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# taz.de -- Familien in Syrien: Frische Pistazien und neue Verwandte
> Seit der syrischen Revolution hat unsere Autorin ihre Mutter nicht
> gesehen. Ihre Kinder kennen sie nur aus Erzählungen. Nun werden sie sich
> treffen.
Bild: Frische Pistazien kurz vor der Ernte
Als [1][Bashar Al-Assad] gestürzt wurde, war dies für mich und meine
Familie nicht nur die Nachricht vom Ende des Krieges. Es bedeutete, dass
wir nach sechs Jahren im Flüchtlingslager im Nordwesten Syriens in unser
Haus in Al-Huwayz in der Al-Ghab-Ebene zurückkehren würden. Es bedeutete
auch, dass vier meiner fünf Kinder ihre Onkel und Tanten kennenlernen
würden, die sie zuvor nur von Geschichten, gelegentlichen Telefongesprächen
und Fotos kannten. Endlich würden sie auch ihre Oma, meine Mutter, treffen.
Ihre anderen Großeltern waren während des Krieges gestorben.
Meine Mutter lebt in der Kleinstadt Morek in der Provinz Hama. Seit Beginn
der [2][syrischen Revolution 2011] hatte ich sie und viele meiner
Geschwister nicht gesehen. Morek stand unter der Kontrolle von Assads
Truppen, die Reise dorthin war zu gefährlich. Die Stadt ist Syriens größter
Pistazienproduzent. Kilometerweit wachsen dort die sogenannten
Aleppo-Pistazien auf Feldern. Ihre Zahl wird auf rund 850.000 Bäume
geschätzt. Erfreulicherweise würde unser erstes Familientreffen nach 14
Jahren auf die Erntezeit der Schalenfrüchte fallen. Zum ersten Mal in ihrem
Leben würden meine Kinder Pistazien direkt vom Baum essen können. Die
rötlich gefärbten Früchte hingen dann in traubenartigen Rispen an den
Zweigen der Bäume. Erntefrisch schmeckten sie leicht süßlich.
Sidra, meine älteste Tochter, war drei Jahre alt als die syrische
Revolution begann, jetzt packte sie die Koffer für die Familie. „Ich kann
nicht glauben, dass die Reise wirklich stattfindet“, sagte sie. Mein
jüngstes Kind Saif al-Din sprang zwischen den Reisetaschen hin und her. Der
Sechsjährige stellte viele Fragen wie: „Wie viele Zimmer hat Omas Haus?“,
„Was soll ich Oma schenken?“.
Aufmerksam lauschte ich den Gesprächen meiner Kinder. Die Fragen sprudelten
nur so aus ihnen heraus, während sie angestrengt versuchten, sich die Namen
ihrer Verwandten zu merken. Fast so, als würden sie sich auf eine Prüfung
vorbereiten, in der es keinen Raum für Fehler gab. Sie kannten weder die
Bedeutung von „Heimat“ noch die Gesichter ihrer Onkel und Tanten.
Die Unterhaltungen meiner Kinder offenbarten eine tiefe Lücke in ihrer
Familiengeschichte, die durch die Vertreibung und das Leben im
Flüchtlingslager entstanden war. Es war eine Suche nach Wurzeln, nach einem
Ort der Zugehörigkeit außerhalb der Grenzen des Lagers, in dem sie
aufgewachsen waren. Denn wie so viele syrische Kinder verbrachten auch sie
den Großteil ihrer Kindheit in einem Flüchtlingslager. Laut
[3][UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR)] lebten 2024 mehr als 3,4 Millionen
Vertriebene im Nordwesten Syriens. Darüber hinaus waren 1,95 Millionen
Flüchtlinge in über 1.500 Lagern in den Provinzen Idlib und Aleppo
untergebracht. Schätzungen gehen davon aus, dass 1,4 bis 1,5 Millionen
dieser Vertriebenen Kinder waren.
Als wir einige Tage später mit dem Auto nach Morek fuhren, tauchten rechts
und links die weiten Pistazienfelder auf, die eine Fläche von etwa 5.300
Hektar bedecken. Meine Kinder klatschten zur Musik im Radio, lachten,
flüsterten. Hin und wieder rief eines von ihnen: „Schau mal, so viele
Bäume!“. Dann ein anderes: „Wird Oma uns wiedererkennen?“ Oder: „Werde…
unsere Cousins mögen?“
Als unser Auto wenig später vor dem Haus meiner Mutter hielt, wo sie mit
meinen Geschwistern und ihren Familien längst auf uns wartete, hörten wir
schon von weitem die Rufe zur Begrüßung, gefolgt von lautem Lachen und
vielen Tränen. Ein Wiedersehen nach 14 Jahren. Während meine Töchter
neugierig die Gesichter ihrer Verwandten betrachteten und ihnen etwas
schüchtern die Hand zur Begrüßung gaben, rannte mein kleiner Sohn zu seiner
Oma, ergriff ihre Hand und umarmte sie so fest, als hätte er einen Schatz
gefunden, den er nicht wieder verlieren wollte. Sie drückte ihn an ihre
Brust und weinte.
Später fuhren wir mit den Kindern und einigen Cousins zu einem der nahe
gelegenen Pistazienfelder. Zum ersten Mal pflückten meine Kinder frische
Pistazien von den Bäumen, so wie ich es in meiner Kindheit all die Sommer
getan hatte. Sie liefen zwischen den Bäumen umher, atmeten den Duft der
trockenen roten Erde und lauschten dem Rascheln der Blätter vom Wind –
gerade so, als würden sie hier und jetzt, nach Jahren, neue Wurzeln
schlagen.
Ich beobachtete meine Kinder und war glücklich und besorgt zugleich. Ich
fragte mich: Würden diese Momente die tiefe Lücke, die der Krieg
hinterlassen hatte, wieder füllen können?
Die Vergangenheit würde dieser Besuch wahrscheinlich nicht zurückbringen
können, jedoch erhielten meine Kinder endlich die Möglichkeit, sich auf
greifbare Weise mit ihrer Familiengeschichte zu verbinden. So wie die
Pistazienbäume, waren auch wir hier verwurzelt und warteten auf den Tag, an
dem wir zurückkehren würden.
10 Oct 2025
## LINKS
[1] /Baschar-al-Assad/!t5010795
[2] /Arabische-Revolution-in-Syrien/!5124105
[3] /UNHCR/!t5008085
## AUTOREN
Sawsan Hussein Qaddour
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