# taz.de -- Magersucht: Entweder ich esse, oder ich lande in der Klinik | |
> 2023 kamen doppelt so viele Mädchen und junge Frauen wegen Essstörungen | |
> ins Krankenhaus wie noch 2003. Auch die Autorin stand kurz davor. | |
Bild: Rund 93 Prozent der an Essstörungen Erkrankten sind weiblich | |
Ich renne, so schnell ich kann, über mein Gesicht strömen unaufhaltsam | |
Tränen. Ich schluchze, jogge aber weiter, weiter, weiter durch die | |
Hasenheide. Wie abgefuckt das aussehen muss, denke ich: ein klappriges | |
Knochengerüst, völlig erschöpft, laut schluchzend, durch den Park | |
sprintend. Mir wird schwindelig, das Frühstück habe ich ausgelassen – aber | |
ich denke gar nicht daran aufzuhören. Disziplin ist das Einzige, was mich | |
noch hält. | |
Es war der Morgen, an dem ich mich im Spiegelbild gesehen und erkannt habe: | |
Entweder ich fange jetzt an zu essen, oder ich lande in der Klinik. Heute, | |
ein paar Monate und rund 40 Gläser Erdnussmus später, wiege ich 12 Kilo | |
mehr – und bin stolz wie Bolle. Was für eine Erleichterung, keinen Krieg | |
mehr gegen den eigenen Körper zu führen. | |
Mit der Erkrankung bin ich nicht allein. Magersucht, Bulimie und andere | |
Essstörungen sind fast schon zum Volkssport unter Frauen geworden. 2023 | |
wurden [1][laut Statistischem Bundesamt] 6.000 Mädchen und junge Frauen | |
zwischen zehn und siebzehn Jahren stationär behandelt – und damit doppelt | |
so viele wie 2003. Bei Jungen und Männern hingegen halbierte sich die Zahl | |
im selben Zeitraum, auf rund 820 im Jahr 2023. Damit sind rund 93 Prozent | |
der Erkrankten weiblich. | |
Und das sind nur die Fälle, die im Krankenhaus landen. Das Dunkelfeld? | |
Riesig. Ich kenne kaum eine Frau, die nicht irgendwann in ihrem Leben ein | |
gestörtes Verhältnis zum Essen hatte. Kein Wunder: Frauen lernen von klein | |
auf, dass ihr Wert vor allem in ihrer Attraktivität liegt. Wir werden | |
darauf trainiert, den eigenen Körper kritisch von außen zu betrachten und | |
so zu optimieren, dass er begehrenswert ist. Koste es, was es wolle. | |
## Wirbelsäule wie ein Rosenkranz | |
Zehn Jahre kämpfte ich mit der Magersucht. Meine Knochen traten hervor, man | |
konnte jeden einzelnen Wirbel an meiner Wirbelsäule abzählen, wie Perlen am | |
Rosenkranz. Es gab kein triumphaleres Gefühl, als mit einem knurrenden | |
Magen einzuschlafen und mit ihm aufzuwachen. Nichts hat in mir so ein | |
Versagensgefühl ausgelöst wie die Scham, mich einem so einfachen, | |
menschlichen Bedürfnis wie dem Essen hinzugeben. | |
Die Zügellosigkeit von Menschen, die ein Nutella-Brot oder ein Snickers | |
aßen, widerte mich an. Nichts, worauf ich stolz bin – und nichts, das sich | |
gut mit meinen feministischen Überzeugungen vereinen ließ. Aber es war auch | |
nicht ich, die das dachte. Es war die Krankheit in mir. | |
Abnehmen wird in unserer Gesellschaft fast immer gelobt. Für eine Person | |
mit Anorexie ist das ein Ansporn, das Abendessen auch morgen auszulassen. | |
Es weiß ja keiner, dass der Körper innerlich längst ein Trümmerfeld ist: | |
Das Unterfettgewebe ist weggeätzt, man friert immer, ist nur noch mit | |
Wärmflasche und Thermoklamotten unterwegs. Ohne Energie, dafür mit | |
chronischen Magenschmerzen, ausbleibender Periode, miserablen Blut- und | |
Leberwerten, porösen Knochen und Schlafstörungen. | |
Und dann kippt die Stimmung plötzlich. Wenn man für die gesellschaftliche | |
Norm zu dünn ist, werden aus Komplimenten schnell besorgte Blicke und | |
Getuschel. Keiner weiß, wie man damit umgehen soll, also sagt man lieber | |
nichts. Bei einer Krankheit, deren Kern die Selbstverleugnung ist, kann | |
dieses Schweigen tödlich sein. 2023 starben 78 Mädchen in Deutschland an | |
einer Essstörung. | |
## Die Betroffenen werden jünger | |
[2][Magersucht ist kein Modetrend], sondern seit Jahrzehnten Realität. Die | |
Zahl der Fälle bleibt seit 20 Jahren konstant bei rund 12.000 pro Jahr. Neu | |
ist, dass die Betroffenen jünger werden: Seit 2003 hat sich der Anteil der | |
zehn- bis siebzehnjährigen Mädchen an allen Patienten mit Essstörungen von | |
23 auf 49 Prozent verdoppelt. | |
Es überrascht kaum, wenn man bedenkt, welches verzerrte [3][Körperbild in | |
den sozialen Medien] propagiert wird. Auf Instagram und Tumblr wird | |
Magersucht als Schönheitsideal stilisiert. In Pro-Ana- (pro Anorexia) und | |
Pro-Mia (pro Bulimia)-Foren sowie auf Skinnytok tauschen Mädchen mit | |
eingefallenen Wangenknochen, riesigen Augen und Haarausfall | |
Magersucht-Tipps aus. | |
Auch die multiplen globalen Krisen und eine Welt voller | |
Orientierungslosigkeit könnten die Zahl der Magersüchtigen weiter steigen | |
lassen. Denn Essstörungen drehen sich längst nicht mehr nur um das Streben | |
nach einem Schönheitsideal – es geht vor allem um Kontrolle. Ähnlich wie | |
beim Binge-Eating sind auch Anorexie und Bulimie Zwangsstörungen, die aus | |
einer verzweifelten Suche nach Identität und Selbstwert entstehen. | |
In einer Zeit, in der gerade junge Menschen verzweifelt nach Halt suchen, | |
wirkt die Kontrolle über das Essen wie ein erfolgversprechender Ausweg. | |
Spoiler: Es ist eine Sackgasse. | |
## Body Neutrality statt Body Positivity | |
Was es braucht, ist daher eine Gesellschaft, die den Wert von Frauen nicht | |
an ihrem Körper bemisst. Eine Gesellschaft, die aufhört, Frauen für | |
Gewichtsverlust zu loben, bis sie krank und abhängig sind. | |
Es braucht auch keine Body-Positivity-Bewegung, die das Körperbild | |
weiterhin ins Zentrum rückt, sondern Body Neutrality: eine Haltung, die | |
[4][weder Liebe noch Hass für den Körper fordert], sondern Respekt und | |
Anerkennung für das, was er täglich leistet. Darüber hinaus müssen | |
gefährliche Inhalte in sozialen Netzwerken konsequenter reguliert werden | |
und es braucht eine Entstigmatisierung, damit Freund*innen und Familie | |
kranke Personen ansprechen und ihnen helfen können. | |
Was aber am dringendsten nötig ist, sind Frauen, die Raum einnehmen und | |
essen. Genau das mache ich jetzt. Während ich diesen Text schreibe, | |
bereitet uns meine Freundin eine Zucchini-Pasta zu. Heute Abend gibt’s | |
frittierten Fisch und Pommes an der Strandbude, und ich kann es kaum | |
erwarten. Aber ob dieses Happy End wirklich so happy ist, weiß ich nicht. | |
Ich habe schon häufiger versucht, von der Sucht wegzukommen – gar nicht so | |
einfach. Diesen Text schreibe ich nicht jetzt, weil ich die Sucht besiegt | |
habe. Sondern weil ich nicht weiß, ob ich ihn in einem Jahr noch so | |
schreiben könnte. | |
11 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/08/PD25_N041_231.… | |
[2] /Berlin-Fashion-Week/!6094657 | |
[3] /Tiktok-Trend-Skinny-Girl-Mindset/!6073238 | |
[4] /Weibliche-Koerper/!6074526 | |
## AUTOREN | |
Lilly Schröder | |
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