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# taz.de -- Vor der Pogromnacht 1938: Fünf Schüsse zur Freude von Goebbels
> Am 7. November 1938 schoss Herschel Grynszpan in Paris auf den deutschen
> Diplomaten Ernst vom Rath. Die Nazis missbrauchten das als Anlass für die
> Pogromnacht.
Bild: Büro Ernst vom Raths in der Deutschen Botschaft in Paris
Es war kein Tyrannenmord, der am 7. November 1938 in Paris stattfand, und
auch kein Attentat auf einen bekannten Politiker. Das Opfer der fünf
Schüsse, die an diesem Tag morgens um kurz nach 9 Uhr in einem kleinen Büro
der deutschen Botschaft abgefeuert wurden, trafen einen völlig unbekannten
jungen Mann. Und dennoch sollte dieses Attentat Geschichte schreiben.
Denn es wurde als Anlass missbraucht für ein schlimmes Verbrechen, das
heute gemeinhin als der Beginn des Holocaust gilt: die [1][Pogromnacht vom
9. November 1938]. An diesem Tag vor 87 Jahren wurden im ganzen Deutschen
Reich Synagogen geplündert und in Brand gesteckt, die Geschäfte und
Wohnungen von jüdischen Mitbürgern demoliert. Rund 1.000 Menschen wurden
von einem entfesselten Mob ermordet, 30.000 in Konzentrationslager
gesteckt. Und das alles nur aus einem Grund: weil sie Juden waren.
Die Tat zwei Tage zuvor in Paris bot dem deutschen Propagandaminister
Joseph Goebbels den perfekten Anlass für seinen Befehl, gegen die deutschen
Juden loszuschlagen. Was war dort, im altehrwürdigen Palais Beauharnais, in
dem der deutsche Botschafter residierte, geschehen?
Der 17 Jahre alt jüdische Jugendliche Herschel Grynszpan aus Hannover, der
seit gut zwei Jahren an der Seine lebte, war unter einem Vorwand in die
Botschaft und in das Büro des 3. Legationssekretärs Ernst vom Rath gelangt,
hatte ohne Umschweife eine Pistole aus der Manteltasche gezückt und fünf
Schüsse auf sein Gegenüber abgegeben. Zwei davon trafen das Opfer, eine
davon durchschlug Milz, Leber und Magen.
## Zunehmendes Entsetzen
Der stark blutende Angeschossene wurde umgehend in Klinik gebracht und
sofort operiert. Der Täter ließ sich widerstandslos festnehmen, wurde zu
nächstgelegenen Gendarmerie gebracht und dort verhört. Das alles dauerte
kaum 15 bis 20 Minuten. Weltgeschichte wird manchmal in Windeseile
geschrieben.
Als Ernst vom Rath am Nachmittag des 9. November gegen 16.30 Uhr verstarb,
wurde er von der NS-Propaganda als „Märtyrer der Bewegung“ gefeiert und
bekam in seiner Heimatstadt Düsseldorf ein Staatsbegräbnis, zudem auch
Reichskanzler Adolf Hitler anreiste. Aus Sicht von Goebbels hatte es besser
gar nicht kommen können: Ein Jude ermordet einen deutschen Beamten – ein
schlagendes Beispiel für den „jüdischen Krieg“ gegen Deutschland, so die
Propaganda.
Sogleich wurde die Behauptung aufgestellt, Herschel Grynszpan habe im
Auftrag von düsteren jüdischen Hintermännern gehandelt. Beweise gab es
dafür nicht, und die konnte es wohl auch nicht geben. Denn nach allem, was
wir heute wissen, war der 17-Jährige ein Einzeltäter, der aus purer
Verzweiflung handelte.
Er lebte zur Tatzeit seit gut zwei Jahren an der Seine, war aber in
Hannover geboren und hatte dort auch fast sein ganzes Leben verbracht.
Allerdings war er kein deutscher, sondern polnischer Staatsbürger. Weil er
wenige Wochen vor der Tat die polnische Staatsbürgerschaft verloren hatte,
war er als nunmehr Staatenloser von der Ausweisung aus Frankreich bedroht.
Grynszpan verfolgte mit zunehmenden Entsetzen die Geschehnisse in
Deutschland. Als er schließlich von der [2][sogenannten Polenaktion] las,
stieg seine Wut auf das NS-Regime ins Unermessliche. Bei dieser Aktion
handelte es um die [3][Ausweisung] von 17.000 Juden mit polnischer
Staatsangehörigkeit aus ganz Deutschland, die in den letzten Oktobertagen
buchstäblich über Nacht mit Zügen vollzogen wurde. Tausende dieser
ausgewiesenen Menschen hausten seitdem bei Nässe und Kälte in dem kleinen
polnischen Grenzort Zbąszyń unter freiem Himmel.
Unter ihnen befanden sich auch Grynszpans Eltern sowie sein Bruder und
seine Schwester. Nachdem er von dieser eine Postkarte mit einem Hilferuf
erhalten hatte, entschloss er sich, zu handeln. So kam es zur Tat vom 7.
November.
So weit, so klar. Oder doch nicht? Tatsächlich stellen sich zwei Fragen.
Die erste: Hat Grynszpan sein Opfer überhaupt umgebracht? Daran habe ich
erhebliche Zweifel. Denn Hitler schickte gleich nach der Tat seinen
persönlichen Begleitarzt Karl Brandt nach Paris. Der skrupellose Mediziner
übernahm am 8. November die Behandlung vom Raths und machte eine
Entdeckung: Der 29-Jährige litt an TBC und möglicherweise auch an den
Folgen einer lange verschleppten Rektalen Gonorrhoe, also einer
Geschlechtskrankheit. Vier Jahre nach vom Raths Tod bekannte Brandt, dass
der nicht an den Schüssen Grynszpans gestorben war, sondern weil er,
Brandt, die Tuberkulose nicht behandelt hatte.
Dass Ernst vom Rath homosexuell war, ist unbestritten. Gestritten wird bis
heute darum, ob das auch auf Grynszpan zutrifft und ob die Tat eine
Beziehungstat gewesen sei. Für dieses Gerücht, das schon die Pariser
Kriminalpolizei 1938 nach entsprechenden Ermittlungen zurückwies, gibt es
keine Belege. Grynszpan selbst bestand darauf, dass seine Tat ein
politisches Signal war. Er griff zwar angesichts eines drohenden
Schauprozesses 1942 selbst auf die Behauptung der Beziehungstat zurück,
aber sie war nur ein taktisches Mittel, den Prozess gegen ihn zu
verhindern.
Ein solcher Prozess fand allerdings weder in Frankreich noch in
NS-Deutschland statt. Die Hitler-hörige französische Vichy-Regierung
lieferte ihn kurz nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Juli 1940 aus.
Grynszpan kam ins Gefängnis Berlin-Moabit, wo er verhört wurde, dann in das
KZ Sachsenhausen, wo er unter privilegierten Bedingungen im sogenannten
Prominentenblock lebte. Trotz anderslautender Gerüchte gingen die
Historiker lange davon aus, dass er irgendwann ermordet wurde. Erst 2018
tauchte im Jüdischen Museum in Wien ein Foto auf, das ihn vermutlich im
Juli 1945 in einem Lager für jüdische Displaced Persons zeigt – er hatte
also den Krieg offenbar überlebt. Über sein weiteres Schicksal ist nichts
bekannt.
Seine Tat mag umstritten sein, aber sie zeigte, dass ein junger Jude etwas
tun wollte gegen die Unterdrückung seines Volkes. Denn von anderen konnte
die Juden damals keine Hilfe erwarten.
7 Nov 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Armin Fuhrer
## TAGS
Pogromnacht
Der 9. November
Attentäter
GNS
Holocaust
Bürgerwehr
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