| # taz.de -- In zwei Tagen von Wuppertal nach Berlin: Deutschland mit dem Rad er… | |
| > An einem Wochenende passiert unser Autor die westfälische Riviera, den | |
| > Brocken und ein Jagdrevier Honeckers. Dabei lernt er viel über sein | |
| > Heimatland. | |
| Bild: Brücken über und Radwege neben Flüssen: Es gibt viel zu sehen unterwegs | |
| Weiter, immer nur weiter. Die schönste Form [1][des Fahrradfahrens] ist für | |
| mich das Überwinden großer Distanzen. Irgendwo ganz anders anzukommen als | |
| dort, wo man gestartet ist, nur dank eigener Muskelkraft. Solche Touren | |
| sind für mich mehr als nur eine sportliche Herausforderung. Sie sind eine | |
| Erfahrung, bei der Körper, Landschaft und Kultur zu einer Einheit | |
| verschmelzen. Danach ist man erschöpft, doch die Erlebnisse wirken noch | |
| Wochen nach. | |
| Am Wochenende der Sommersonnenwende bin ich erneut aufgebrochen, und diese | |
| Reise liegt mir besonders am Herzen: von meiner Heimatstadt Wuppertal bis | |
| zum Brandenburger Tor mit [2][einem Abstecher auf den Brocken]. An einem | |
| einzigen Wochenende. | |
| Selbst für mich als geübten Freizeitsportler ist das eine Reise, die ans | |
| Limit geht. 18 Stunden im Sattel – das ist keine Kleinigkeit. Es ist eine | |
| Lektion in Demut, Ausdauer und Resilienz, die zudem akribische Planung | |
| erfordert. Schon Tage vorher schaue ich auf die Wetter-App – Wind, Sonne, | |
| alles muss optimal sein, wenn ich es bis kurz vor Sonnenuntergang auf den | |
| Brocken schaffen will. Wenn man in meiner Fitnessklasse unterwegs ist, | |
| braucht man dafür einen der längsten Tage des Jahres und muss um 3 Uhr | |
| morgens losfahren. | |
| Aber genau das macht es aus: der Start ins Dunkle hinein, sanft gleitend | |
| über die Wuppertaler Nordbahntrasse, diesen Vorzeigeradweg, der durch | |
| Tunnel und über Viadukte hoch über der Stadt führt. Um diese Uhrzeit fliegt | |
| einem schon mal eine Fledermaus mitten ins Gesicht. Dann hinauf zum Kreuz | |
| Wuppertal-Nord und abwärts zur Ruhr der Morgendämmerung entgegen. | |
| ## Vergessene Hansestädte im Brüder-Grimm-Land | |
| Man spürt den Tag von Anfang an. Die Deutsche Alleenstraße, dann das | |
| Ruhrtal, das langsam ins Sauerland übergeht – und schließlich der Möhnesee, | |
| der um diese Uhrzeit, 7 Uhr morgens, fast wie eine Art westfälische Riviera | |
| wirkt. Tiefblau funkelt das Wasser und alles ist noch so ruhig, dass man | |
| die leichten Schaumkronen auf dem See zu hören scheint. | |
| Dann Rüthen, früher eine bedeutende Hansestadt, wie ein Schild verrät, | |
| heute ein idyllischer Flecken mit Stadttor. Warburg, ebenfalls eine alte | |
| Hansestadt, immer noch beeindruckend. Trendelburg, überragt von einem Turm, | |
| an dem ein Zopf herunterbaumelt: der Rapunzelturm. Brüder-Grimm-Land. Wer | |
| mit dem Rad durch Deutschland fährt, merkt schnell: Zwischen NRW und Berlin | |
| liegt mehr als Bielefeld, Hannover und Wolfsburg. | |
| Mittagspause am alten Wasserschloss Wüllmersen. Frische Forelle und Brot | |
| aus der Region, zum Nachtisch selbst gemachtes Eis. Nebenan zelten | |
| Jugendgruppen, im Nachbartrakt finden Yogakurse statt. Am Rand grasen | |
| Strauße. So idyllisch ist also Nordhessen. Und der Reinhardswald, | |
| bundesweit in den Schlagzeilen wegen eines geplanten Windparks, ist | |
| tatsächlich eine wunderschöne Naturoase. | |
| Wenn da nicht immer der Blick auf die Uhr wäre: Pausen kann ich mir kaum | |
| erlauben. Weiter, immer nur weiter. Ein letzter Anstieg, dann rolle ich | |
| hinab zur Weser. Die größeren Flüsse strukturieren meine Reise, drei von | |
| ihnen werde ich auf dem Wasser queren: Weser, Saale und Elbe. Die | |
| Fährnutzung erfordert logistisches Geschick, ich muss die Fahrpläne stets | |
| im Blick haben. An der Weser ist zum Beispiel der direkte Weg mit der | |
| Märchenfähre gesperrt, denn der Fährmann ist seit einem Jahr im Ruhestand. | |
| Also geht es ein paar Kilometer weiter übers Wasser, nach Wahmbeck. | |
| Über 200 Kilometer habe ich nun geschafft, doch noch immer sind es über 100 | |
| bis zum Brocken. Der folgende Abschnitt ist ein bisschen wie eine | |
| schwierige Phase im Leben. Ich fahre auf einer vielbefahrenen Straße, spüre | |
| oft Gegenwind und leichte Anstiege – nichts, was einen wirklich antreibt. | |
| Mentale Stärke ist gefragt. | |
| Doch dann taucht irgendwann die Burg Adelebsen auf, ein erstes Zeichen, | |
| dass es trotz aller Strapazen weitergeht. Bald sehe ich die Burg Plesse am | |
| Horizont, und nach einem weiteren steilen Anstieg liegt plötzlich | |
| märchenhaft der Harz vor mir. Jetzt weiß ich, dass ich ankommen werde. | |
| ## Am gefühlten Mittelpunkt Deutschlands | |
| Bad Lauterberg, Braunlage, Elend, Schierke, Brocken: Wenn man es wirklich | |
| bis ganz nach oben geschafft hat – bei vier Versuchen ist mir das erst | |
| einmal gelungen – dann fühlt sich das unwirklich an, gerade zur | |
| Sommersonnenwende. Der Blick ist irre weit, links Niedersachsen, rechts | |
| Sachsen-Anhalt und ein paar Kilometer weiter im Süden: Thüringen. Ganz so, | |
| als hätte ich in diesem Augenblick den Mittelpunkt Deutschlands entdeckt. | |
| Ich passiere Burgen, Wälder, Hunderte mittelständische Betriebe, viele | |
| wirken hochmodern. Landmarken wie die Diskothek „For You“, ein seit 1968 | |
| quasi unveränderter Club. Ich spüre, wie sich die Orte langsam wandeln: der | |
| aufgeräumte Stil des Sauerlands, die Fachwerkhäuser des Weserberglands, | |
| jedes mit einem biblischen Spruch, die nüchterne Architektur des | |
| katholischen Eichsfelds, die kantigen Dörfer Sachsen-Anhalts und am Ende | |
| das etwas lieblichere Brandenburg. | |
| Überhaupt spüre ich am nächsten Tag, nach einer Übernachtung in Schierke, | |
| dass ich eine einstige Grenze passiert habe. Die Städte strahlen mehr | |
| historische Substanz aus, aber ich sehe auch viel Leerstand und viel | |
| weniger Wirtschaftsleben als im Westen. Dafür ehemalige LPGs, die heute | |
| versuchen, profitable Agrarbetriebe zu sein, und Kleingartenanlagen, deren | |
| verblichene Schriftzüge Namen wie „Neue Zeit“ oder „Gute Hoffnung“ tra… | |
| Zwischenstopp in Seeland. Schöner Name – große Pläne. Nach dem Ende des | |
| Kohletagebaus in der Region sollte rund um den Concordiasee eine schöne | |
| neue Siedlung entstehen, mit Uferpromenade, Strandcafé und kleinem | |
| Jachthafen. Alles gebaut in den 1990er Jahren, mit dieser typisch | |
| postmodernen Blühende-Landschaften-Architektur, die mich ein wenig an die | |
| Expo 2000 erinnert. | |
| Doch 2009 stürzte ein Teil der Böschung ein, drei Menschen starben. Der See | |
| war lange gesperrt. So steht man hier, schaut über das glitzernde Wasser | |
| zum Harz und weiß nicht, welches Gefühl überwiegt: leichte Trostlosigkeit | |
| oder die Vorstellung, was hier vielleicht eines Tages doch noch entstehen | |
| kann – ein voller Strand und Segelboote bis zum Horizont. | |
| Kurz darauf Brumby. Die Kirche ist von Weitem ausgeschildert und dient als | |
| Autobahnkirche. Umso größer die Freude, wenn man die Pforte des kleinen | |
| Parks öffnet und plötzlich große Ruhe spürt. Ein jahrhundertealter Park, | |
| darin eine Barockkirche – völlig unerwartet in ihrer Pracht, wunderbar kühl | |
| an einem Sommertag. „Wir beten für den Frieden“, steht dort auf Deutsch und | |
| Ukrainisch. Erst jetzt entdecke ich den Pfarrer, der in einem Liegestuhl | |
| sitzt. „Wohin fahren Sie?“ – „Berlin.“ – „Das ist noch sehr weit,… | |
| Ihnen bei dem Wetter empfehlen, eher nachts zu fahren“, sagt er lakonisch. | |
| Im Garten sind Stuhlreihen aufgebaut. Eine Mitarbeiterin gehe in Rente, | |
| sagt er. „Zapfen Sie sich gerne ein Glas Bier, wenn Sie mögen“, sagt der | |
| Pfarrer zum Abschied. Ich bleibe beim Wasser. | |
| ## Eine Landschaft, die bis Russland reicht | |
| Weiter geht es über die Elbe, wie schon bei Weser und Saale auf einer | |
| Gierseilfähre, die sich lautlos über den Strom schiebt. Vielleicht etwas zu | |
| lautlos für die Fährmänner, denn heute läuft laut Radio. Auf der Saale | |
| hörte ich Sido, auf der Elbe gratuliert Radio Brocken Prinz William zum 43. | |
| Geburtstag. Am anderen Ufer verliert die Landschaft ihre Kleinteiligkeit. | |
| Die Felder werden größer, die Abstände zwischen den Dörfern auch, die | |
| Kiefernwälder werden mehr, eine Landschaft, die von hier bis nach Russland | |
| reicht. Es gibt wohl wenige Orte, wo man so sehr spürt, wie Deutschland | |
| Ost- und Westeuropa verbindet, wie an dieser Stelle. | |
| Ich passiere Zerbst, wo das Denkmal Katharinas der Großen – Geborene von | |
| Anhalt-Zerbst – streng nach Osten blickt. Ein russischer Spender hat das | |
| jugendliche Bildnis der Zarin einst finanziert, sie ist auf Hochglanz | |
| poliert. Irgendjemand scheint die Skulptur regelmäßig zu pflegen. Der Hohe | |
| Fläming wird durchquert, Brandenburgs höchste Hügel – einst Jagdrevier von | |
| Erich Honecker, heute eine liebliche Landschaft, perfekt zum Rennradfahren | |
| auf breiten, kaum befahrenen Alleen. Gut, dass die Strecke immer schattiger | |
| wird. | |
| Von hier bis Berlin: fast nur Fahrradstraßen. Und dann irgendwann geht es | |
| nur noch geradeaus. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine so lange | |
| innerstädtische Achse wie zwischen dem Scholzplatz am Olympiastadion und | |
| dem Berliner Schloss. Exakt zwölf Kilometer schnurgerade. Vermutlich eine | |
| Sache der Preußen, die diese Straßen vor rund 200 Jahren anlegten. Später | |
| wurde die Achse von Albert Speer als Teil des Fiebertraums Welthauptstadt | |
| ausgebaut, seitdem hat sie sich ihrer Gesamtheit naturgemäß als | |
| Sehenswürdigkeit disqualifiziert. | |
| Und so rolle ich über eine Straße, die mit der Größe der Champs Élysées | |
| mithalten kann, sich aber in ihrem Understatement für mich nicht viel | |
| lauter anfühlt als all die Dorfstraßen, die ich auf meiner Tour passiert | |
| habe. Bis ich dann plötzlich, einfach so, durchs Brandenburger Tor fahre. | |
| Durchs Ziel. Und während ich kurz darauf bei Gözleme Kräfte sammele, habe | |
| ich das Gefühl, Deutschland besser kennengelernt zu haben, als ich es in | |
| Museen, Reiseführern und Geschichtsbüchern je könnte. | |
| 16 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| David Fleschen | |
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