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# taz.de -- Missbrauch in der Bhagwan-Sekte: Die Opfer der befreiten Menschen
> Sarito Carroll lebte in Bhagwans Kommune in Oregon, die vor 40 Jahren in
> Chaos endete. Wie viele Jugendliche wurde sie dort missbraucht.
Bild: Der indische Guru und Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh 1984 neben ein…
San Anselmo taz | Zwei Paar Schuhe hält Sarito Carroll in den Händen –
welches soll sie anziehen? Für den Bummel durchs kalifornische San Anselmo
entscheidet sie sich für die eleganteren: „Ich will auf keinen Fall wie ein
Hippie aussehen!“ Die Autorin und Akupunkteurin ist aus Boulder für eine
Diskussionsveranstaltung am nächsten Tag in San Francisco eingeflogen.
Darin wird es um Osho gehen. Bekannt als Sektenführer Bhagwan – und für
eine Ideologie, die Menschen befreit hat und andere zerstört. Vor allem
ehemalige Kinder aus der noch immer aktiven Bewegung.
Sarito Carrolls Vater war ein Junkie aus New York; die alleinerziehende
Mutter Hippie. 1978 verschlug es die Suchende mit ihrer kleinen Tochter ins
indische Pune, in die Kommune von Bhagwan Shree Rajneesh. Tausende aus
aller Welt strömten zu dem Guru, in orange und später rot gekleidet. Die
meisten waren gutbürgerlich und gebildet, mehr als die Hälfte weiblich,
[1][ein Drittel Deutsche]. Die Sannyasins tanzten, meditierten, musizierten
und schufteten im Dauerrausch für ihren Meister. Der Mystiker und
Philosoph, der sich als kapitalistischer Rebell mit Rolls-Royce-Flotte
inszenierte, versprach ihnen göttliche Ekstase durch sexuelle Freiheit.
In Encounter-Workshops brüllten und prügelten seine Anhänger alles
Belastende aus sich heraus. Es gab [2][Psychokoller, Knochenbrüche, sogar
Vergewaltigungen]. Ziel war das Überwinden elterlicher Prägungen und
Moralvorstellungen. Sich ergeben, „surrender“, loslassen, ein neuer Mensch
ohne Scham, Ängste, Bindungen oder Eifersucht werden. Offene Beziehungen
waren die Norm. Junge Frauen ließen sich sterilisieren, denn Kinder wollte
Bhagwan keine. Sie würden die spirituelle Entwicklung behindern. Trotzdem
brachten einige seiner Anhänger ihren Nachwuchs mit.
„Bhagwan sagte immer, dass wir nicht unseren Eltern gehören, sondern der
Kommune,“ erzählt Carroll auf dem Weg ins Café. Ihre rostroten Locken
wippen, sie spricht schnell und präzise, wirkt gefasst. Bitterkeit oder Wut
sind dank jahrzehntelanger Therapie kaum noch spürbar. Carroll klingt
abgeklärt, als sie sagt: „Sie sollten uns aufgeben, um glücklicher zu
sein.“ Ihre Mutter sah sie im Aschram kaum noch. Die beiden wohnten
getrennt. Die Beziehung wurde damals dauerhaft zerrüttet. Im Meer der neuen
Menschen fühlte die Neunjährige sich einsam und verloren. Zunächst.
## Sexuelle Befreiung ohne Grenzen
Alle Jünger:innen erhielten bald nach der Ankunft in Pune neue indische
Namen. Aus der amerikanischen Jennifer Carroll wurde Ma Prem Sarito, was
„Fluß der Liebe“ bedeutet. Für sie hieß das, dass sie endlich dazugehör…
Das Foto der Sannyas-Initiation, bei der ihr der bärtige Guru die Hand
auflegt, ist das Titelbild ihrer Memoiren „[3][In the Shadow of
Enlightenment]“, im Schatten der Erleuchtung. Der Schatten, von dem hier
die Rede ist, beschreibt die Kehrseite einer Parallelwelt, in der „love and
light“ gepredigt wurde. In ihr galt es, immer strahlend positiv zu sein –
und vor allem kein Opfer.
Bhagwan predigte, dass man seiner eigenen „Energie“ folgen solle. Dem Drang
nach Sex stets nachzugeben und ihn auch vor Kindern auszuleben, damit sie
nicht verklemmt würden. „Unsere kulturelle Norm verschob sich“, sagt
Carroll und sucht sich in einem lebhaften Straßencafé einen Tisch im Freien
aus. „Wir waren desensibilisiert. Es gab keine Grenzen, niemand passte auf
uns auf.“ Die Aschramkinder lachten über die ungehemmten Erwachsenen oder
imitierten sie. Nichts konnte sie schocken. „Ich habe viele Erektionen
gesehen“, schreibt Carroll in ihrem Buch. Das schüchterne Mädchen ist zehn,
als es einen Mann mit der Hand sexuell befriedigt und dabei versucht, die
Übelkeit zu unterdrücken: „Ich wollte nicht, dass jemand merkt, dass ich
nicht so frei und locker war, wie es von uns erwartet wurde.“
1981 zog der Sex- und Psychokult in die USA um, um Steuerproblemen mit der
indischen Regierung zu entkommen. Im Hinterland Oregons kauften die
geschäftstüchtigen Rajneesh-Jünger die verlassene Big Muddy Ranch, von der
aus die Weltherrschaft übernommen werden sollte. Um 260 Quadratkilometer
Wüste – im Winter von Schnee bedeckt, im Frühling mit Schlamm – in eine
blühende Oase zu verwandeln, brauchten die Utopisten Freiwillige. Eine neue
Pilgerwelle in weinrot begann: Arbeit als „worship“, als Anbetung und
Meditation, um die heilige Stadt Rajneeshpuram zu errichten. Sarito kam als
eine der ersten aus Pune an, ohne Eltern oder Vormund – für das, was sie
heute als Kinderarbeit bezeichnet. Der Landeswechsel war von oben
entschieden worden. Wieder war die Zwölfjährige einsam und fremd. Der
Schlafsaal, wo sie allein mit 14 Männern einquartiert wurde, hatte
Matratzen statt Betten und nur ein einziges Bad, sagt Carroll. Niemand
schloss ab, jeder war nackt. Dusche und Klo wurden von allen benutzt.
## Das jüngste Mädchen mit „Boyfriend“
Das Mädchen versuchte, heimlich nachts zu duschen. Sie schämte sich dafür,
dass sie so prüde war und ihren Körper versteckte. Das war nicht „juicy“,
wie all die sinnlichen Frauen der Kommune. Vor dem Einschlafen hörte die
Pubertierende, wie die Männer um sie herum die Eroberungen des Tages
verglichen und auch ihre sprießenden Brüste und Schamhaare kommentierten.
„Das war alles normal für mich“, sagt Carroll. „Nur ich fühlte mich nic…
normal, denn ich hatte diese altmodische Vorstellung von reiner,
romantischer Liebe.“
Im ersten Monat in den USA traf Sarito Carroll Milarepa, den Star der
Rajneesh Country Band, einer kommuneneigenen Musikgruppe. Jeden Abend
verließ der Amerikaner den Esssaal der Kommune mit einer anderen „Ma“. Er
spielte Eagles-Songs und lud die junge Sarito Carroll zur Pokerrunde ein.
Während er die Karten mit der einen Hand hielt, schob er wie
selbstverständlich die andere unter ihr T-Shirt auf ihre Brust. Sie
erstarrte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, denn keiner der
Anwesenden störte sich daran. Da sich das Szenario bald wiederholte,
glaubte Carroll: „Ich bin etwas Besonderes für ihn.“ Danach sehnte sie
sich. Nicht nach der Fummelei.
Milarepa war damals 29 Jahre alt und gehörte zu einer Gruppe von Männern,
die Entjungferungen als kompetitiven Sport sahen. Das erste Mal mit ihm in
seinem Trailer war schmerzhaft, sagt Carroll. Keine Spur der Ekstase, von
der alle ständig sprachen. Milarepa benutzte kein Kondom und verabschiedete
sich am nächsten Morgen knapp zu seiner 12-Stunden-Schicht. Die Jugendliche
war verstört und enttäuscht. Aber sie redete sich ein, dass sie doch
eigentlich stolz sein müsse: „Ich war das jüngste Mädchen auf der Ranch mit
einem Boyfriend. Das war eine Ehre.“
Drei Tage später wurde sie zur Klinik der Kommune bestellt. Ihr und drei
anderen Minderjährigen sollten Diaphragma eingesetzt werden. Bis heute weiß
Carroll nicht, wer das veranlasst hatte. Keine der „Moms“, wie die
verantwortlichen mütterlichen Frauen hießen, hatte sie auf Milarepa
angesprochen. Geschweige denn jemals richtig aufgeklärt. „Aber jemand in
hoher Position wusste Bescheid.“
Die Nächte mit Milarepa setzten sich fort. Sarito Carroll hielt es für eine
Beziehung, ihre heimliche große Liebe. Alle Gedanken drehten sich um den
ersten Lover. Auch wenn sie die Jüngste war, war sie nicht die einzige:
Carroll schätzt, dass 80 Prozent der rund 40 Jugendlichen auf der Ranch mit
Erwachsenen schliefen. Sie weiß von einem Mädchen, das vor dem 16.
Lebensjahr mit etwa 70 Männern Sex hatte. Eine andere mit 150. „Es war
Vergewaltigung von Minderjährigen“, stellt die 56-Jährige jetzt klar.
„Sexueller Kindesmissbrauch und Vergewaltigung.“ Erst ignoriert, später
vertuscht und geleugnet.
In die Schule ging Sarito Carroll kaum noch. Sie arbeitete erst in der
Großküche der Kommune und dann im Büro, im innersten Zirkel, unter Bhagwans
berüchtigter Sekretärin [4][Ma Anand Sheela]. Die toughe Inderin
verwandelte die provisorische Wüstenenklave in eine Stadt mit eigener
Fluglinie, Hotel und paramilitärischer Einheit. 4.000 Menschen lebten im
Schnitt in Rajneeshpuram, zum jährlichen „World Festival“ waren es um die
20.000.
Für die größenwahnsinnige Mission brauchte es große PR. Ein deutsches Model
in Bhagwans Schlepptau schlug Sarito Carroll vor, Fotos von sich machen zu
lassen. Damit kam das Vorzeigegirl aufs Cover der Rajneesh Times, der
Zeitung des Bhagwan-Kults. In roter Uniform flog sie als 14-jährige
Stewardess für Air Rajneesh. Mehr Männer sprachen sie an. Wer nachgab,
wuchs im Ansehen: „Je ‚befreiter‘ du warst, desto besser.“ Aber Sarito
Carroll war hoffnungslos in Milarepa verliebt, der auch mit anderen ins
Bett ging. „Über drei Jahre sicher mit mehreren hundert“, sagt Carroll beim
Lunch und versucht, die Blicke der älteren Frauen am Nachbartisch zu
ignorieren. Seine Kumpel verpassten ihm als Scherz den Spitznamen „rapist“
(Vergewaltiger). Manche Jungen hätten ihn daher „Milaraper“ genannt.
## Auf Klubtour für den Meister
Im Eiscafé von Rajneeshpuram gab es jede Woche eine Teenie-Disco. Stets
dabei: die Männer und Frauen, die sexuell an Jugendlichen interessiert
waren. Eine der Partys endete als Orgie mit verbundenen Augen, so erinnert
sich Carroll, auch Milarepa sei involviert gewesen. Es folgte ein Anpfiff
von Bhagwans rechter Hand Sheela. Die strenge Oberbefehlshaberin war wütend
wegen des Lärms und Alkohols. Nicht wegen der sexuellen Übergriffe.
Um ihren Liebeskummer loszuwerden, wurde auch Sarito Carroll promiskuitiv.
Nicht aus Spaß am Sex, sondern weil sie jede Selbstachtung verloren hatte.
Ein Mann bekam sie rum, indem er jammerte, Sex mit ihr würde seinen
Rückenschmerzen helfen. Ein Absolvent der britischen Elite-Schule Eton, in
seinen Dreißigern, wurde ihr nächster Boyfriend – es war das selbe Spiel.
Jedes Mal fühlte sie sich benutzt, wenn das erotische Interesse an ihr nur
flüchtig war, alle lebten ja „im Moment“. Sarito Carrolls unterschwellige
Wut wuchs und damit auch die kognitive Dissonanz. Denn was sie stets hörte,
war: dass sie sich glücklich schätzen könne, nicht in der Welt draußen zu
leben, unter Unerleuchteten, sondern in Bhagwans Nähe.
Die Rajneesh-Bewegung breitete sich Anfang der 1980er Jahre in mehr als 30
Ländern aus. Der europäische Hauptsitz war in Köln. In Deutschland
entstanden 43 Zentren mit 15 „Zorba the Buddha“-Restaurants und 13
Discotheken, die eine halbe Million Besucher im ersten Jahr hatten.
Sarito Carroll sollte plötzlich wieder die USA verlassen. Fünf Monate lang
wurde sie durch Kommunen in Köln, München, Zürich und Freiburg geschleust,
wo sie hinter Disco-Tresen kellnerte. In Amsterdam musste sie bei der
Renovierung der Kommune in einem ehemaligen Gefängnis helfen und verletzte
sich dabei mit dem Presslufthammer den Rücken.
Heute vermutet sie, dass ein Grund für ihren unfreiwilligen
„Auslandsaustausch“ die Vertuschung des Missbrauchs an ihr war. Denn
während ihrer Abwesenheit ließen zwei „Moms“ eine geheime Liste derer
erstellen, die mit Minderjährigen intim waren. Es waren mehr als hundert
Männer und Frauen. Ihnen wurde lediglich nahegelegt, sich in Zukunft
diskreter zu verhalten, damit nichts an die Presse gelange. „Wenn
Journalisten auftauchten,“ erinnert sich Carroll, „dann spielten wir ihnen
immer vor, dass wir total happy sind und alle brav zur Schule gehen.“
Auf der Ranch verschärfte sich die Lage derweil intern und extern. Als die
Aggression zwischen dem benachbarten Städtchen Antelope und den paranoiden
Ranch-Bewohnern eskalierte, griffen letztere zu immer radikaleren Methoden:
Um die Lokalwahlen zu ihren Gunsten zu beeinflussen, karrten die
Bhagwan-Jünger rund 3.000 Obdachlose aus umliegenden Städten heran und
verabreichten ihnen ohne ihr Wissen Psychopharmaka, um sie ruhig zu stellen
– getarnt als humanitäre Aktion. Nach der Stimmabgabe wurden diese Menschen
wieder ausgesetzt. Die Kampagne der Kommune gipfelte im größten
Bioterroranschlag der USA, bei dem über 700 Menschen in The Dalles mit
Salmonellen vergiftet wurden.
Das rote Sektenimperium kollabierte, als das FBI anrückte. Am 14. September
1985 floh Strippenzieherin Sheela nach Deutschland, wo sie festgenommen und
in die USA ausgeliefert wurde. Ende Oktober wurde auch der Pop-Guru
verhaftet. Die Kommune kam zum Stillstand. Die Außenwelt reagierte entsetzt
auf die Verbrechen im Namen einer neuen Religion. Doch für die jüngsten
Opfer interessierten sich die wenigsten.
Auch als das Drama von Oregon 2018 in der Netflix-Doku „Wild Wild Country“
rekonstruiert wurde, sparten die Filmemacher das Schicksal der Osho-Kids
aus, obwohl die Fakten vorlagen: Eine 121 Seiten lange Untersuchung des
US-Justizministeriums stellte bereits 1983 fest, dass „Sex zwischen
Erwachsenen und Kindern an der Tagesordnung war“. Dennoch sagt Carroll:
„Die Serie war ein Wendepunkt für uns.“ Sie habe die sechs Folgen in zwei
Tagen verschlungen. „Wir wollten nicht länger unsichtbar bleiben.“
Als sich die Kommune in Panik auflöste, wusste Sarito Carroll nicht, wohin.
Mit ihrer Mutter hatte sie vier Jahre lang kaum Kontakt gehabt. Ohne Geld
und Familie begann eine neue Odyssee für die nun 16-Jährige – mit brutalem
Erwachen, was ihre Ex-Lover anging: „Ich erkannte endlich die Wahrheit über
sie.“ Die Wahrheit über Bhagwan, seine Helfershelfer und deren Vertuschen
tat sich erst viel später auf. Der Sektenführer kehrte nach seiner
Abschiebung aus dem US-Gefängnis nach Indien zurück, wo er 1990 mit 58
Jahren unter mysteriösen Umständen starb. Erst kurz vor seinem Tod nannte
er sich in Osho um.
Die Umstellung auf die kulturellen Normen der Außenwelt war hart. „Ich
fühlte mich wie ein Alien, der als Teil eines sozialen Experiments in die
Gesellschaft eingeführt wird,“ beschreibt Carroll diese Zeit in ihrem Buch.
Sie trug übergroße Pullis, um ihren Körper zu verstecken. Freundinnen von
der Ranch hielten sich mit Prostitution über Wasser – „manche bis heute“.
Die größte Hürde war ihr Bildungsmangel.
Sarito Carroll holte den Schulabschluss nach, um Literatur zu studieren.
Als sie im ersten College-Jahr „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood
las, fühlte sich die Not der sexuell ausgelieferten Handmaid verstörend
vertraut an. Seitdem wusste die Studentin, dass sie ihre Geschichte
erzählen musste. Aber bis sie sich vollends aus dem Schatten der
Vergangenheit wagte, dauerte es noch über dreißig Jahre. Rajneeshpuram war
inzwischen zur Geisterstadt geworden und verkauft.
In diesem Zeitraum verlor Carroll engste Freundinnen, die Ähnliches erlebt
hatten. Eine landete in der Psychiatrie und versuchte, sich das Leben zu
nehmen. Eine andere starb an einer Eileiterschwangerschaft, nachdem sie die
Sterilisation aus jungen Jahren in Indien hatte rückgängig machen lassen.
In der sogenannten zweiten Generation, wie bei anderen Sekten auch, gibt es
überdurchschnittlich viele Fälle von Suiziden, Depressionen, Krankheiten,
Drogensucht und Armut. Als einen „Pfad der Verwüstung“ bezeichnet Carroll
dieses Erbe der Bhagwan-Utopie. Sie spricht von Glück, dass sie überlebt
hat.
Mit ihrer Mutter war keine Vergangenheitsbewältigung möglich. An Milarepa
schickte sie einen Brief, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Trotz
Einschreiben kam keine Antwort. Er tourte weiterhin als „Oshos Musiker“ um
die Welt, ein Star der Szene. Schließlich appellierten Carroll und andere
Betroffene 2021 an die verbliebene Community, die weltweit auf über
Hunderttausend geschätzt wird. Sie nannten Namen, verlangten Aufklärung und
Entschädigung. Plötzlich meldete sich Milarepa per Video zu Wort und
postete eine „Entschuldigung an Sarito und die Osho-Sangha“, also die
Osho-Gemeinschaft. Für sein Opfer klangen seine Worte hohl und kamen zu
spät. „Es war vor allem PR, um seinen Ruf zu retten.“
Manche aus der Elterngeneration reagierten betroffen auf die Berichte der
Missbrauchten. Doch die wenigsten sahen eine eigene Mitschuld, geschweige
denn die ihres längst verstorbenen Gurus. Ihr Denken folgte der alten
Ideologie: Wenn es dir schlecht geht, bist nur du selbst dafür
verantwortlich und musst stärker an dir arbeiten. „Dieses Gaslighting ist
zum Wahnsinnigwerden“, sagt Carroll. „Als Kinder wurden wir marginalisiert
– und jetzt wieder.“ Als sie das letzte Mal in Colorado auf Osho-Fans traf,
wurde sie wie eine Aussätzige geschnitten. Dennoch hält Carroll die meisten
für „warmherzige, idealistische Menschen“. Gerade deshalb tue die
Missachtung so weh.
Trotz des Leugnens und Verdrängens war die Flut der Enthüllungen nicht mehr
zu stoppen. Es folgten Medienberichte, auch über Rajneesh-Schulen in
England. Und dann als Antwort auf „Wild Wild Country“ im Jahr 2024 der
BAFTA-nominierte Dokumentarfilm „[5][Children of the Cult]“, an dem Sarito
Carroll mitwirkte. Regisseurin Maroesja Perizonius, auch ein ehemaliges
Kommunenkind, interviewte die 76-jährige Sheela, die heute in der Schweiz
lebt und noch immer ihre Unschuld beteuert. Täter werden vor laufender
Kamera konfrontiert, auch Milarepa – wieder ohne weitere Konsequenzen. Denn
seine Straftaten sind lange verjährt. Zuvor hatte er behauptet: „Es gab
kein Grooming oder Belästigung.“
## Rückkehr auf die Bhagwan-Ranch
Die geschätzte Zahl der missbrauchten Kinder in der Bhagwan-Sekte geht in
die Hunderte, doch kein einziger Täter stand jemals vor Gericht. Eine
Anwaltskanzlei, die eine Sammelklage anstrebte, gab nach sechs Monaten
wieder auf. Die Osho International Foundation OIF in Zürich ist zuständig
für den intellektuellen Nachlass des Sektengründers, seine millionenfach
verkauften Bücher und den in ein [6][Meditationsressort] umgewandelten
früheren Ashram in Pune. Die Stiftung weist jede Verantwortung von sich.
„Es gibt niemanden bei Osho International, der eine organisatorische
Funktion in den erwähnten Objekten hatte, und daher wissen die
Mitarbeitenden nichts von diesen Schilderungen“, so ein OIF-Sprecher 2022
gegenüber der [7][Sunday Times]. „Jede von uns sollte eine angemessene
Summe bekommen für all die Jahre an Therapie“, sagt Carroll und schiebt
ihren halb gegessenen Salat von sich. „Ich hätte mir von den Kosten ein
Haus kaufen können.“ Jetzt ist sie doch aufgewühlt. Sie schluckt, als sie
über ihre gescheiterten Beziehungen spricht, und warum sie nie ein Kind
bekommen wollte. „Ich hatte einfach zu viel Angst, selbst Alleinerziehende
zu werden. Weil ich es als so schrecklich erlebt habe.“ An Weihnachten
besuchte sie ihre Mutter, die jetzt in Portugal lebt – zum ersten Mal seit
sechs Jahren. „Es lief ganz gut, aber sie will nicht darüber sprechen. Eine
richtige Entschuldigung habe ich nie bekommen.“
Warum hat sie trotz der negativen Assoziation ihren Sannyas-Namen behalten?
„Als ich mein Buch schrieb, war das ein Schutzmechanismus“, antwortet sie.
„Die, die mich angreifen wollen, gehen nur auf Sarito los.“ Jennifer steht
nach wie vor in ihrem Pass. Carroll kann sich dahinter verstecken und
anonym sein. Es macht ihr auch nichts aus, wieder rot zu tragen. „Ich hole
mir die Farbe zurück. Sie gehört nicht Osho. Und sie steht mir!“ Fast hätte
sie für den anstehenden Event ein rotes Top in den Koffer gepackt.
Der zweite Eistee ist ausgetrunken. Carrolls Handy surrt: Die Nachricht
einer Freundin von damals, die bei ihrer Lesung morgen im Publikum sein
wird. Eine der wenigen, die sich nach dem Enthüllungsbuch nicht weggeduckt
haben. Seit der gemeinsamen Flucht von der Ranch vor 40 Jahren haben sie
sich nicht mehr gesehen, aber die Erinnerung ist noch frisch: „Ich saß
hinten im Auto mit meinen wenigen Sachen, unter Schock.“
In diesem Frühjahr kehrte Carroll erstmals für ein [8][Fernsehinterview] an
den Schicksalsort zurück, der jetzt ein christliches Sommercamp ist. Wieder
war sie überwältigt, aber diesmal von der Schönheit der Landschaft, der
Weite und Ruhe – „ohne die tausend Menschen von damals“. Der Rundgang dur…
die alten Gebäude war heilsam. Nichts triggerte sie mehr, sagt sie. „Es war
ein Schlussstrich.“ Am Krishnamurtisee, den die Kommunarden einst als
Wasserreservoir angelegt hatten, vollzog sie ein spontanes Ritual. Sie
schmiss Steine ins Wasser. Dann kamen die Tränen.
10 Sep 2025
## LINKS
[1] /Bhagwans-sexuelle-Revolution/!5053374
[2] /Zu-Besuch-im-Osho-Resort-in-Indien/!5473491
[3] https://www.saritocarroll.com/
[4] https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/wiedergeburt-von-ma-anand-sheela_…
[5] https://www.theguardian.com/film/2024/oct/02/children-of-the-cult-review-os…
[6] /Zu-Besuch-im-Osho-Resort-in-Indien/!5473491
[7] https://www.thetimes.com/uk/crime/article/abused-in-osho-the-middle-class-s…
[8] https://www.youtube.com/watch?v=KWRwsRlPB8o
## AUTOREN
Anke Richter
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Interview mit Rudolf Bahro, taz vom 29.8 1981: In Amerika gibt es keine Kathedr…
Kurz vor seiner Abreise aus der Bhagwan-Kommune in den USA hat Rudolf Bahro
1983 in einem Gespräch für die taz erklärt, warum er vier Wochen dort
zugebracht hat.
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