| # taz.de -- Novi Sad: Geballte Wut unter der Totenstille | |
| > Ein Jahr nach dem Tod von 16 Menschen protestieren Menschen in ganz | |
| > Serbien weiter. Präsident Vučić hat einen neuen Ton angeschlagen. Wie | |
| > kommt der an? | |
| Bild: Vor dem Bahnhof der Stadt gedenken die Menschen der 16 Opfer, die vor ein… | |
| Es ist der 1. November, 11.52 Uhr. Eine unübersehbare Menschenmasse steht | |
| auf dem Boulevard der Befreiung vor dem Hauptbahnhof von Novi Sad. Auf die | |
| Minute genau stürzte vor einem Jahr das Vordach über dem Eingang in das | |
| Gebäude und tötete 16 Menschen. Das jüngste Opfer war gerade sechs Jahre | |
| alt. | |
| Es herrscht Totenstille. Man hört nur das Summen der Drohnen und das | |
| Rasseln der von einer Brise getriebenen, verwelkenden Herbstblätter auf dem | |
| Asphalt. Sechzehn Schweigeminuten für sechzehn Opfer. Auch davor und danach | |
| ist das große Gelände umhüllt von einer unnatürlichen Geräuschlosigkeit. | |
| Nur einmal wird sie zerrissen von der Sirene eines Notwagens – es ist mit | |
| 25 Grad im Schatten ungewöhnlich heiß für diese Jahreszeit, eine Person ist | |
| ohnmächtig geworden. | |
| Ein roter Luftballon in der Form eines Herzens tanzt verspielt durch den | |
| kristallblauen Himmel. Ein Mann mittleren Alters flüstert: „Mein Gott, mein | |
| Gott, diese armen Eltern.“ Dann beginnt er zu schluchzen. Auch zwei | |
| Journalistinnen, erfahrene Reporterinnen, die in ihrem Beruf schon so | |
| einiges gesehen haben, können sich nicht mehr zurückhalten. Sie beginnen zu | |
| weinen und fallen sich in die Arme. Der einen zittert die Hand, als sie | |
| versucht, sich eine Zigarette anzuzünden. | |
| Novi Sad ist eine verwundete Stadt. Die Last der sechzehn Toten liegt | |
| bedrückend auf seinen Einwohnern. Doch hinter der Trauerruhe verbirgt sich | |
| geballte Wut. Es ist ein Lechzen nach Gerechtigkeit für ihre Mitmenschen. | |
| Für deren Tod ist bisher niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Niemand | |
| trug bei der Trauerfeier Transparente mit politischen Botschaften, und | |
| trotzdem war die Versammlung an sich ein machtvolles politisches Zeichen. | |
| Am „Tatort“ ist weit und breit keine Polizei zu sehen. Nur eine junge | |
| Polizistin mit einem Kollegen. Was sie über die Trauerkundgebung meinen? | |
| Beide schweigen. Die Frau hat Tränen in den Augen. | |
| ## Das Regime rächt sich | |
| Schwer beeindruckt von der wohl größten Kundgebung in der Geschichte Novi | |
| Sads war auch die Soziologieprofessorin und bekannte Bürgerrechtlerin | |
| Marija Vasić. Angeklagt als „Terroristin“ wurde sie mit fünf anderen | |
| Mitgliedern der Bürgerbewegung Stav und der Oppositionspartei Bewegung | |
| freier Bürger (PSG) in Untersuchungshaft gesteckt. Sie trat in einen Durst- | |
| und Hungerstreik, landete im Krankenhaus und darf sich nun aus der Freiheit | |
| verteidigen. Juristen halten die Anklage für lächerlich und sprechen von | |
| „politischen Häftlingen“. Das Vorgehen sei Rache an politisch gegen die | |
| Autokratie engagierten Bürgern. | |
| „Es war eine katharische Erfahrung, mit 100.000 Menschen weinend | |
| zusammenzustehen, die das Gleiche fühlen“, sagt Vasić. Doch auch morgen | |
| müsse der Kampf gegen das korrupte Regime fortgesetzt werden. | |
| Kurz nach der Tragödie hatte sich die größte Protestwelle in der Geschichte | |
| Serbiens entfaltet. Ihr treibender Motor sind Studenten. In Novi Sad seien | |
| sechzehn Menschen nicht verunglückt, sagen sie, nein, die endemische | |
| Korruption habe sie getötet. Die Korruption bedeute: inkompetente Minister, | |
| die nur wenige Monate vor dem Einsturz des Vordachs inkompetente Baufirmen | |
| mit inkompetenten Mitarbeitenden mit der Renovierung des Bahnhofes | |
| beauftragten. | |
| Zuerst forderten sie, dass die Verantwortlichen ausfindig gemacht und | |
| bestraft werden. Als nichts Konkretes geschah, verlangten sie nun | |
| Neuwahlen. Trotz der tiefen politischen und gesellschaftliche Krise | |
| [1][lehnt es Präsident Aleksandar Vučić von der Serbischen | |
| Fortschrittspartei (SNS) bis jetzt hartnäckig ab, diese auszurufen.] | |
| Am Freitagabend herrschte in der Stadt eine ganz andere Geräuschkulisse. | |
| Tausende Studenten waren tagelang zu Fuß aus allen Teilen Serbiens nach | |
| Novi Sad gezogen, um am Gedenktag teilzunehmen. Sie legten hunderte | |
| Kilometer ab und schafften es wieder einmal, halb Serbien gegen das Regime | |
| auf die Beine zu bringen – wie seit einem Jahr immer wieder. | |
| Mit Jubel, Trommeln, Trillerpfeifen und lauter Musik wurden die erschöpften | |
| Marathonfußgänger im Zentrum von Novi Sad empfangen. Die Stimmung war | |
| geladen mit starken Gefühlen – ein Ausbruch der bis vor Kurzem unbekannten | |
| Solidarität und Einigkeit im Kampf für einen Rechtsstaat. | |
| Man klopfte sich gegenseitig auf die Schultern, umarmte sich, sang | |
| miteinander, schwenkte kraftvoll serbische Fahnen. Orthodoxe, Katholiken, | |
| Protestanten, Muslime. Es war eine multinationale, multikonfessionelle | |
| Demonstration gegen das Regime, das immer wieder versucht, die hetzerische, | |
| paranoide, chauvinistische Karte auszuspielen. Doch bei dieser | |
| Studentengeneration klappt das einfach nicht – anders als in den 1990er | |
| Jahren, als Jugoslawien im blutigen Bürgerkrieg unterging. | |
| Der aktuelle, alles bestimmende Staatspräsident Aleksandar Vučić war damals | |
| Generalsekretär der extrem nationalistischen Serbischen radikalen Partei | |
| und Informationsminister unter Slobodan Milošević. | |
| „Studenten und Bürger beharren klar auf ihren Forderungen und zeigen, dass | |
| die Schonfrist von Vučić abgelaufen ist“, meint der Journalist Nedim | |
| Sejdinović aus Novi Sad. „Die Kundgebung bezog sich nicht nur auf den | |
| gruseligen Jahrestag, sondern widersprach auch all jenen, die frohlockten | |
| oder befürchteten, dass die Energie des Aufstandes abgeflaut sei.“ | |
| Im Gegenteil sei der Protesteifer größer denn je. Die jungen Menschen seien | |
| im vergangenen Jahr „politisch und medial unglaublich gereift“, findet er. | |
| Zugleich habe das Regime Vučić selbst das letzte Körnchen Legitimität | |
| verloren. Denn dank der Protestbewegung wisse inzwischen jeder vom | |
| „Stimmzettel-Diebstahl und dem Staatsstreich, den der Präsident begangen | |
| hat, in dem er die Verfassung brutal verletzt und alle Machthebel unter | |
| seine Kontrolle gebracht hat“, sagt Sejdinović. | |
| ## Eine erstaunliche Rede | |
| Am Tag vor der Gedenkfeier überraschte Vučić sein Volk mit einer für ihn | |
| unüblichen Ansprache. Statt wie immer zu toben, die demonstrierenden | |
| Studenten als Antiserben zu bezeichnen oder von finsteren, Serben-hassenden | |
| Machtzentren im Westen zu reden, die ihn wegen seiner freiheitsliebenden, | |
| unbeugsamen Politik entmachten wollten, gab sich der Staatspräsident | |
| staatsmännisch und versöhnlich. Er bat um Verzeihung für seine manchmal | |
| harschen Worte, streckte den Demonstranten die Hand aus und rief zu Dialog | |
| auf. | |
| Die in Novi Sad versammelten Menschen reagieren erbost. „Der kann mich | |
| mal“, sagten viele dazu bloß. Eine junge Frau findet, Vučić sei ein | |
| pathologischer Lügner. Ihre Freundin betont, dass sie keine theatralischen | |
| Entschuldigungen brauchen, sondern Gerechtigkeit für die Familien der 16 | |
| getöteten Menschen. Und Marija Vasić sagt schlicht: „Vučić verdient keine | |
| Antwort.“ | |
| „Wofür hat sich der Staatspräsident eigentlich entschuldigen wollen?“, | |
| fragte indes der Philosoph und Redakteur in der Wochenzeitung Vreme, Ivan | |
| Milenković. „Weil er die Schläger amnestierte, [2][die einer Studentin den | |
| Kiefer gebrochen hatten]? Weil er eine Frau begnadigte, die versucht hatte, | |
| mit ihrem Auto eine Studentin umzubringen und sie dabei schwer verletzte? | |
| Weil er die Bürger dieses Landes als Terroristen, Auslandssöldner und | |
| Abschaum beleidigte? Weil er wegen des Systems, das er aufgebaut hat, | |
| verantwortlich für den Tod von 16 Menschen ist? Hat er versucht, sich zu | |
| entschuldigen, weil er die Republik abschaffte, weil er Gerechtigkeit | |
| verachtet, die Wahrheit begraben und sich an die Spitze einer Räuberbande | |
| gestellt hat?“ | |
| Der Mann, der die Gesellschaft zerstörte, rufe nun zur Einigkeit auf. Der | |
| Mann, der kein einziges Mal auch nur einen Funken Mitgefühl gezeigt hätte, | |
| rede nun von Beileid, fährt Milenković fort. Der Mann, der jeden Tag in | |
| seinen propagandistischen Medien die Zähne fletsche, redet jetzt von | |
| Sanftmut. Jetzt wolle er, dass wir ihm glauben. Jetzt sollen wir vergessen, | |
| was er in den vergangenen 13 Jahren alles getrieben hat. „Das wird nicht | |
| passieren“, ist der Philosoph überzeugt. | |
| ## Das Misstrauen schürt Vermutungen | |
| Wie groß das Misstrauen gegenüber dem Regime ist, zeigte auch die Reaktion | |
| der Menschen in Novi Sad, als es am 1. November – angeblich wegen | |
| Stromausfall – in der Hälfte der Stadt kein Wasser gab. Ein Kellner im | |
| Restaurant des „Veliki Hotel“ (Großes Hotel) sagte im Brustton der | |
| Überzeugung: „Ausgerechnet am Jahrestag der Tragödie, wenn Zehntausende | |
| Menschen nach Novi Sad kommen, drehen sie das Wasser ab, um uns zu quälen.“ | |
| Er war mitnichten der Einzige, der das Ereignis so deutete. | |
| Ähnliche Erklärungen kursieren, wenn kurz vor Protesten plötzlich | |
| Bombendrohungen in Zügen aufkommen. Ob diese Vermutungen der Regimekritiker | |
| stimmen, ist bisher nicht belegt, dass sie aufkommen, jedoch wenig | |
| verwunderlich. | |
| Nicht einmal zwei Monate sind vergangen, seit einem Ausbruch nackter | |
| Polizeigewalt in Novi Sad. Am 5. September ereignete sich einer von vielen | |
| Protesten, doch diesmal erhielt die Polizei den Befehl, sich nicht zu | |
| zügeln. Sondereinheiten schlugen alles kurz und klein, gepanzerte | |
| Geländewagen der Polizei schossen durch die Stadt, die buchstäblich in | |
| Tränengas erstickte. | |
| Die Polizei drang in eine Fakultät ein, verhaftete massenhaft Menschen, | |
| darunter sogar eine Journalistin, der auch ihre gelbe Weste, auf der | |
| sichtbar „Press“ stand, nichts half. Viele Einwohner von Novi Sad sind der | |
| Meinung, dass das eine Rache von Vučić gewesen sei, weil sie sich so | |
| entschlossen gegen seine Herrschaft auflehnen. | |
| Am 1. November befürchteten viele Menschen, dass das Regime die | |
| Demonstration erneut niederschlagen würde. Eltern hatten riesige Angst um | |
| ihre Kinder. Gerüchte verbreiteten sich, die Sturmabteilung von Vučićs | |
| Partei SNS würde bei Einbruch der Dunkelheit wieder auf die Demonstranten | |
| losgehen. Schon oft waren diese hauptsächlich aus Kriminellen | |
| zusammengestellten Schlägertrupps im Einsatz, eine Art paramilitärische | |
| Leibgarde des Präsidenten. | |
| Und trotzdem waren am Samstag so viele Menschen auf den Straßen der | |
| Hauptstadt der Vojvodina. Serbische Bürger haben es in dem vergangen, von | |
| Massenprotesten gekennzeichneten Jahr, gelernt, ihre Angst zu überwinden. | |
| Und das ist das Schlimmste, was einem Autokraten geschehen kann. | |
| 2 Nov 2025 | |
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