| # taz.de -- Pflegeversicherung unter Druck: Kürzung ersten Grades | |
| > In der Pflegeversicherung fehlen Milliarden. Die Union schlägt die | |
| > Streichung des niedrigsten Pflegegrads vor. Das trifft vor allem die | |
| > Angehörigen. | |
| Bild: Pflege am Küchentisch: Entlastung gibt es oft nur in kleinsten Portionen | |
| Berlin taz | Seitdem durchgesickert ist, dass in Regierungskreisen darüber | |
| nachgedacht wird, Pflegegrad 1 ersatzlos zu streichen, winden sich die | |
| Verantwortlichen. CDU-Gesundheitsministerin Nina Warken wollte sich nicht | |
| festlegen lassen. [1][Die SPD hingegen verwahrte sich gegen die Kürzungen.] | |
| Es ist jedenfalls plausibel, wenn darüber nachgedacht werden würde: denn | |
| das Sozialgesetzbuch XI (SGB XI), in dessen Rahmen die Pflegegrade | |
| organisiert sind, ist seit seiner Einführung unterfinanziert und | |
| reformbedürftig. SGB XI wurde 1995 durch Norbert Blüm durchgesetzt, um | |
| Pflegebedürftige aus der Sozialhilfe herauszuhalten. Um damals den | |
| Koalitionspartner FDP zu überzeugen, opferte Blüm den Buß-und Bettag. | |
| Das SGB XI wird oft als [2][Soziale Pflegeversicherung] bezeichnet, das ist | |
| aber ein Missverständnis: es ist weder sozial noch im fachlichen eine | |
| [3][Pflegeversicherung]. Es geht in diesem Gesetz nicht um (fachliche) | |
| Pflege, sondern um die Standards einer Grundversorgung – also das bare | |
| Minimum. | |
| Und unsozial an SGB XI ist, dass individuelle Bedürfnisse auf Bedarfe | |
| heruntergestutzt und verbürokratisiert werden. Beispielsweise möchte eine | |
| pflegebedürftige Person mittags gerne eine Hochzeitsuppe essen – es geht | |
| nicht nur um die Nahrungsaufnahme, sondern auch um die Erinnerung, den | |
| Geschmack, all die biografischen Eigenheiten, die sich an so einer Vorliebe | |
| brechen. | |
| Nach dem SGB XI aber ist der Bedarf: Nahrungsaufnahme. Und wenn eine | |
| Hochzeitssuppe zu aufwendig ist, muss eben die Kartoffelsuppe reichen, wenn | |
| es nicht gleich Essen auf Rädern wird. | |
| Entsprechend muss die Individualität pflegebedürftiger Menschen von anderer | |
| Seite garantiert werden. Das sind in aller Regel pflegende Angehörige. „Das | |
| Gesetz ist so gebaut, dass die Hilfebedürftigkeit zuallererst von | |
| Angehörigen aufgefangen werden soll und muss“, sagte 2024 die | |
| Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler. „Der Grundgedanke war von Anfang | |
| an: Irgendeine Frau macht das schon.“ Entsprechend war die Soziale | |
| Pflegeversicherung von Anfang an in der Unterfinanzierung. | |
| ## Wer sind diese pflegenden Angehörigen | |
| Wer diese pflegenden Angehörigen sind, davon hat die Regierung nur ein | |
| vages Bild: Sie sind politisch derart vernachlässigt, dass sie nicht einmal | |
| gezählt werden. Gezählt werden nur die pflegebedürftigen Menschen: 4,9 | |
| Millionen wurden 2023 häuslich versorgt, das sind ungefähr 85 Prozent aller | |
| auf Pflege angewiesenen Personen. Im selben Jahr übernahmen bei 3,1 | |
| Millionen Pflegebedürftigen ausschließlich Angehörige die Versorgung. | |
| Sie bezahlen dafür einen hohen Preis. Eine Studie des Instituts der | |
| deutschen Wirtschaft zeigt Gehaltseinbußen von um die 17 Prozent im | |
| Vergleich zum Bevölkerungsschnitt. Zwar werden diese Einbußen (noch) durch | |
| Transferleistungen weitgehend aufgefangen, aber zum Preis der allgemeinen | |
| Lebenszufriedenheit: Die Studie zeigt auch, dass das Stresslevel enorm | |
| ansteigt. Das betrifft insbesondere Frauen: circa zwei Drittel pflegender | |
| Angehöriger sind weiblich. | |
| Pflegegrad 1 wurde 2017 eingeführt, auch und gerade, um eine leichte | |
| Entlastung für pflegende Angehörige zu gewährleisten. Er unterstützt | |
| Menschen, die noch nicht auf professionelle Pflege angewiesen sind, und | |
| folgt damit dem nominellen Ziel von SGB XI, so lange wie möglich | |
| Eigenständigkeit zu erhalten und zu fördern. Neben umfassenden Beratungen | |
| und Umbauten in der Wohnung gehören dazu 131 Euro Unterstützung. | |
| Das ist ohnehin wenig, aber nicht nichts: Es geht um solche essenziellen | |
| Dinge wie zweimal im Monat eine Putzhilfe finanzieren zu können; oder | |
| jemanden zu bezahlen, der die Einkäufe erledigt. Es geht auch um | |
| Sturzprophylaxe: darum, Oberschenkelhalsbrüche zu vermeiden, indem die | |
| Türschwelle zur Küche eingeebnet, indem die Dusche barrierefrei umgebaut | |
| wird. Ende 2024 waren den Angaben zufolge rund 863.000 Menschen im | |
| Pflegegrad 1 eingestuft. | |
| Aktuell klafft wieder einmal ein riesiges Loch in den Kassen der | |
| Pflegeversicherung: 2 Milliarden fehlen. Und das, obwohl zum 1. Januar 2025 | |
| sich der Beitragssatz auf 3,6 Prozent erhöhte (bei Kinderlosen auf 4,2). | |
| Erst 2023 waren die Beiträge angehoben worden, damals um 0,35 Prozent. Das | |
| liegt zum einen daran, dass die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich | |
| schneller steigt als vorhergesehen. Zum anderen aber auch, dass seit Jahren | |
| eine Reform von SGB XI verschleppt wird. | |
| ## Erhöhungen um kurzfristige Löcher zu stopfen | |
| Denn all diese Beitragserhöhungen waren nicht dazu gedacht, langfristig | |
| eine sichere Finanzierung der Sozialen Pflegeversicherung zu garantieren, | |
| sondern kurzfristig Löcher zu stopfen, um sich Zeit zu verschaffen für eine | |
| größere Reform. | |
| Allerdings hat bisher jede Koalition neue Ideen mitgebracht, wie eine | |
| solche Reform aussehen müsste, und mit jedem Regierungswechsel verschwanden | |
| die Kommissionsberichte und Reformentwürfe wieder in den Schubladen. Dass | |
| Bundesgesundheitsministerin Nina Warken jetzt den nächsten | |
| Expert*innenbericht abwarten will, zeigt den Stellenwert der Pflege – | |
| und insbesondere der häuslichen Pflege – deutlich an: es hätte in den | |
| vergangenen Jahren und Jahrzehnten genug Möglichkeiten gegeben, sich | |
| zumindest eine ungefähre Meinung zu bilden, insbesondere als | |
| Gesundheitsministerin. | |
| Die Marschrichtung der Union hat hingegen Generalsekretär Carsten Linnemann | |
| vorgegeben: die Beiträge sollen nicht weiter steigen, Lohnnebenkosten | |
| müssen gesenkt werden, alles andere scheint zweitrangig. „Der Wirtschaft | |
| die Vorfahrt geben“, hat Markus Söder das genannt. Alternativen zur | |
| Streichung des Pflegegrads 1 liegen schon lange vor: möglich wäre eine | |
| echte Pflegevollversicherung, die solidarisch finanziert wäre – eine | |
| Lösung, für die sich der Paritätische Gesamtverband starkmacht. | |
| Möglich wäre aber auch eine kommunale Lösung, wie sie in Dänemark mit | |
| Erfolg praktiziert wird. Möglich wäre auch eine praktische Ausweitung der | |
| Pflegeleistungen zur Entlastung der Angehörigen, zum Beispiel der | |
| Tagespflege, die aktuell in ländlichen Bereichen nur schwer verfügbar ist. | |
| All diese Modelle liegen seit Langem vor: sie passen aber nicht zur | |
| ideologischen Ausrichtung der CDU, die eine Politik der Entlastung | |
| ausschließlich für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen | |
| verfolgt. Eine mögliche Streichung des Pflegegrads 1 ist nur mehr eine | |
| weitere Zumutung für jene Menschen, die auf Solidarität angewiesen sind. | |
| 29 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /SPD-will-Pflegestufe-1-beibehalten/!6112661/ | |
| [2] /Drohender-Kollaps-der-Pflegeversicherung/!6038080 | |
| [3] /Pflegeversicherung-unter-Druck/!6041134 | |
| ## AUTOREN | |
| Frédéric Valin | |
| ## TAGS | |
| Pflege | |
| CDU/CSU | |
| Krankenkassen | |
| GNS | |
| Prekariat | |
| Heim | |
| GNS | |
| Sozialverband | |
| Bundesministerium für Gesundheit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ende der Boheme: Das ist Kunst. Das kann weg | |
| Der Kahlschlag in der Sozialpolitik trifft auf eine ohnehin verunsicherte | |
| Kreativszene. Nennenswerter Widerstand ist von ihr nicht zu erwarten. | |
| Pflegegrad 1 soll abgeschafft werden: Dann müssen (wieder) die Frauen ran | |
| Die Bundesregierung erwägt, den Pflegegrad 1 abzuschaffen. Damit will sie | |
| Kosten sparen. Es könnte am Ende aber teuer werden. | |
| Drohender Kollaps der Pflegeversicherung: Es liegt an der Demografie | |
| Um die Pflegeversicherung zu retten, sind steigende Beiträge | |
| unausweichlich. Nur so lässt sich die Betreuung im Alter, wie wir sie | |
| kennen, halten. | |
| Pflegeversicherung unter Druck: Notoperation im Pflegesystem | |
| Die demografische Entwicklung belastet die Sozialsysteme. Nun könnten die | |
| Beitragssätze für die Pflegeversicherung deutlicher steigen als erwartet. | |
| Beiträge für die Pflegeversicherung: Krankenkassen erwarten 2025 Anstieg | |
| Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, es drohen Finanzierungslücken. Der | |
| Gesundheitsminister hält eine Reform in dieser Wahlperiode aber für nicht | |
| machbar. |