| # taz.de -- Essay über Migration: Hauptsache, der Rundfunkbeitrag ist bezahlt! | |
| > Ursula Krechels neuer Essay stellt sich gegen die Negativstimmung, die in | |
| > Migration das Unheil unserer Zeit ausmachen will. | |
| Bild: Die Schriftstellerin Ursula Krechel nach einer Lesung in Berlin | |
| taz | Er steht wie ein Monolith in der politischen Landschaft: überragend, | |
| mächtig und für manche bedrohlich. Dabei ist sein Inneres leer: der ewige | |
| Migrationsdiskurs. Obwohl die Zahl der Asylanträge stetig sinkt – nicht | |
| zuletzt auch wegen europarechtlich fragwürdiger Pushbacks an den | |
| Außengrenzen –, verliert die Debatte darum kaum an Schlagkraft. | |
| Noch immer stellt die Ein- und Zuwanderung bei Umfragen eines der | |
| Top-Themen dar. Auch angesichts der mittlerweile von weiten Teilen der | |
| Parteienlandschaft unterstützten restriktiven Abschottungspolitik trauen | |
| sich Befürworter:innen einer weltoffenen Gesellschaft derzeit kaum, | |
| sich öffentlich zu äußern. [1][Ursula Krechel], Trägerin des diesjährigen | |
| Georg-Büchner-Preises, zählt zu den wenigen, die noch diesen Mut beweisen. | |
| Während die neue Rechte die Migrationsströmungen unserer Gegenwart zum | |
| singulären Katastrophenfall des 21. Jahrhunderts stilisiert, zeugt der | |
| aufklärerische Essay der Autorin, „Vom Herzasthma des Exils“, vom | |
| Gegenteil. Indem sie einen historischen Blick auf Vertreibung wirft, | |
| erscheinen diese geradezu als Konstanten der Menschheitsgeschichte. | |
| Ungeachtet der aktuellen Rede von den „Massen“ verbirgt sich dabei hinter | |
| jedem Abschied und Aufbruch ein individuelles Schicksal. Dieses ruft | |
| Krechel ins Gedächtnis. So berichtet sie etwa von Karl Marx, der in England | |
| sein Refugium fand, oder von Hilde Domin, die lange kaum von ihrer eigenen | |
| Fluchtgeschichte schrieb. | |
| Nur Prominente?, mögen Kritiker fragen. Keineswegs! Abseits einzelner | |
| Biografien richtet sich die Aufmerksamkeit der 1947 in Trier geborenen | |
| Krechel ebenso auf die großen Auswanderungswellen. Seien es die in Paris | |
| als Handlanger und Lumpensammler geendeten Auswanderer aus Hessen im ersten | |
| Drittel des 19. Jahrhunderts oder all die nach Amerika Aufgebrochenen, die | |
| früher in den überfüllten Hallen von Ellis Island strandeten – die globale | |
| Dynamik ist seit jeher universell und häufig mit tiefem Leid verbunden. | |
| Zu den wohl berührendsten Stellen dieses schmalen, von Zivilcourage und | |
| moralischer Haltung getragenen Buches zählt daher eine Tabelle zu | |
| Hintergründen, Alter und Todesursachen von Flüchtlingen zwischen 1993 und | |
| 2018. Sie muss nicht kommentiert werden, sie steht mit ertrunkenen | |
| Säuglingen, verhungerten Frauen und Suiziden in Lagern für sich. | |
| ## Empört über den seelenlosen Westen | |
| Die Autorin macht keinen Hehl aus ihrer Empörung über einen seelenlosen | |
| Westen, gerade wenn sie sich im zweiten Teil ihres Textes der aktuellen | |
| Gesetzeslage widmet. Bei den bürokratischen Voraussetzungen für | |
| Fachkräfteeinwanderung schlägt Krechels mitfühlender Ton in einen, | |
| nachvollziehbaren, Zynismus um. „Leute, zahlt Rundfunkgebühren, und ihr | |
| werdet Deutsche“, ruft sie jenen satirisch entgegen, die für ihre Aufnahme | |
| bei uns zwingend einen Nachweis für ihre Mitfinanzierung des | |
| Öffentlich-rechtlichen Rundfunks erbringen müssen. | |
| Nicht minder ironisch fällt ihre Sprachkritik aus. Begriffe wie „Duldung“ | |
| oder „Schübling“, eine Fachvokabel für den Abzuschiebenden, bezeichnet sie | |
| als menschenverachtend. | |
| Dass sie diese [2][Abwertungsmechanismen] in einen umfassenden zeitlichen | |
| Rahmen einordnet, gibt dem Werk die eigentliche Aussagekraft, schlägt | |
| Krechel doch immer wieder die Brücke zum Nationalsozialismus. Nur ein | |
| Beispiel: Nachdem 1939 die St. Louis, ein von Juden gechartertes Schiff, | |
| aufbrach, um die um ihr Leben Fliehenden nach Kuba zu transportieren, wurde | |
| ihnen das Anlegen vor der Karibikinsel untersagt. Es folgte eine Irrfahrt | |
| entlang der amerikanischen Küste, wo den Passagieren überall die Einreise | |
| verwehrt blieb. Der Direktor der kanadischen Einwanderungsbehörde gab | |
| bekannt: „None is too many“. | |
| Ähnliche Narrative und Sprüche kennen wir von gegenwärtigen Amtsträgern. | |
| Aber, so das Urteil der Essayistin, „Geschichte wird nicht durch | |
| Verordnungen, Maßnahmen, Brandschutzregeln und Bettenkontingente | |
| geschrieben. Sie ist eine Bewegung, die auch die ergreift, die am | |
| bestehenden Regelbestand festhalten […]None is too many. So wünschen viele | |
| es sich heute wieder.“ Damit die Parallele zwischen dem Faschismus von | |
| damals und von heute jeder und jedem klar wird, bringt es Krechel nochmals | |
| direkt auf den Punkt: „Ein Nein zur Migration ist ein Ja zum Rassismus“. | |
| ## Ein Berg von Fremdheit | |
| Haben wir also nichts gelernt? Nichts gelernt aus dem grausamen Schicksal | |
| der Rückkehrer 1945, die in großer Zahl mit Ignoranz gestraft wurden, | |
| während man Altnazis erneut in den Staatsdienst aufnahm? Nichts gelernt von | |
| all den Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Geflüchtete allein durch ihre | |
| beschwerliche Expedition ins Unbekannte mitbringen, während wir in ihnen | |
| nur Ballast und Probleme wahrnehmen wollen? | |
| Von diesem, wie eine der vielen treffenden Metaphern dieses Buches lautet, | |
| „Berg von Fremdheit, den sie [die Immigranten] erklettern müssen und | |
| vielleicht erst wieder in der nächsten Generation verlassen können“? „Vom | |
| Herzasthma des Exils“ sollte uns Mahnung und Lehrbuch sein, eine | |
| uneingeschränkte und emphatische Erinnerung daran, dass wir alle nur eines | |
| sind: Menschen. | |
| 21 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Buechner-Preistraegerin/!6098148 | |
| [2] /In-ihrem-Buch-analysieren-zwei-Soziologen-die-psychischen-Affekte-des-Wutb… | |
| ## AUTOREN | |
| Björn Hayer | |
| ## TAGS | |
| Politisches Buch | |
| Essay | |
| Georg-Büchner-Preis | |
| Migration | |
| Neue Rechte | |
| Brandmauer | |
| Reden wir darüber | |
| Büchnerpreis | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kurdischer Autor Menaf Osman: Ein widerspenstiger Schriftsteller | |
| Der kurdische Autor Menaf Osman war Jahrzehnte willkürlich in der Türkei in | |
| Haft. Nun lebt er in München. Die Geschichte einer unglaublichen Odyssee. | |
| Büchner-Preisträgerin Ursula Krechel: Witzig, skurril und voller Hoffnung | |
| Die Schriftstellerin Ursula Krechel hat den Büchnerpreis 2025 verliehen | |
| bekommen. Nach Gedichten und Essays schrieb sie jüngst vor allem Romane. | |
| Deutscher Buchpreis 2012: Im neuen Deutschland | |
| Ursula Krechel gewinnt den Buchpreis 2012. „Landgericht“ beschreibt das | |
| Schicksal eines jüdischen Exil-Heimkehrers im Nachkriegs-Deutschland. |