| # taz.de -- Hausbesuch in Bochum: Die Alleinunterhalterin | |
| > Einst spielte Esther Münch Theater auf der Straße, mittlerweile füllt sie | |
| > als straßenkluge Putzfrau Waltraud „Walli“ Ehlert große Säle. | |
| Bild: Pailletten, Federn und Lametta: Münch tritt selten in schlichten Outfits… | |
| Ob sie Humor erklären könne? Esther Münch muss nicht lange überlegen: | |
| „Humor ist wie Essen. Was der eine gut findet, kann der andere nicht | |
| leiden.“ | |
| Draußen: In die Jahre gekommene Einfamilienhäuser säumen die Straße in | |
| Bochum-Dahlhausen. Manche sind aus rotem Klinker, andere mit grauem | |
| Schiefer verkleidet. Statt eines Kirchturms ragt im Hintergrund ein | |
| backsteinerner Industriekamin in die Höhe. Viel Grün wächst entlang der | |
| Straßen, nicht akkurat geschnitten sondern wild. Eine Gedenktafel erinnert | |
| an den Kohleabbau, der in dieser Ecke schon im 18. Jahrhundert begann. Im | |
| Hof des türkischen Kulturzentrums ganz in der Nähe wurde der Eingang zu | |
| einem historischen Stollen wieder freigelegt. | |
| Drinnen: Einst war das Haus, in dem Esther Münch und ihr Partner wohnen, | |
| mit sechs sehr kleinen Werkswohnungen ausgestattet. Je zwei auf jeder der | |
| nur 45 Quadratmeter großen Etagen, erbaut vom Schamottsteinproduzenten | |
| [1][Carlos Otto]. Heute sind Wände zwischen den Wohnungen herausgerissen, | |
| die Balken freigelegt. Im kleinen Wohnzimmer liegen Kissen auf dem Boden. | |
| Tagsüber ruhen sich die drei Windhunde und der Windhundmischling darauf | |
| aus. Abends schauen sie mit Münch und ihrem Partner die Nachrichten. Die | |
| Möbel im Esszimmer seien aus ihrem Geburtsjahr 1959, erzählt Münch. Dazu | |
| gibt es viele Bücher, viele CDs, und ein paar Souvenirs wie die mit | |
| Petroleum bestückte Grubenlampe, die an die Bergbauvergangenheit ihrer | |
| Vorfahren erinnern. | |
| Der Pott: Münch ist in Bochum geboren, hat ihr Leben lang dort gelebt. Die | |
| Verbundenheit mit dem Pott ist ihr Herzensangelegenheit. Und | |
| Zungenangelegenheit dazu. Sie beherrscht den Slang, vornehm „Regiolekt“, | |
| perfekt. Und sie spricht ihn gern und oft. Fängt sie erst einmal an, ist | |
| sie nicht zu stoppen, schon das Reden allein ist Performance. Und erst die | |
| Bildsprache, die sie gebraucht. „Dass wir eine Rolle rückwärts machen in | |
| Sachen Emanzipation, da krieg' ich Stehhaare.“ „Die katholische Kirche, das | |
| ist schnittfester Schaum.“ „Kinder brauchen Leitplanken, sonst sind sie als | |
| Erwachsene Tamagotchis.“ | |
| Verlaufsform: Als Germanistin hat sie dem Ruhrpottlerischen auch von der | |
| Sprachgeschichte her nachgespürt. Und klärt gern über die Verlaufsform auf, | |
| die es im Deutschen eigentlich gar nicht gibt. Im Pott kamen Menschen aus | |
| vielen Regionen der Welt zusammen, Verbkonjugation auf Deutsch fiel einigen | |
| schwer. So kam es, dass sich auf die Frage, „Was machst du?“, im Regiolekt | |
| Antworten mit folgender Grammatik durchsetzten: „Ich bin an Arbeiten/an | |
| Kochen/an Essen.“ Daraus wurde über die Zeit am statt an. Dass das heute | |
| als gesamtdeutsche Alltagssprache gilt, könnte Münch stolz machen, aber sie | |
| sagt: „Da bin ich am Schweißflecken kriegen.“ | |
| Herkunft: Münchs Vorfahren wanderten einst aus vielen Himmelsrichtungen ins | |
| Ruhrgebiet ein, um im Bergbau oder den Stahlschmieden zu arbeiten. | |
| Mütterlicherseits aus den Masuren und Pommern, väterlicherseits aus | |
| Oberfranken und Hessen. Ihre beiden Großväter waren Schmiede. Keine, die | |
| Pferden Hufeisen aufschlagen, sondern Stahlschmiede. Die machten etwa | |
| Radsätze und Stahlreifen für Eisenbahnen. Auch ihr Vater war Hammerschmied. | |
| Und Fliesenleger. Und später Polizist. Die Mutter Sekretärin. „Lass mich | |
| arbeiten, du wirst es gar nicht merken“, soll sie zu ihrem Mann gesagt | |
| haben. Soll heißen: Die Mutter arbeitete und schmiss den Haushalt wie | |
| gewohnt. Die Kinderversorgung oblag ihr ohnehin. | |
| Kindheit: Als Esther Münch zur Welt kam, sei die Familie Kopf gestanden. | |
| „Ein Mädchen!“ Zur Welt geholt von der Großmutter, die Hebamme war. Fünf | |
| Generationen lang waren in der Linie des Vaters keine Mädchen in die | |
| Familie geboren worden. „Mein Vater drehte durch vor Glück.“ Münch sei als | |
| Kind nicht zu stoppen gewesen, hatte ununterbrochen irgendwelche Einfälle, | |
| redete pausenlos. „Ich war Klassenclown, wie alle Kinder, die allen zu viel | |
| sind“, sagt sie. Das Abitur schafft sie trotzdem. „Heute würde man mir | |
| irgendeine Diagnose verpassen.“ ADHS beispielsweise. Als sie über 30 war, | |
| bekam sie dann tatsächlich eine Diagnose: Sie ist hochsensibel. „Ich kann | |
| die Stimmungen der anderen auch im Dunkeln wahrnehmen.“ | |
| Theater: Nach dem Abitur studiert sie Germanistik und Geschichte. Auf | |
| Lehramt. Lehrerin wird sie jedoch nie. Dafür Mutter, doch die Beziehung zum | |
| Vater platzt schnell. Sie ist von nun an alleinerziehend, arbeitet halbtags | |
| in einer sozialen Einrichtung mit Jugendlichen und macht Straßentheater. | |
| Damit verdient sie sich ein paar Mark dazu. „Ich habe mich ausprobiert auf | |
| der Straße.“ Wie? „Ich konnte ein Stuhl sein. Ich konnte ein Staubsauger | |
| sein. Ich konnte alles sein. Ich bin Leuten auch hinterhergelaufen. Haben | |
| die sich umgedreht, habe ich sie angelächelt.“ Und nach einer Pause: „Das | |
| anstrengende kleine Mädchen, das ich war, findet sich darin wieder.“ Sie | |
| beginnt, nebenbei an der Uni Bochum Improvisationstheater zu studieren und | |
| findet nach und nach als Unterhalterin ihren Weg auf die Bühne. | |
| Alter Ego: Reden kann sie. Singen übrigens auch. Quer durch alle Genres. | |
| Bevor sie das Theater für sich entdeckt, ist sie 15 Jahre lang | |
| semiprofessionelle Sängerin in diversen Bands. Und eine Message hat sie | |
| zudem. Die Ungerechtigkeiten in der Welt regen sie sehr auf. Sie findet, | |
| man müsse was tun dagegen. Was ihr damals auf der Bühne allerdings fehlt, | |
| war eine Figur, der sie ihre Worte in den Mund legen kann. Es dauert, bis | |
| sie ihr Alter Ego findet. Es ist eine Putzfrau. Sie heißt Waltraud Ehlert, | |
| alias Walli. | |
| Die Schnauze: Auch Walli redet gern und viel. Straßenklug räsoniert sie | |
| über den Missbrauchsskandal in den Kirchen. Die Geldverteilung in der Welt. | |
| Flüchtlinge und Ausgrenzung. Sie hat was zum Backlash in Sachen | |
| Emanzipation zu sagen, zum verantwortungslosen Umgang mit der Umwelt, zu KI | |
| und darüber, dass Zwischenmenschlichkeit ein Auslaufmodell ist. Die | |
| Einfachheit, mit der Walli all das erklärt, ist die Pointe. „Putzfrauen | |
| führen ein Schattendasein. Dabei bekommen sie sehr genau mit, wie es in der | |
| Welt zugeht. Sie sehen sehr viel mehr, als denen lieb ist, bei denen sie | |
| putzen.“ Münch war selbst eine Weile bei Putzfirmen angestellt, „um ein | |
| authentisches Gefühl dafür zu bekommen“, sagt sie. | |
| Kabarett: Seit dreißig Jahren spielt [2][Esther Münch] diese Walli und lebt | |
| von der Alleinunterhaltung. 20 Soloprogramme hat sie geschrieben. Im Grunde | |
| sind es Lehrstücke, in denen sie sorgfältig durchrecherchierte | |
| Ungerechtigkeiten vorträgt, gut verpackt in Slapstick, Schlagfertigkeit und | |
| Witz. Auf diese Weise predigt sie nicht nur zu den Bekehrten. Daneben ist | |
| sie Musikerin, hat eine Radiokolumne und führt auf Bürgertreffs als Walli | |
| kritische Interviews mit Lokalpolitikern und -politikerinnen. Bei den Omas | |
| gegen Rechts ist sie auch und während der Coronazeit hat sie 900 kurze | |
| Walli-Sequenzen aufgenommen, in denen sie erklärt, wie es in der Welt | |
| zugeht. „[3][Wallipedia]“ heißt das Programm. „Ich habe es gemacht, um | |
| selber den Kopf über Wasser zu halten“, erzählt sie. „Wenn aber die | |
| Stimmung am Boden ist, koche ich.“ Im Sommer am liebsten Marmelade, im | |
| Winter Tartes. „Zur Not auch nachts.“ | |
| Selbstzweifel: Trotzdem, einmal hat selbst Kochen nicht geholfen. „Im | |
| vergangenen Jahr hat mich der Lebensmut verlassen“. In ihrer Traurigkeit | |
| schrieb Münch Gedichte, die sie bald als Buch herausgeben wird. „Sichtbar“, | |
| lautet der Titel. Wörter gegen die Auflösung / Wörter gegen die Einsamkeit | |
| / Wörter für die Fürsorge / Wörter, um zu bleiben. „Solange ich Wörter | |
| habe, bleibe ich“, sagt Esther Münch. Und die Walli in ihr sagt: „Solang | |
| ich dich die Stange halt, bleibt et hell in dein Leben.“ | |
| 25 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bergbaumuseum.de/fileadmin/forschung/zeitschriften/der-anschnit… | |
| [2] https://www.esther-muench.de/startseite | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=LWs9t7IsnoE | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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