# taz.de -- Missbrauch in der Bhagwan-Sekte: Die Opfer der befreiten Menschen | |
> Sarito Carroll lebte in Bhagwans Kommune in Oregon, die vor 40 Jahren in | |
> Chaos endete. Wie viele Jugendliche wurde sie dort missbraucht. | |
Bild: Der indische Guru und Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh 1984 neben ein… | |
San Anselmo taz | Zwei Paar Schuhe hält Sarito Carroll in den Händen – | |
welches soll sie anziehen? Für den Bummel durchs kalifornische San Anselmo | |
entscheidet sie sich für die eleganteren: „Ich will auf keinen Fall wie ein | |
Hippie aussehen!“ Die Autorin und Akupunkteurin ist aus Boulder für eine | |
Diskussionsveranstaltung am nächsten Tag in San Francisco eingeflogen. | |
Darin wird es um Osho gehen. Bekannt als Sektenführer Bhagwan – und für | |
eine Ideologie, die Menschen befreit hat und andere zerstört. Vor allem | |
ehemalige Kinder aus der noch immer aktiven Bewegung. | |
Sarito Carrolls Vater war ein Junkie aus New York; die alleinerziehende | |
Mutter Hippie. 1978 verschlug es die Suchende mit ihrer kleinen Tochter ins | |
indische Pune, in die Kommune von Bhagwan Shree Rajneesh. Tausende aus | |
aller Welt strömten zu dem Guru, in orange und später rot gekleidet. Die | |
meisten waren gutbürgerlich und gebildet, mehr als die Hälfte weiblich, | |
[1][ein Drittel Deutsche]. Die Sannyasins tanzten, meditierten, musizierten | |
und schufteten im Dauerrausch für ihren Meister. Der Mystiker und | |
Philosoph, der sich als kapitalistischer Rebell mit Rolls-Royce-Flotte | |
inszenierte, versprach ihnen göttliche Ekstase durch sexuelle Freiheit. | |
In Encounter-Workshops brüllten und prügelten seine Anhänger alles | |
Belastende aus sich heraus. Es gab [2][Psychokoller, Knochenbrüche, sogar | |
Vergewaltigungen]. Ziel war das Überwinden elterlicher Prägungen und | |
Moralvorstellungen. Sich ergeben, „surrender“, loslassen, ein neuer Mensch | |
ohne Scham, Ängste, Bindungen oder Eifersucht werden. Offene Beziehungen | |
waren die Norm. Junge Frauen ließen sich sterilisieren, denn Kinder wollte | |
Bhagwan keine. Sie würden die spirituelle Entwicklung behindern. Trotzdem | |
brachten einige seiner Anhänger ihren Nachwuchs mit. | |
„Bhagwan sagte immer, dass wir nicht unseren Eltern gehören, sondern der | |
Kommune,“ erzählt Carroll auf dem Weg ins Café. Ihre rostroten Locken | |
wippen, sie spricht schnell und präzise, wirkt gefasst. Bitterkeit oder Wut | |
sind dank jahrzehntelanger Therapie kaum noch spürbar. Carroll klingt | |
abgeklärt, als sie sagt: „Sie sollten uns aufgeben, um glücklicher zu | |
sein.“ Ihre Mutter sah sie im Aschram kaum noch. Die beiden wohnten | |
getrennt. Die Beziehung wurde damals dauerhaft zerrüttet. Im Meer der neuen | |
Menschen fühlte die Neunjährige sich einsam und verloren. Zunächst. | |
## Sexuelle Befreiung ohne Grenzen | |
Alle Jünger:innen erhielten bald nach der Ankunft in Pune neue indische | |
Namen. Aus der amerikanischen Jennifer Carroll wurde Ma Prem Sarito, was | |
„Fluß der Liebe“ bedeutet. Für sie hieß das, dass sie endlich dazugehör… | |
Das Foto der Sannyas-Initiation, bei der ihr der bärtige Guru die Hand | |
auflegt, ist das Titelbild ihrer Memoiren „[3][In the Shadow of | |
Enlightenment]“, im Schatten der Erleuchtung. Der Schatten, von dem hier | |
die Rede ist, beschreibt die Kehrseite einer Parallelwelt, in der „love and | |
light“ gepredigt wurde. In ihr galt es, immer strahlend positiv zu sein – | |
und vor allem kein Opfer. | |
Bhagwan predigte, dass man seiner eigenen „Energie“ folgen solle. Dem Drang | |
nach Sex stets nachzugeben und ihn auch vor Kindern auszuleben, damit sie | |
nicht verklemmt würden. „Unsere kulturelle Norm verschob sich“, sagt | |
Carroll und sucht sich in einem lebhaften Straßencafé einen Tisch im Freien | |
aus. „Wir waren desensibilisiert. Es gab keine Grenzen, niemand passte auf | |
uns auf.“ Die Aschramkinder lachten über die ungehemmten Erwachsenen oder | |
imitierten sie. Nichts konnte sie schocken. „Ich habe viele Erektionen | |
gesehen“, schreibt Carroll in ihrem Buch. Das schüchterne Mädchen ist zehn, | |
als es einen Mann mit der Hand sexuell befriedigt und dabei versucht, die | |
Übelkeit zu unterdrücken: „Ich wollte nicht, dass jemand merkt, dass ich | |
nicht so frei und locker war, wie es von uns erwartet wurde.“ | |
1981 zog der Sex- und Psychokult in die USA um, um Steuerproblemen mit der | |
indischen Regierung zu entkommen. Im Hinterland Oregons kauften die | |
geschäftstüchtigen Rajneesh-Jünger die verlassene Big Muddy Ranch, von der | |
aus die Weltherrschaft übernommen werden sollte. Um 260 Quadratkilometer | |
Wüste – im Winter von Schnee bedeckt, im Frühling mit Schlamm – in eine | |
blühende Oase zu verwandeln, brauchten die Utopisten Freiwillige. Eine neue | |
Pilgerwelle in weinrot begann: Arbeit als „worship“, als Anbetung und | |
Meditation, um die heilige Stadt Rajneeshpuram zu errichten. Sarito kam als | |
eine der ersten aus Pune an, ohne Eltern oder Vormund – für das, was sie | |
heute als Kinderarbeit bezeichnet. Der Landeswechsel war von oben | |
entschieden worden. Wieder war die Zwölfjährige einsam und fremd. Der | |
Schlafsaal, wo sie allein mit 14 Männern einquartiert wurde, hatte | |
Matratzen statt Betten und nur ein einziges Bad, sagt Carroll. Niemand | |
schloss ab, jeder war nackt. Dusche und Klo wurden von allen benutzt. | |
## Das jüngste Mädchen mit „Boyfriend“ | |
Das Mädchen versuchte, heimlich nachts zu duschen. Sie schämte sich dafür, | |
dass sie so prüde war und ihren Körper versteckte. Das war nicht „juicy“, | |
wie all die sinnlichen Frauen der Kommune. Vor dem Einschlafen hörte die | |
Pubertierende, wie die Männer um sie herum die Eroberungen des Tages | |
verglichen und auch ihre sprießenden Brüste und Schamhaare kommentierten. | |
„Das war alles normal für mich“, sagt Carroll. „Nur ich fühlte mich nic… | |
normal, denn ich hatte diese altmodische Vorstellung von reiner, | |
romantischer Liebe.“ | |
Im ersten Monat in den USA traf Sarito Carroll Milarepa, den Star der | |
Rajneesh Country Band, einer kommuneneigenen Musikgruppe. Jeden Abend | |
verließ der Amerikaner den Esssaal der Kommune mit einer anderen „Ma“. Er | |
spielte Eagles-Songs und lud die junge Sarito Carroll zur Pokerrunde ein. | |
Während er die Karten mit der einen Hand hielt, schob er wie | |
selbstverständlich die andere unter ihr T-Shirt auf ihre Brust. Sie | |
erstarrte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, denn keiner der | |
Anwesenden störte sich daran. Da sich das Szenario bald wiederholte, | |
glaubte Carroll: „Ich bin etwas Besonderes für ihn.“ Danach sehnte sie | |
sich. Nicht nach der Fummelei. | |
Milarepa war damals 29 Jahre alt und gehörte zu einer Gruppe von Männern, | |
die Entjungferungen als kompetitiven Sport sahen. Das erste Mal mit ihm in | |
seinem Trailer war schmerzhaft, sagt Carroll. Keine Spur der Ekstase, von | |
der alle ständig sprachen. Milarepa benutzte kein Kondom und verabschiedete | |
sich am nächsten Morgen knapp zu seiner 12-Stunden-Schicht. Die Jugendliche | |
war verstört und enttäuscht. Aber sie redete sich ein, dass sie doch | |
eigentlich stolz sein müsse: „Ich war das jüngste Mädchen auf der Ranch mit | |
einem Boyfriend. Das war eine Ehre.“ | |
Drei Tage später wurde sie zur Klinik der Kommune bestellt. Ihr und drei | |
anderen Minderjährigen sollten Diaphragma eingesetzt werden. Bis heute weiß | |
Carroll nicht, wer das veranlasst hatte. Keine der „Moms“, wie die | |
verantwortlichen mütterlichen Frauen hießen, hatte sie auf Milarepa | |
angesprochen. Geschweige denn jemals richtig aufgeklärt. „Aber jemand in | |
hoher Position wusste Bescheid.“ | |
Die Nächte mit Milarepa setzten sich fort. Sarito Carroll hielt es für eine | |
Beziehung, ihre heimliche große Liebe. Alle Gedanken drehten sich um den | |
ersten Lover. Auch wenn sie die Jüngste war, war sie nicht die einzige: | |
Carroll schätzt, dass 80 Prozent der rund 40 Jugendlichen auf der Ranch mit | |
Erwachsenen schliefen. Sie weiß von einem Mädchen, das vor dem 16. | |
Lebensjahr mit etwa 70 Männern Sex hatte. Eine andere mit 150. „Es war | |
Vergewaltigung von Minderjährigen“, stellt die 56-Jährige jetzt klar. | |
„Sexueller Kindesmissbrauch und Vergewaltigung.“ Erst ignoriert, später | |
vertuscht und geleugnet. | |
In die Schule ging Sarito Carroll kaum noch. Sie arbeitete erst in der | |
Großküche der Kommune und dann im Büro, im innersten Zirkel, unter Bhagwans | |
berüchtigter Sekretärin [4][Ma Anand Sheela]. Die toughe Inderin | |
verwandelte die provisorische Wüstenenklave in eine Stadt mit eigener | |
Fluglinie, Hotel und paramilitärischer Einheit. 4.000 Menschen lebten im | |
Schnitt in Rajneeshpuram, zum jährlichen „World Festival“ waren es um die | |
20.000. | |
Für die größenwahnsinnige Mission brauchte es große PR. Ein deutsches Model | |
in Bhagwans Schlepptau schlug Sarito Carroll vor, Fotos von sich machen zu | |
lassen. Damit kam das Vorzeigegirl aufs Cover der Rajneesh Times, der | |
Zeitung des Bhagwan-Kults. In roter Uniform flog sie als 14-jährige | |
Stewardess für Air Rajneesh. Mehr Männer sprachen sie an. Wer nachgab, | |
wuchs im Ansehen: „Je ‚befreiter‘ du warst, desto besser.“ Aber Sarito | |
Carroll war hoffnungslos in Milarepa verliebt, der auch mit anderen ins | |
Bett ging. „Über drei Jahre sicher mit mehreren hundert“, sagt Carroll beim | |
Lunch und versucht, die Blicke der älteren Frauen am Nachbartisch zu | |
ignorieren. Seine Kumpel verpassten ihm als Scherz den Spitznamen „rapist“ | |
(Vergewaltiger). Manche Jungen hätten ihn daher „Milaraper“ genannt. | |
## Auf Klubtour für den Meister | |
Im Eiscafé von Rajneeshpuram gab es jede Woche eine Teenie-Disco. Stets | |
dabei: die Männer und Frauen, die sexuell an Jugendlichen interessiert | |
waren. Eine der Partys endete als Orgie mit verbundenen Augen, so erinnert | |
sich Carroll, auch Milarepa sei involviert gewesen. Es folgte ein Anpfiff | |
von Bhagwans rechter Hand Sheela. Die strenge Oberbefehlshaberin war wütend | |
wegen des Lärms und Alkohols. Nicht wegen der sexuellen Übergriffe. | |
Um ihren Liebeskummer loszuwerden, wurde auch Sarito Carroll promiskuitiv. | |
Nicht aus Spaß am Sex, sondern weil sie jede Selbstachtung verloren hatte. | |
Ein Mann bekam sie rum, indem er jammerte, Sex mit ihr würde seinen | |
Rückenschmerzen helfen. Ein Absolvent der britischen Elite-Schule Eton, in | |
seinen Dreißigern, wurde ihr nächster Boyfriend – es war das selbe Spiel. | |
Jedes Mal fühlte sie sich benutzt, wenn das erotische Interesse an ihr nur | |
flüchtig war, alle lebten ja „im Moment“. Sarito Carrolls unterschwellige | |
Wut wuchs und damit auch die kognitive Dissonanz. Denn was sie stets hörte, | |
war: dass sie sich glücklich schätzen könne, nicht in der Welt draußen zu | |
leben, unter Unerleuchteten, sondern in Bhagwans Nähe. | |
Die Rajneesh-Bewegung breitete sich Anfang der 1980er Jahre in mehr als 30 | |
Ländern aus. Der europäische Hauptsitz war in Köln. In Deutschland | |
entstanden 43 Zentren mit 15 „Zorba the Buddha“-Restaurants und 13 | |
Discotheken, die eine halbe Million Besucher im ersten Jahr hatten. | |
Sarito Carroll sollte plötzlich wieder die USA verlassen. Fünf Monate lang | |
wurde sie durch Kommunen in Köln, München, Zürich und Freiburg geschleust, | |
wo sie hinter Disco-Tresen kellnerte. In Amsterdam musste sie bei der | |
Renovierung der Kommune in einem ehemaligen Gefängnis helfen und verletzte | |
sich dabei mit dem Presslufthammer den Rücken. | |
Heute vermutet sie, dass ein Grund für ihren unfreiwilligen | |
„Auslandsaustausch“ die Vertuschung des Missbrauchs an ihr war. Denn | |
während ihrer Abwesenheit ließen zwei „Moms“ eine geheime Liste derer | |
erstellen, die mit Minderjährigen intim waren. Es waren mehr als hundert | |
Männer und Frauen. Ihnen wurde lediglich nahegelegt, sich in Zukunft | |
diskreter zu verhalten, damit nichts an die Presse gelange. „Wenn | |
Journalisten auftauchten,“ erinnert sich Carroll, „dann spielten wir ihnen | |
immer vor, dass wir total happy sind und alle brav zur Schule gehen.“ | |
Auf der Ranch verschärfte sich die Lage derweil intern und extern. Als die | |
Aggression zwischen dem benachbarten Städtchen Antelope und den paranoiden | |
Ranch-Bewohnern eskalierte, griffen letztere zu immer radikaleren Methoden: | |
Um die Lokalwahlen zu ihren Gunsten zu beeinflussen, karrten die | |
Bhagwan-Jünger rund 3.000 Obdachlose aus umliegenden Städten heran und | |
verabreichten ihnen ohne ihr Wissen Psychopharmaka, um sie ruhig zu stellen | |
– getarnt als humanitäre Aktion. Nach der Stimmabgabe wurden diese Menschen | |
wieder ausgesetzt. Die Kampagne der Kommune gipfelte im größten | |
Bioterroranschlag der USA, bei dem über 700 Menschen in The Dalles mit | |
Salmonellen vergiftet wurden. | |
Das rote Sektenimperium kollabierte, als das FBI anrückte. Am 14. September | |
1985 floh Strippenzieherin Sheela nach Deutschland, wo sie festgenommen und | |
in die USA ausgeliefert wurde. Ende Oktober wurde auch der Pop-Guru | |
verhaftet. Die Kommune kam zum Stillstand. Die Außenwelt reagierte entsetzt | |
auf die Verbrechen im Namen einer neuen Religion. Doch für die jüngsten | |
Opfer interessierten sich die wenigsten. | |
Auch als das Drama von Oregon 2018 in der Netflix-Doku „Wild Wild Country“ | |
rekonstruiert wurde, sparten die Filmemacher das Schicksal der Osho-Kids | |
aus, obwohl die Fakten vorlagen: Eine 121 Seiten lange Untersuchung des | |
US-Justizministeriums stellte bereits 1983 fest, dass „Sex zwischen | |
Erwachsenen und Kindern an der Tagesordnung war“. Dennoch sagt Carroll: | |
„Die Serie war ein Wendepunkt für uns.“ Sie habe die sechs Folgen in zwei | |
Tagen verschlungen. „Wir wollten nicht länger unsichtbar bleiben.“ | |
Als sich die Kommune in Panik auflöste, wusste Sarito Carroll nicht, wohin. | |
Mit ihrer Mutter hatte sie vier Jahre lang kaum Kontakt gehabt. Ohne Geld | |
und Familie begann eine neue Odyssee für die nun 16-Jährige – mit brutalem | |
Erwachen, was ihre Ex-Lover anging: „Ich erkannte endlich die Wahrheit über | |
sie.“ Die Wahrheit über Bhagwan, seine Helfershelfer und deren Vertuschen | |
tat sich erst viel später auf. Der Sektenführer kehrte nach seiner | |
Abschiebung aus dem US-Gefängnis nach Indien zurück, wo er 1990 mit 58 | |
Jahren unter mysteriösen Umständen starb. Erst kurz vor seinem Tod nannte | |
er sich in Osho um. | |
Die Umstellung auf die kulturellen Normen der Außenwelt war hart. „Ich | |
fühlte mich wie ein Alien, der als Teil eines sozialen Experiments in die | |
Gesellschaft eingeführt wird,“ beschreibt Carroll diese Zeit in ihrem Buch. | |
Sie trug übergroße Pullis, um ihren Körper zu verstecken. Freundinnen von | |
der Ranch hielten sich mit Prostitution über Wasser – „manche bis heute“. | |
Die größte Hürde war ihr Bildungsmangel. | |
Sarito Carroll holte den Schulabschluss nach, um Literatur zu studieren. | |
Als sie im ersten College-Jahr „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood | |
las, fühlte sich die Not der sexuell ausgelieferten Handmaid verstörend | |
vertraut an. Seitdem wusste die Studentin, dass sie ihre Geschichte | |
erzählen musste. Aber bis sie sich vollends aus dem Schatten der | |
Vergangenheit wagte, dauerte es noch über dreißig Jahre. Rajneeshpuram war | |
inzwischen zur Geisterstadt geworden und verkauft. | |
In diesem Zeitraum verlor Carroll engste Freundinnen, die Ähnliches erlebt | |
hatten. Eine landete in der Psychiatrie und versuchte, sich das Leben zu | |
nehmen. Eine andere starb an einer Eileiterschwangerschaft, nachdem sie die | |
Sterilisation aus jungen Jahren in Indien hatte rückgängig machen lassen. | |
In der sogenannten zweiten Generation, wie bei anderen Sekten auch, gibt es | |
überdurchschnittlich viele Fälle von Suiziden, Depressionen, Krankheiten, | |
Drogensucht und Armut. Als einen „Pfad der Verwüstung“ bezeichnet Carroll | |
dieses Erbe der Bhagwan-Utopie. Sie spricht von Glück, dass sie überlebt | |
hat. | |
Mit ihrer Mutter war keine Vergangenheitsbewältigung möglich. An Milarepa | |
schickte sie einen Brief, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Trotz | |
Einschreiben kam keine Antwort. Er tourte weiterhin als „Oshos Musiker“ um | |
die Welt, ein Star der Szene. Schließlich appellierten Carroll und andere | |
Betroffene 2021 an die verbliebene Community, die weltweit auf über | |
Hunderttausend geschätzt wird. Sie nannten Namen, verlangten Aufklärung und | |
Entschädigung. Plötzlich meldete sich Milarepa per Video zu Wort und | |
postete eine „Entschuldigung an Sarito und die Osho-Sangha“, also die | |
Osho-Gemeinschaft. Für sein Opfer klangen seine Worte hohl und kamen zu | |
spät. „Es war vor allem PR, um seinen Ruf zu retten.“ | |
Manche aus der Elterngeneration reagierten betroffen auf die Berichte der | |
Missbrauchten. Doch die wenigsten sahen eine eigene Mitschuld, geschweige | |
denn die ihres längst verstorbenen Gurus. Ihr Denken folgte der alten | |
Ideologie: Wenn es dir schlecht geht, bist nur du selbst dafür | |
verantwortlich und musst stärker an dir arbeiten. „Dieses Gaslighting ist | |
zum Wahnsinnigwerden“, sagt Carroll. „Als Kinder wurden wir marginalisiert | |
– und jetzt wieder.“ Als sie das letzte Mal in Colorado auf Osho-Fans traf, | |
wurde sie wie eine Aussätzige geschnitten. Dennoch hält Carroll die meisten | |
für „warmherzige, idealistische Menschen“. Gerade deshalb tue die | |
Missachtung so weh. | |
Trotz des Leugnens und Verdrängens war die Flut der Enthüllungen nicht mehr | |
zu stoppen. Es folgten Medienberichte, auch über Rajneesh-Schulen in | |
England. Und dann als Antwort auf „Wild Wild Country“ im Jahr 2024 der | |
BAFTA-nominierte Dokumentarfilm „[5][Children of the Cult]“, an dem Sarito | |
Carroll mitwirkte. Regisseurin Maroesja Perizonius, auch ein ehemaliges | |
Kommunenkind, interviewte die 76-jährige Sheela, die heute in der Schweiz | |
lebt und noch immer ihre Unschuld beteuert. Täter werden vor laufender | |
Kamera konfrontiert, auch Milarepa – wieder ohne weitere Konsequenzen. Denn | |
seine Straftaten sind lange verjährt. Zuvor hatte er behauptet: „Es gab | |
kein Grooming oder Belästigung.“ | |
## Rückkehr auf die Bhagwan-Ranch | |
Die geschätzte Zahl der missbrauchten Kinder in der Bhagwan-Sekte geht in | |
die Hunderte, doch kein einziger Täter stand jemals vor Gericht. Eine | |
Anwaltskanzlei, die eine Sammelklage anstrebte, gab nach sechs Monaten | |
wieder auf. Die Osho International Foundation OIF in Zürich ist zuständig | |
für den intellektuellen Nachlass des Sektengründers, seine millionenfach | |
verkauften Bücher und den in ein [6][Meditationsressort] umgewandelten | |
früheren Ashram in Pune. Die Stiftung weist jede Verantwortung von sich. | |
„Es gibt niemanden bei Osho International, der eine organisatorische | |
Funktion in den erwähnten Objekten hatte, und daher wissen die | |
Mitarbeitenden nichts von diesen Schilderungen“, so ein OIF-Sprecher 2022 | |
gegenüber der [7][Sunday Times]. „Jede von uns sollte eine angemessene | |
Summe bekommen für all die Jahre an Therapie“, sagt Carroll und schiebt | |
ihren halb gegessenen Salat von sich. „Ich hätte mir von den Kosten ein | |
Haus kaufen können.“ Jetzt ist sie doch aufgewühlt. Sie schluckt, als sie | |
über ihre gescheiterten Beziehungen spricht, und warum sie nie ein Kind | |
bekommen wollte. „Ich hatte einfach zu viel Angst, selbst Alleinerziehende | |
zu werden. Weil ich es als so schrecklich erlebt habe.“ An Weihnachten | |
besuchte sie ihre Mutter, die jetzt in Portugal lebt – zum ersten Mal seit | |
sechs Jahren. „Es lief ganz gut, aber sie will nicht darüber sprechen. Eine | |
richtige Entschuldigung habe ich nie bekommen.“ | |
Warum hat sie trotz der negativen Assoziation ihren Sannyas-Namen behalten? | |
„Als ich mein Buch schrieb, war das ein Schutzmechanismus“, antwortet sie. | |
„Die, die mich angreifen wollen, gehen nur auf Sarito los.“ Jennifer steht | |
nach wie vor in ihrem Pass. Carroll kann sich dahinter verstecken und | |
anonym sein. Es macht ihr auch nichts aus, wieder rot zu tragen. „Ich hole | |
mir die Farbe zurück. Sie gehört nicht Osho. Und sie steht mir!“ Fast hätte | |
sie für den anstehenden Event ein rotes Top in den Koffer gepackt. | |
Der zweite Eistee ist ausgetrunken. Carrolls Handy surrt: Die Nachricht | |
einer Freundin von damals, die bei ihrer Lesung morgen im Publikum sein | |
wird. Eine der wenigen, die sich nach dem Enthüllungsbuch nicht weggeduckt | |
haben. Seit der gemeinsamen Flucht von der Ranch vor 40 Jahren haben sie | |
sich nicht mehr gesehen, aber die Erinnerung ist noch frisch: „Ich saß | |
hinten im Auto mit meinen wenigen Sachen, unter Schock.“ | |
In diesem Frühjahr kehrte Carroll erstmals für ein [8][Fernsehinterview] an | |
den Schicksalsort zurück, der jetzt ein christliches Sommercamp ist. Wieder | |
war sie überwältigt, aber diesmal von der Schönheit der Landschaft, der | |
Weite und Ruhe – „ohne die tausend Menschen von damals“. Der Rundgang dur… | |
die alten Gebäude war heilsam. Nichts triggerte sie mehr, sagt sie. „Es war | |
ein Schlussstrich.“ Am Krishnamurtisee, den die Kommunarden einst als | |
Wasserreservoir angelegt hatten, vollzog sie ein spontanes Ritual. Sie | |
schmiss Steine ins Wasser. Dann kamen die Tränen. | |
10 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Bhagwans-sexuelle-Revolution/!5053374 | |
[2] /Zu-Besuch-im-Osho-Resort-in-Indien/!5473491 | |
[3] https://www.saritocarroll.com/ | |
[4] https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/wiedergeburt-von-ma-anand-sheela_… | |
[5] https://www.theguardian.com/film/2024/oct/02/children-of-the-cult-review-os… | |
[6] /Zu-Besuch-im-Osho-Resort-in-Indien/!5473491 | |
[7] https://www.thetimes.com/uk/crime/article/abused-in-osho-the-middle-class-s… | |
[8] https://www.youtube.com/watch?v=KWRwsRlPB8o | |
## AUTOREN | |
Anke Richter | |
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Kurz vor seiner Abreise aus der Bhagwan-Kommune in den USA hat Rudolf Bahro | |
1983 in einem Gespräch für die taz erklärt, warum er vier Wochen dort | |
zugebracht hat. |