# taz.de -- Opferzahlen im Gaza-Krieg: Wie viele Tote gibt es in Gaza? | |
> Wie viele Menschen im Gaza-Krieg gestorben sind, ist umstritten. Studien | |
> legen nahe: Selbst die palästinensischen Zahlen sind wohl viel zu | |
> niedrig. | |
Bild: Dialyse-Patient im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt am 1. Juli. Mangels… | |
Berlin taz | Täglich veröffentlicht [1][der arabischsprachige | |
Telegram-Kanal des palästinensischen Gesundheitsministeriums im | |
Gazastreifen] die aktuellen Opferzahlen „infolge der israelischen | |
Aggression“. Die von ihnen verschickten Angaben, aufgeteilt in die Toten | |
der letzten 24 Stunden und die Gesamtzahl seit dem 7. Oktober, bezifferten | |
die Opfer Stand 12. August auf „61.599 Märtyrer und 154.088 Verletzte“. | |
Seit mehreren Wochen detailliert das Ministerium auch die Zahl der Toten | |
und Verletzten an den von der Gaza Humanitarian Foundation betriebenen | |
„Essensverteilzentren“ – diese betrug Stand 12. August jeweils 1.838 und | |
13.409. | |
Das Gesundheitsministerium im Gazastreifen steht seit der Machtübernahme | |
der Hamas im Jahr 2006 politisch unter der Kontrolle der dortigen | |
Regierung, wird jedoch bis heute finanziell und verwaltungstechnisch von | |
der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah unterstützt. Seine | |
führenden Mitarbeiter, zumeist Ärzte, die für den Großteil der | |
medizinischen Einrichtungen im belagerten Küstenstreifen zuständig sind, | |
mussten ihre Büroräume infolge der israelischen Angriffe verlassen und | |
arbeiten nun überwiegend aus dem Al-Shifa-Krankenhaus im Zentrum von | |
Gaza-Stadt. | |
In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht das Ministerium auch namentliche | |
Listen der Toten. Die [2][letzte solche Liste] vom 31. Juli umfasste 60.199 | |
Einträge und enthielt neben Geburtsdaten, Geschlecht und den von Israel | |
vergebenen Ausweisnummern auch das genaue Alter am Todestag. Bei den ersten | |
97 getöteten Säuglingen wurde es in Tagen angegeben, bei den folgenden 877 | |
in Monaten. Erst ab Eintrag 974 sind Namen von Opfern verzeichnet, die ihr | |
erstes Lebensjahr erreicht haben. Insgesamt listen die neuesten Dokumente | |
der Behörde 18.430 Minderjährige, 9.735 Frauen zwischen 18 und 60 Jahre und | |
4.429 Menschen über 60 auf. Genauere Angaben dazu, wie die Opfer getötet | |
wurden, macht die Behörde nicht. | |
Israels Regierung und ihre Verbündeten diskreditieren die Angaben der | |
Gaza-Behörden als „Hamas-Angaben“, aber [3][interne israelische | |
Militärdokumen]te bewerten sie als verlässlich, ebenso die Vereinten | |
Nationen. Eigene Zahlen zu palästinensischen Zivilopfern gibt es von | |
israelischer Seite nicht. Das israelische Militär gab im Januar lediglich | |
an, seit Kriegsbeginn 20.000 Kämpfer der Hamas und anderen bewaffneten | |
Organisationen getötet zu haben. [4][US-amerikanische Nachrichtendienste | |
schätzten] die Zahl zum selben Zeitpunkt deutlich niedriger, auf etwa | |
10.000 bis 15.000. Vor wenigen Tagen erklärte das israelische Militär, seit | |
dem von ihm verursachten Bruch der Waffenruhe im März weitere 2.000 Kämpfer | |
getötet zu haben. Seit Beginn der Bodenoffensive Ende Oktober 2023 wurden | |
außerdem 454 israelische Soldaten in Gaza getötet – davon 46 seit März. | |
## Nicht alle Toten können registriert werden | |
Eine öffentlich zugängliche Übersicht aller in Gaza registrierten | |
Todesfälle, ob kriegsbedingt oder natürlich, liegt nicht vor. Die besagten | |
Listen des Gesundheitsministeriums erfassen nur Todesfälle durch | |
Gewalteinwirkung, nicht aber die wachsende Zahl von Toten durch Hunger oder | |
vermeidbare Krankheiten, und nehmen auch nur diejenigen Toten auf, die | |
Mitarbeiter des Gesundheitswesens offiziell registriert haben. Diese | |
arbeiten unter immer katastrophaleren Bedingungen und ständigen Angriffen. | |
Auch das Gesundheitsministerium in Ramallah, das mit seinen Mitarbeitern in | |
Gaza im ständigen Kontakt steht, beteiligt sich am Verifizierungsprozess. | |
Viele Menschen können im Kriegsgebiet gar keine Gesundheitseinrichtung | |
erreichen und ihre Toten damit nicht registrieren lassen. Seit 2024 besteht | |
zwar die Möglichkeit, Tote unter Berufung auf zwei Zeugen online zu melden; | |
diese Meldungen fließen aber keinesfalls automatisch in die Todesliste, und | |
Internetzugang ist im Gazastreifen keine Selbstverständlichkeit. Auch | |
deshalb weisen die Berichte des Gesundheitsministeriums wiederholt darauf | |
hin, dass noch viele Leichen unter Trümmern oder in unzugänglichen Gebieten | |
liegen. Ihre genaue Zahl bleibt ungewiss. | |
Einige Studien aus dem vergangenen Jahr haben versucht, diese Dunkelziffer | |
zu erfassen. Im Januar [5][veröffentlichte die renommierte Fachzeitschrift | |
The Lancet] eine Peer-Review-Studie von Forschern der London School of | |
Hygiene and Tropical Medicine und der Yale University, die systematisch | |
Nachrufe in sozialen Medien mit behördlichen Daten abglich. Ihr Ergebnis: | |
Die vom Gesundheitsministerium gemeldeten Todeszahlen in den ersten neun | |
Kriegsmonaten erfassen nur etwa 60 Prozent der tatsächlichen Zahl der Opfer | |
durch Gewalteinwirkung. | |
Gestützt werden diese Ergebnisse durch [6][eine weitere Studie], die Licht | |
auf die stringente Arbeitsmethodik des Gesundheitsministeriums in Gaza | |
wirft. Die unabhängige Londoner Konfliktforschungsorganisation Action on | |
Armed Violence (AOAV) prüfte eine auffällige Veränderung in den amtlichen | |
Opferlisten: In der Namensliste vom März fehlten 3.000 Namen, darunter | |
1.079 Kinder, die in früheren Listen aufgeführt waren. | |
Als diese Streichung bekannt wurde, stellten einige [7][Medien] sie als | |
angeblichen Beweis für einen früheren Verfälschungsversuch der zivilen | |
Opferzahlen durch die Hamas dar. AOAV arbeitete indessen mit mehreren | |
Forschern aus Gaza zusammen und stellte fest: Die 3.000 Namen waren zumeist | |
per Online-Meldung auf die Liste gelangt und wurden gestrichen, als sie den | |
Verifizierungsrichtlinien der Behörde nicht genügten. Bei der Überprüfung | |
der aus der Liste entfernten Kinder ließ sich dennoch der Tod von 60 | |
Prozent mit hoher Sicherheit bestätigen, bei weiteren 21 Prozent galt er | |
als wahrscheinlich. Nur in 3 Prozent der Fälle fanden sich Duplikate oder | |
fehlerhafte Angaben, die einem tatsächlichen Todesfall eindeutig | |
widersprachen. | |
## Viele Menschen sterben aus anderen Gründen als Gewalt | |
Die [8][neueste Studie], die am 19. Juni von einem internationalen | |
Forscherteam der Universitäten Royal Holloway, Princeton, Stanford, dem | |
Osloer Friedensforschungsinstitut und dem Palestinian Center for Policy and | |
Survey Research veröffentlicht wurde, bestätigt die Erkenntnisse der | |
vorherigen Untersuchungen mit einer anderen Methodik: Mehrere Teams | |
befragten Anfang des Jahres repräsentativ ausgewählte 2.000 Haushalte im | |
Gazastreifen zu Todesfällen. Auch hier zeigte sich eine Untererfassung | |
durch das Gesundheitsministerium: Auf sechs verifizierte Kriegsopfer kamen | |
vier nicht erfasste. In der Aufschlüsselung nach Alter und Geschlecht | |
weisen die offiziell erfassten und nicht erfassten Todesfälle kaum | |
Unterschiede auf: Ältere Menschen, Frauen und Kinder – Bevölkerungsgruppen, | |
die in der Regel nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen – stellen | |
weiterhin die Mehrheit der registrierten wie auch der nicht registrierten | |
Todesopfer. | |
Die Studie erfasst erstmals auch die Zahl der Menschen, die nicht durch | |
Waffengewalt starben. Unstrittig ist, dass die weitreichende Zerstörung der | |
Krankenhäuser und der Mangel an Medikamenten, Nahrungsmitteln und sauberem | |
Wasser im Gaza-Streifen zu einem deutlichen Anstieg der Todesfälle geführt | |
haben. Gezählt hat sie bisher aber niemand. | |
Bemerkenswerterweise kommt die Studie zu einer relativ niedrigen Zahl von | |
8.540 Todesfälle im Rahmen der Übersterblichkeit bis Januar 2025. Dies | |
[9][erklärte der Forschungsleiter Michael Spagat gegenüber Ha’a]retz damit, | |
dass es dem UN-Hilfswerk UNRWA und anderen Hilfsorganisationen vor dem 7. | |
Oktober 2023 und eine Zeit lang auch danach noch möglich war, die Menschen | |
effektiv zu ernähren und zu versorgen. Dies sei heute nicht mehr der Fall. | |
Die israelische Regierung blockiert seit Monaten weitgehend die Lieferung | |
von Lebensmitteln und Medikamenten in den Gazastreifen – sogar Babynahrung | |
wird wiederholt konfisziert. | |
Seit einem halben Jahr, wie Spagat im gleichen Interview betont, beobachte | |
man deutlich, wie die Bevölkerung Gazas „zunehmend ihre Fähigkeit verliert, | |
sich vor überhöhter Sterblichkeit zu schützen“. Seit dem Erscheinen des | |
Ha’aretz-Artikels Ende Juni haben die Meldungen über akute Hungersnot und | |
tödliche Krankheiten im gesamten Gazastreifen weiter zugenommen. | |
## Wahrscheinlich weit über 100.000 Tote | |
Was ergibt sich aus all dem für die Frage, wie viele Menschen insgesamt | |
infolge des Krieges im Gazastreifen gestorben sind? Wendet man die | |
ermittelten Werte zur Untererfassung direkter Kriegstoter auf die aktuellen | |
Zahlen der Gesundheitsbehörde an, ergibt sich, dass in Gaza bereits über | |
100.000 Menschen unmittelbar durch Gewalt ums Leben gekommen sein dürften. | |
Nimmt man zusätzlich die ermittelte Übersterblichkeit hinzu, steigt die | |
Zahl auf rund 115.000 – die Auswirkungen der derzeitigen akuten Hungersnot | |
und die damit mutmaßlich gestiegene Zahl der „indirekten“ Kriegsopfer ist | |
da noch gar nicht mitgezählt. | |
Die Bezeichnung „indirekte Kriegstote“ ist in diesem Fall jedoch | |
irreführend. Wie zahlreiche Aussagen hochrangiger Politiker in Israel | |
belegen, wird die Aushungerungspolitik und die Zerstörung der gesamten | |
Lebensgrundlagen offenbar mit dem Ziel betrieben, den Gazastreifen von | |
Palästinenser*innen zu entvölkern. | |
In einem von zwei ehemaligen israelischen Generälen verfassten | |
[10][Gutachten des regierungsnahen Thinktanks Jerusalem Institute for | |
Strategy and Security], das die „freiwillige Ausreise“ der | |
palästinensischen Bevölkerung propagiert, wird außerdem die Zahl der | |
Palästinenser*innen, die den Gazastreifen seit Oktober 2023 bereits | |
verlassen haben sollen, auf 200.000 geschätzt – oft sind es Verletzte oder | |
Doppelstaatler und deren Angehörige. Zusammengerechnet würde das heißen, | |
dass bis zu 15 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung von 2,3 Millionen | |
Menschen bereits tot oder weg ist. | |
Die absichtliche Schaffung von Bedingungen, die eine Bevölkerung ganz oder | |
teilweise zerstören, stellt nach dem humanitären Völkerrecht und der | |
UN-Völkermordkonvention ein Verbrechen dar. Wie zuletzt [11][die | |
israelischen Menschenrechtsorganisationen B’Tselem und Physicians for Human | |
Rights in ihren jeweiligen Berichten] feststellten, zeigen die aktuellen | |
Daten aus Gaza, dass die Welt bereits daran gescheitert ist, auch diesen | |
Genozid zu verhindern. | |
Mitarbeit: Lisa Schneider | |
12 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://t.me/MOHMediaGaza | |
[2] https://img.haarets.co.il/bs/00000197-a7b3-d32c-a5df-fffb66d10000/11/fe/404… | |
[3] https://x.com/yuval_abraham/status/1750123648533324158 | |
[4] https://www.reuters.com/world/middle-east/hamas-has-added-up-15000-fighters… | |
[5] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(24)02678-3/… | |
[6] https://aoav.org.uk/2025/the-vanishing-children-the-gaza-health-ministrys-q… | |
[7] https://www.juedische-allgemeine.de/israel/studie-hamas-opferzahlen-voellig… | |
[8] https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2025.06.19.25329797v3 | |
[9] https://www.haaretz.com/israel-news/2025-06-26/ty-article-magazine/.highlig… | |
[10] https://jiss.org.il/en/siboni-winner-a-strategic-opening-for-migration-fro… | |
[11] /Krieg-im-Gazastreifen/!6099368 | |
## AUTOREN | |
Yossi Bartal | |
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