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# taz.de -- Avantgarde-Musikfestival in Apulien: Dissonanzen und Ökosysteme
> Beim Avant Festival im süditalienischen Lecce kommen Klassikfans
> zusammen. Und die, die ihre Synapsen gern von dissonanten Klängen
> durchpusten lassen.
Bild: Wandert zwischen Noise, Folk, Ambient und Metal: Rojin Sharafi während d…
„Would The Earth Celebrate Our Extinction?“ steht auf einer Leinwand hinter
der Bühne, während das Publikum beim Avant Festival im süditalienischen
Lecce davor wartet, dass es losgeht. Gleich wird das MEGA Ensemble (Music
Effort for Green Activism) in der Masseria Tagliatelle, einem zum
Kulturzentrum umgewandelten Gutshof, die Ergebnisse einer Zusammenarbeit im
Rahmen eines Residenzprogramms präsentieren.
Vermutlich feiert die Erde schon – denkt man sich so, die formulierte Frage
betreffend. Zumindest, wenn man sie sich als Lebewesen verstellt, wie es
etwa die Gaia-Hypothese tut – formuliert in den 1970er Jahren von der
Biologin Lynn Margulis und James Lovelock, Vordenker der Ökobewegung.
Höchste Zeit, dass der blaue Planet uns Parasiten abschüttelt, bevor der
Kollaps der Ökosysteme immer mehr Arten auslöscht. Spannende Gedankenspiele
also auf dem Festival im Süden des Bel Paese, das seine fünfte Ausgabe
unter das Motto „Soundwave of Solidarity“ gestellt hat.
Allerdings erweist sich das, was das Ensemble musikalisch dazu entwickelt
hat, eher nicht so prickelnd. Auf der Klangebene, mit ihren druckvollen
Dissonanzen, kommt die Verstörung durchaus an. Die Collage, die über die
Leinwand flimmert, mutet generisch an und hebt sich kaum ab von der
Bilderflut beim Thema Klima, mit der wir tagtäglich konfrontiert werden.
Auf ästhetische Überraschungen muss das Publikum an diesem Abend also
warten. Dabei hält das Programm an diesem zweiten von drei Festivaltagen
durchaus Stimulierendes bereit.
Es folgt etwa ein tolles, dynamisches Set der in Wien lebenden
Klangkünstlerin Rojin Sharafi. In ihre abwechslungsreiche, mäandernde
Soundcollage fließen Dabke-Rhythmen ein. Der traditionelle palästinensische
Reihentanz wurde 2023 in die Unesco-Liste der immateriellen Kulturgüter
aufgenommen. Sharafi zeigt, dass man sich der komplexen Situation im Nahen
Osten durchaus künstlerisch nähern kann, statt [1][ständig unterkomplexe
Parolen zu wiederholen], die in progressiv orientierten Musikkreisen allzu
oft für Verwerfungen sorgen.
## Manch schalkhafter Moment
Des Weiteren stehen Street Ballads auf dem Programm. Die Zusammenarbeit
vierer einheimischer Musikerinnen wurde ebenfalls durch ein
Residenzprogramm ermöglicht. Das Ensemble generiert abwechslungsreiche
Soundcollagen, inspiriert von Texten italienischer und schweizerischer
Autor:innen. Später wird die Schweizer Klangkünstlerin Martina Lussi
Feldaufnahmen aus der Natur mit Synthiesounds amalgamieren. Sie baut so
manch schalkhaften Moment in ihr Set ein – etwa, indem sie es mit
gesampeltem Babygeschrei abrupt enden lässt. Alles in allem also
experimentellere Klänge, als man sie in einer charmanten Stadt wie Lecce
erwarten würde.
Bemerkenswert, dass etwa 350 Leute den Weg zu diesem Konzertabend gefunden
haben. Wegen seiner barocken Architektur wird Lecce, das einen
sympathischen Vibe hat, auch „Florenz des Südens“ genannt – was zur Folge
hat, dass solvente Ruheständler aus aller Welt hier luxuriös sanierte
Altstadtimmobilien kaufen. In den pittoresken Gassen hört man mehr Englisch
als noch vor wenigen Jahren. Umso elementarer, dass jüngere Einheimische
auch kulturelle Angebote bekommen – nicht zuletzt, um zu verhindern, dass
alle Kreativen Richtung Rom, Mailand oder ins Ausland abwandern.
Hier dockt [2][der Kulturverein Sudsonico] an, ein Zusammenschluss
kulturaffiner junger Leute aus der Region. Bereits zum fünften Mal fand
sein Avant Festival statt, das experimentelle Sounds mit politischem
Aktivismus verbindet. Leiter ist Ludovico Esposito, ein umtriebiger
Mittdreißiger, der im Brotberuf als Fundraiser arbeitet. Vor gut einem
Jahrzehnt ging er von Berlin zurück in seine Heimat und wollte etwas aus
der Hauptstadt mitnehmen, was er am großstädtischen Kulturleben schätzen
gelernt hatte. Zunächst stellte er mit Freunden im Salento, der Halbinsel,
die auch „Absatz des Stiefels“ genannt wird, halblegale Partys auf die
Beine.
## Eine familiäre Atmosphäre
Bald wollten sie für ihre Veranstaltungen ein solideres Fundament –
„Sudsonico“ war geboren. Fördergelder bekommen sie für ihre Arbeit kaum,
auch wenn immer wieder Anträge geschrieben werden. Für die diesjährige
Ausgabe des Festivals setzten sie auf Unterstützung lokaler Partner,
ausländischer Stiftungen und gemeinwohlorientierter Organisationen.
Eingerahmt werden die Veranstaltungen, die etwa 300 Leute anziehen, von
einem touristischen Rahmenprogramm: Tagsüber wandert man auf Küstenwegen in
der Umgebung. Im Moment, so erzählt Esposito, liegt der Anteil von
Festivalgästen, die aus anderen Landesteilen und aus Europa anreisen, bei
etwa 20 Prozent. Doch der intime Rahmen bringt auch Vorteile mit sich: Die
drei Konzertabende sind geprägt von einer familiären Atmosphäre.
Trotzdem lockt das Abschlusskonzert am Sonntag ein bunt gemischtes Publikum
an. Vielleicht, weil es an einer Sehenswürdigkeit stattfindet – in einer
Basilika mitten in der Altstadt. Alt trifft auf jung, Klassikfans treffen
auf Menschen, die ihre Synapsen lieber von dissonanten Klängen durchpusten
lassen. Die französische Multiinstrumentalistin Delphine Dora improvisiert
an der Orgel – doch was sie dem Instrument an Klängen entlockt, wirkt
gleichförmig. Ab und zu singt sie dazu lautmalerisch, die potenzielle Wucht
der Orgel geht aber leider verloren.
Immerhin ist es den Veranstaltern gelungen, in einer Kirche weltliche Musik
zu präsentieren – im katholischen Salento alles andere als
selbstverständlich. Allgemein rückt das Avant Festival abseitige Kultur in
die Mitte der Gesellschaft, und das ist seine eigentliche Leistung.
15 Oct 2025
## LINKS
[1] /Pali-Proteste-in-Berlin/!6118030
[2] https://www.sudsonico.it/
## AUTOREN
Stephanie Grimm
## TAGS
elektronische Musik
Festival
Italien
Experimentelle Musik
Klangkunst
Musikfestival
Portugal
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