Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ausstellung „Vulture“ in Berlin: Kunst wie perfekte Kadaver
> Antwort auf dringliche Fragen der Gegenwart: Der Berliner Projektraum
> Scherben zeigt Werke von Sigmar Polke, Dylan Spasky und Mickael Marman.
Bild: Ausstellungsansicht „Vulture“, im Hintergrund zu sehen ist Dylan Spas…
Berlin taz | Es musste ja so kommen. Ausgerechnet in einer Nische,
versteckt zwischen Mülltonnen in einer modrigen Passage auf der Leipziger
Straße, musste mir begegnen, was ich in Berlins überkuratiertem und von
seiner behaupteten Wirkmacht betrunkenen Ausstellungsbetrieb nur noch
selten finde: wirkliche, echte Gegenwartskunst. Das heißt, Kunst, die einen
Riss ins Zeit-Raum-Kontinuum zieht und damit totale Gegenwart schafft – ein
greller Blitz, zack, boing, zisch, und schon ist es da, das Neue.
Und jetzt kommt’s, der Laden auf der Leipziger, in dem die Kunst so kickt,
dass es Zeit und Raum zerlegt, wo der Blitz quasi eingeschlagen hat, heißt
passend wie einfach: Scherben. In dieser Nische, die den Namen
[1][Scherben] trägt, stand ich also und fragte mich, was ich mich bei jeder
wirklich echten Gegenwartskunst fragen muss: Was ist Gegenwart eigentlich?
Eine Antwort darauf habe ich immer noch nicht gefunden. Dafür kann ich
erzählen, wie es dazu kam, dass mich diese Frage schlagartig überfiel.
Da ist also dieser Raum, Scherben, mit seinen verspiegelten Fenstern, den
ausgelegten Pressetexten in nüchterner Courier-Schrift, und das Wichtigste,
die Ausstellung selbst, „Vulture“. Und Vulture, der Geier, funktioniert
eigentlich sehr gut als Metapher, um die Spannung einzufangen, die diese
Ausstellung beherrscht:
Die in drei Ecken verteilten Kunstwerke – Fotografien von Sigmar Polke,
Collagen von Mickael Marman und Skulpturen von Dylan Spasky – geben, etwas
vulgär gesagt, perfekte Kadaver ab. In ihrer materiellen Rohheit sind sie
abstoßend und anziehend zugleich, über ihnen zieht lauernd der Geier seine
Kreise.
## Grausame Endlosschleife
Für Dylan Spaskys Schwamm-Skulpturen trifft dieses Bild besonders zu. Das
lebensgroße Bambi-Reh, was mal Dekor war, jetzt aber ohne Plastikhülle fast
nackt und ausgeliefert wirkt, genauso der gehäutete Teddybär oder die
Delphin-bedruckte Trinkflasche am Boden, die das immer gleiche Wasser aus
dem Becken um sie herum erst aufsaugt und dann wieder ausspuckt – eine
grausame Endlosschleife.
Alles Spielerische an diesen Objekten ist pervertiert. Sie haschen in ihrer
schrillen Trash-Ästhetik zwar weiter nach unserer Aufmerksamkeit – lassen
uns geiern –, aber nur bis die Falle zuschnappt, unsere Aufmerksamkeit in
der Obszönität ihres Anblicks erstarrt oder sich in sinnlosen
Kreislaufbewegungen totläuft. Und ist das nicht unsere Gegenwart? Der
Orange Man? Tiktok? Lohnarbeit? Weltflucht?
Mickael Marmans Malereien funktionieren ähnlich, die collagierten
Zeitungsschlagzeilen krallen nach unserer Aufmerksamkeit, verblassen aber
in einer wüsten, abstrakten Farblandschaft, führen ins Nirvana. Und dann
ist da noch [2][Sigmar Polke] – eigentlich ein Gegenwartskünstler avant la
lettre – und seine druckerschwarzen, magisch beiläufigen
Negativ-Fotografien aus den 1970ern.
Wie der Schatten einer nebulösen Vergangenheit legen sie sich über den Rest
des Raums, eine Kontinuitätslinie zwischen diesem Gestern und dem Heute
lässt sich allerdings nicht ziehen. Das schale Gegenwartsgefühl in Spaskys
und Marmans Arbeiten bleibt ohne klärenden Kontext, Polkes Präsenz lässt es
ausschließlich plastischer wirken.
Auf meine Frage, was die Gegenwart eigentlich ist, werde ich hier also
keine Antwort bekommen – und das ist auch gut so. Wenn ich aber Dylan
Spaskys fragiles, pissgelbes Schwamm-Bambi sehe, weiß ich zumindest:
[3][Der Lack ist ab]. Die Gegenwart wird sich ihren Weg schon bahnen. Für
einen Moment. In einer Nische, die Scherben heißt. Und ist das nicht das
Beste, was wirklich, [4][echter Gegenwartskunst in Berlin gerade passieren
kann?]
28 Aug 2025
## LINKS
[1] /Die-Kunst-der-Woche/!6036911
[2] /Nachruf-auf-den-Maler-Sigmar-Polke/!5141140
[3] /Ausstellung-von-Ull-Hohn/!6076375
[4] /Kuratorengruppe-ueber-Off-Szene-in-Berlin/!6080631
## AUTOREN
Jonathan Guggenberger
## TAGS
Berlin Ausstellung
Ausstellung
Gegenwart
Skulptur
Spreepark
Zeitgenössische Malerei
Kunst
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung im Berliner Spreepark: Der Pollen ist politisch
Tagträumen bis zum Untergang: In der Ausstellung „Doom Snoozers“ sind
Menschen nicht mehr die mächtigste Spezies. Aber wer dann?
Die Malerei von Simin Jalilian: Mit einem feinen Nerv für politische Stimmungen
Simin Jalilian kam 2016 aus dem Iran nach Deutschland. Ihre expressive
Malerei zeigt die Beobachtungen einer Künstlerin zwischen Integration und
Abschiebung.
Queerer Maler Navot Miller: Ist das dieser Künstler von Instagram?
Mit seiner „New Queer Intimists“-Malerei begeistert der im Westjordanland
aufgewachsene Navot Miller das Internet. Was macht seinen Reiz aus?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.