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# taz.de -- Labour-Parteitag in Großbritannien: Der Gegner heißt Farage, nich…
> Auf ihrem Jahresparteitag in Liverpool vermeidet die britische
> Regierungspartei eine Selbstzerfleischung. Im Vordergrund sollen jetzt
> Inhalte stehen.
Bild: Die britische Innenministerin Shabana Mahmood während der jährlichen Ko…
Liverpool taz | Vor dem Eingang des Konferenzzentrums steht eine Schar von
vielleicht 100 Personen mit britischen Flaggen. Auf Schildern setzen sie
sich für Landwirte ein und gegen die Einführung digitaler Personalausweise,
die Großbritanniens Labour-Regierung vor wenigen Tagen als geplante
Maßnahme gegen irreguläre Einwanderung vorgestellt hat.
Anhänger des Rechtsextremisten Tommy Robinson, der [1][vor zwei Wochen in
London 150.000 Menschen gegen Labour] auf die Straße brachte, beschimpfen
laut und obszön die Parteigenossen. Aktivist:innen mit Palästinaflaggen
skandieren „Israel ist ein Terrorstaat“ und „Yalla Yalla Intifada“, vie…
sitzen auf dem Rasen mit Schildern, auf denen „I Support Palestine Action“
steht – eine von der Labour-Regierung [2][als terroristische Vereinigung
verbotene Gruppe]. Bis in die späte Nacht transportiert die Polizei diese
Leute ab, insgesamt 66, sie werden des Bruchs der Antiterrorgesetze
beschuldigt.
Es ist keine 15 Monate her, dass Labour in Großbritannien einen hohen
Wahlsieg einfuhr und die Regierung übernahm. Doch das Spektakel in
Liverpool könnte glauben lassen, dass die Partei seit vielen Jahren regiert
und die Leute ihrer müde seien. Der Fokus beim [3][Labour-Jahresparteitag]
ist defensiv.
Die rechtspopulistische Partei [4][„Reform UK“ unter Nigel Farage] liegt
seit Monaten in allen Umfragen weit vorn, nach aktuellem Stand könnte sie
bei Neuwahlen die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus holen – derzeit
hat sie fünf von 650 Mandaten. Umfragen zum Parteitagsauftakt erklären Keir
Starmer zum unbeliebtesten Premierminister seit 1977 und geben der
Forderung nach einem Wechsel an der Parteispitze eine Mehrheit unter den
Labour-Mitgliedern. Die kritisieren die schließlich wieder teilweise
rückgängig gemachte Kürzung von Heizkostenbeihilfen für Rentner:innen
oder auch eine zu zögerliche Kritik an Israel.
## Das perfekte Anti-Starmer-Komplott
Tagelang ist spekuliert worden, ob der Parteitag zur Bühne für einen
Machtkampf wird. Der beliebte Labour-Bürgermeister von Manchester, Andy
Burnham, wurde als möglicher Nachfolger Starmers in Stellung gebracht.
Labour muss ohnehin in den kommenden Wochen eine neue stellvertretende
Parteivorsitzende wählen, zur Nachfolge der wegen einer Steueraffäre
zurückgetretenen Angela Rayner.
Favoritin für diesen Posten ist die Anfang September aus der Regierung
ausgeschiedene [5][Lucy Powell], frühere Mitstreiterin Jeremy Corbyns, die
Burnham nahesteht. Sie hat auch Unterstützer in der Regierung, darunter
Klimaminister Ed Miliband und Kulturministerin Lisa Nandy. Es sieht aus wie
das perfekte Anti-Starmer-Komplott.
Lucy Powell verkauft sich als Sprachrohr der Basis. Aber bei ihrer
Veranstaltung auf dem Parteitag füllt sich der Raum nur sehr langsam. Im
Publikum sind auffällig viele Labour-Mitglieder mit Pakistani- und
Bangladeschi-Hintergrund. In Stöckelschuhen mit Schlangenledermotiv und
glänzend lackierten Fingernägeln behauptet Powell mit starkem
Manchester-Akzent: „Ich kann die Brücke zwischen der Basis und der Führung
sein, ohne illoyal oder spaltend zu sein.“ Sie sei die Kandidatin gegen
Cliquenwirtschaft. Mehrfach wiederholt sie das alte Corbyn-Motto „Für die
Vielen, nicht die Wenigen!“
Mehrere Zuhörer konfrontieren sie jedoch damit, dass sie selbst während des
Parteitages von der Parteispitze einen anderen, verbesserten Ton
wahrnehmen. Darauf weist auch Powells Gegenkandidatin hin, die von Starmer
favorisierte Bildungsministerin [6][Bridget Phillipson].
Sie führt bei einer Nebenveranstaltung in geradezu enzyklopädischer
Detailliertheit und ohne Pause eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen Armut
und soziale Benachteiligung aus, die bereits laufen: neue Frühstückstafeln
für Kinder in 700 Schulen, 1.000 neue Kinderförderzentren („Best Start“)
bis 2028, viel mehr Unterstützung für neurodiverse Kinder.
Auch eine Garantie für 30 Stunden kostenlose Kinderbetreuung pro Woche
wurde im September ausgefahren, Umsetzung einer Ankündigung der
konservativen Vorgängerregierung. Es ist eindeutig, dass all dies für
Phillipson, die selber unter sehr ärmlichen Bedingungen aufgewachsen ist,
ein persönliches Anliegen ist.
Reale politische Veränderungen – damit will das Starmer-Lager die Kritiker
abhängen. Die Parteitagsauftritte von Regierungsmitgliedern setzen eins
drauf. Von der prophezeiten Schwäche keine Spur, im Gegenteil. Bei früheren
Parteitagen bejubelte Labour einfach sich selbst. Jetzt gibt es ungewohnt
harte Argumente, und das scheint anzukommen.
## Befreiter und selbstbewusster als früher
Die wegen ihrer Sparpolitik vielfach kritisierte Finanzministerin Rachel
Reeves wirkt deutlich befreiter und selbstbewusster als früher. Sie zählt
angebliche Errungenschaften auf: der [7][Bau des neuen Atomkraftwerkes
Sizewell C] für die „saubere“ Energiewende, die Rettung der gefährdeten
Stahl-, Schiffbau- und Autoindustrie, verbesserte Arbeitsabsicherung, mehr
Geld im nationalen Gesundheitssystem, mehr Sozialwohnungsbau,
Handelsabkommen mit den USA, ein europäisches Jugendaustauschprogramm.
Für „Labour-Werte, britische Werte“ stehe all das, ruft sie. Auch für
Reeves steht die Befreiung von Kindern aus der Armut im Mittelpunkt: So
verspricht sie eine Bibliothek in jeder Grundschule.
Als jemand ihre Rede mit Hinweisen auf die angebliche britische
Unterstützung des angeblichen israelischen Völkermords in Gaza stören will,
kontert sie das so gekonnt, dass sie stehenden Applaus erntet: „Ich
verstehe Ihr Anliegen. Wir haben Palästina anerkannt. Aber wir sind keine
Protestpartei mehr, sondern eine Regierungspartei!“
## Rechte Kritik an Innenministerin Shabana Mahmood
Der wichtigste einzelne Schritt gegen Kinderarmut gegen Großbritannien, da
sind sich nahezu alle Experten einig, wäre das Ende der [8][Begrenzung des
Kindergeldes auf zwei Kinder] selbst bei größeren Familien, eingeführt von
der konservativen Regierung von Theresa May 2017. Jedes neunte Kind im Land
ist davon betroffen. Bisher sträubt sich die Labour-Regierung, das
rückgängig zu machen, aus Kostengründen. Auf dem Parteitag signalisiert nun
die Regierung Bewegung in dieser Sache. Alle Augen richten sich nun auf den
nächsten Jahreshaushalt, den Reeves im Parlament am 26. November vorstellen
wird.
Im Fokus der Kritik an Labour von rechts steht die erst vor wenigen Wochen
ernannte neue Innenministerin [9][Shabana Mahmood]. Die Tochter
pakistanischer Einwanderer definiert sich vor der Partei als Patriotin,
deren Werte für ein Großbritannien als „Land der Offenheit, Toleranz und
Großzügigkeit“ stünden, gegen einen finsteren Ethnonationalismus, der
Menschen wie sie ausgrenzen wolle. Dass das Einwanderungssystem marode sei
und es an Sicherheit auf den Straßen mangele, sei das Erbe der letzten 14
Jahre der Konservativen.
Mahmood will das alles ändern und auch die Migrationspolitik verschärfen:
in Zukunft soll eine Einbürgerung erst nach zehn statt bisher fünf Jahren
Aufenthalt beantragt werden dürfen, und ein unbefristeter Aufenthaltstitel
soll davon abhängig sein, dass man sehr gut Englisch spricht, freiwillige
Arbeit leistet, keine Vorstrafen hat und keine sozialen Zuschüsse braucht.
## Reaktion auf Nigel Farage
Das alles klingt schon stark nach einer Reaktion auf Nigel Farage, der
zuvor gefordert hat, überhaupt keinen unbefristeten Aufenthalt mehr zu
gewähren. Ob man Farage als „Rassisten“ bezeichnen darf oder nicht, darüb…
scheint man sich bei Labour auch nicht einig zu sein. Burnham sagt, so weit
würde er nicht gehen. Mahmood findet hingegen, Farage sei noch viel
schlimmer.
Die Basis zeigt sich zufrieden. Joel McKavitt aus Blackpool, der 2024 mit
nur 12 Stimmen Vorsprung vor Reform UK einen Sitz im Gemeinderat für Labour
holte, setzt auf verbesserte Kommunikation: „Sollte die
Kindergeldbegrenzung auf nur zwei Kinder abgeschafft werden, wird es
helfen.“
Der 70 Jahre alte Nicky Wilson aus Glasgow, Vorsitzender der Gewerkschaft
der Grubenarbeiter, äußert sich positiv: „Wir haben nichts zu beanstanden�…
sagt er. „Seit Labour an der Regierung ist, haben pensionierte
Grubenarbeiter eine Rentenerhöhung von 32 Prozent erhalten.“
## Keine Ambitionen auf die Parteiführung
Rachel Onikosi, Kommunalrätin aus Lewisham in London, ist hochmotiviert:
„Wir müssen noch mehr in die Gemeinschaft gehen und an Türen klopfen, um
Versuchen der Desinformation entgegenzutreten.“
Mitten im Parteitag löscht Burnham selbst das mediale Feuer, das um ihn
herum entfacht worden ist. Auf einer Veranstaltung des Guardian erklärt er
am Montagnachmittag, er habe keine Ambitionen auf die Parteiführung, und
seine Kritik sei vollkommen überdreht dargestellt worden. Wie Powell betont
er bloß noch die Notwendigkeit, mit allen Flügeln der Partei im Austausch
zu bleiben. „Wir brauchen uns alle miteinander vereint, um den Kampf
aufnehmen zu können.“ Er meint den Kampf gegen Farage. Nicht gegen Starmer.
30 Sep 2025
## LINKS
[1] /Rechtsextreme-Massendemo-in-London/!6113631
[2] /Verbot-von-Palestine-Action/!6109010
[3] https://labour.org.uk/annual-conference/
[4] /Politisches-Chaos-in-UK/!6112203
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Lucy_Powell
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/Bridget_Phillipson
[7] /Atomkraftausbau-in-Grossbritannien/!5955092
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Benefit_cap
[9] https://en.wikipedia.org/wiki/Shabana_Mahmood
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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