der Steuer noch | |
| ein böses Erwachen drohen, wenn am Ende des kommenden Jahres die Mehrkosten | |
| in der Nebenkostenabrechnung auf die Mieter:innen umgelegt werden. | |
| „Vom letzten Jahr auf dieses ist unsere Grundsteuer von 3.417 Euro auf | |
| 75.611 Euro gestiegen“, erzählt Elektra Wagenrad bei Kaffee und | |
| Spekulatius. Sie ist eine der zwei verbleibenden Menschen, die noch die | |
| ursprüngliche Besetzung des Wagendorfes mitgemacht haben. Seit 2013 gibt es | |
| Verträge mit dem Bezirk, dem die Fläche gehört. Der gibt sich zwar | |
| nachsichtig und beschränkt sich zunächst auf eine zusätzliche Zahlung von | |
| 2.000 Euro monatlich – ob das so bleibt, ist aber völlig offen. | |
| Wie groß das Problem ist, wurde bei einem Fachgespräch der Linksfraktion in | |
| der vergangenen Woche deutlich. Da erzählte etwa ein Kreuzberger | |
| Schlosserbetrieb von einer Verzehnfachung seiner Steuer auf 40.000 Euro pro | |
| Jahr, ein Biergarten direkt nebenan muss nun statt den vorherigen 4.000 | |
| Euro 35.000 Euro zahlen. Auch [2][bekannte Berliner Clubs] sind betroffen: | |
| Das About Blank soll künftig 300.000 Euro mehr Steuern zahlen, das Yaam | |
| muss nun statt 13.000 Euro 230.000 Euro zahlen. Besonders abstrus geht es | |
| bei den Bäderbetrieben zu. So soll etwa die Steuer für das Stadtbad | |
| Plötzensee um [3][fast 4.800 Prozent gestiegen sein]. Auch zahlreiche | |
| andere Orte wie etwa der Hobby- und Werkstattraum Fips sind betroffen. | |
| ## Eine gerechtere Reform? | |
| Dabei sollte die Reform eigentlich für mehr Gerechtigkeit sorgen. 2018 | |
| hatte das Bundesverfassungsgericht die damalige Regelung als | |
| verfassungswidrig eingestuft. Denn die Daten, die der Wertbemessung der | |
| Grundstücke zugrunde lagen, waren hoffnungslos veraltet – im Westen | |
| stammten sie aus dem Jahr 1964, im Osten gar aus 1935. Also beschloss der | |
| Bundestag eine Neubewertung. Das erklärte Ziel: Keine Mehreinnahmen für den | |
| Staat, dafür aber eine gerechtere Verteilung der Steuerlast, entsprechend | |
| der veränderten Wertverhältnisse. | |
| Doch in Berlin sind die Grundstückspreise in den vergangenen Jahrzehnten | |
| explodiert. Um dem Ziel der Reform zu entsprechen, dass insgesamt nicht | |
| mehr Steuern erhoben werden, musste der Senat den sogenannten Hebesatz | |
| absenken, ein Prozentsatz, der entscheidet, wie viele Steuern gezahlt | |
| werden müssen: von vormals 810 Prozent auf nun 470 Prozent. Insgesamt | |
| bleibt das Steueraufkommen also gleich. Während es an manchen Orten | |
| günstiger wird, steigt die Belastung in der Innenstadt und im Osten teils | |
| erheblich an. | |
| Das Problem liege darin, wie die Grundstückswerte bemessen werden, sagte | |
| der haushaltspolitische Sprecher der Linken, Steffen Zillich, zur taz. Es | |
| würde stets von einer maximalen Verwertung der Flächen ausgegangen. | |
| Freibäder zum Beispiel würden deshalb wegen der Größe ihrer Fläche enorm | |
| überbewertet. Grundsätzlich sei es wichtig, dass es in Berlin Nischen gebe, | |
| die nicht nach maximaler Verwertungslogik genutzt werden, so Zillich. Das | |
| betreffe auch Werkshöfe mit Handwerksbetrieben, Biergärten und Wagenplätze. | |
| „Dass all das verschwindet, kann einfach niemand wollen, auch nicht SPD und | |
| CDU“, sagt Zillich. | |
| Doch das Problembewusstsein im Senat ist offenbar gering. Jedenfalls wurde | |
| ein Antrag der Linken zur Abfederung der Folgen der Grundsteuererhöhung am | |
| vergangenen Donnerstag abgelehnt. In der Debatte erkannten CDU und SPD zwar | |
| an, dass es Einzelfälle im Kultur- und im gemeinnützigen Bereich gebe, bei | |
| denen man unterstützen müsse. Wie, das blieb aber vage. | |
| ## „Ich gehe hier nicht weg“ | |
| Auch Alexis Demos, Sprecher der Finanzverwaltung, spricht gegenüber der taz | |
| von „höheren Belastungen“, die etwa für Clubs und Schwimmbäder entstanden | |
| seien. Hier müsse über „gezielte Fördermaßnahmen“ nachgedacht werden. | |
| Grundsätzlich sei aber „der Gleichbehandlungsgrundsatz zu wahren“, um | |
| „keine Wettbewerbsverzerrungen zu erzeugen“, so der Sprecher. Im Klartext: | |
| Der Senat will bei der Steuer selbst nichts machen. Und auch die | |
| Unterstützung für Betroffene bleibt vage: Man wolle am Jahresende prüfen, | |
| ob Handlungsbedarf bestehe, so Demos. | |
| Zillich von der Linken fordert Abhilfe per Gesetz. Er argumentiert dafür, | |
| per Landesgesetz eine Sonderregelung für alle Flächen einzuführen, wo die | |
| tatsächliche Nutzung stark von der potenziellen Verwertbarkeit abweicht. In | |
| solchen Fällen soll eine andere Bewertung des Grundstückswertes möglich | |
| werden. Nach Zillich ist das wegen der Länderöffnungsklausel in der | |
| Bundesgesetzgebung zur Grundsteuerreform möglich. Auch die Grünen | |
| unterstützen Sonderregelungen für Clubs- und Kultureinrichtungen. | |
| Solange es noch keine gesetzliche Regelung gibt, bleibt den Betroffenen | |
| indes nur, selbst aktiv zu werden. Eigentümer selbstgenutzter | |
| Wohngrundstücke können einen Härtefallantrag stellen, wenn die | |
| Grundsteuererhöhung ihre Existenz gefährdet. Den Betreiber:innen von | |
| Gewerbeflächen bleibt die Möglichkeit, über einen selbst engagierten | |
| Gutachter eine Neubewertung des Verkehrswertes anzustreben. | |
| Elektra Wagenrad reicht das nicht. „Wir vernetzen uns mit anderen | |
| Betroffenen, um gemeinsam verstärkt an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt | |
| sie. Es sei ungerecht, dass gerade die unkommerziellen Orte von der Steuer | |
| so getroffen würden. „Ich lebe seit den 1990ern in einem Wagen und kämpfe | |
| ständig gegen dieses Leben auf Zeit“, sagt sie. Sie dachte, nun endlich | |
| einen Ort gefunden zu haben, wo sie mit ihren Mitbewohner:innen | |
| bleiben könne. Und sie kündigt an: „Ich gehe hier nicht weg.“ | |
| 11 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Alternativ-leben-in-Berlin/!5495621 | |
| [2] /Neue-Abgabe/!6076518 | |
| [3] https://www.focus.de/panorama/welt/strandbadbetreiber-soll-ploetzlich-48-fa… | |
| ## AUTOREN | |
| Desiree Fischbach | |
| Timm Kühn | |
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