| # taz.de -- Verwahrlosung von Wohnraum: Alles muss man selber machen | |
| > In der Ritterstraße in Berlin-Kreuzberg leben Mieter:innen in einer | |
| > Dauerbaustelle. Sie schließen sich zusammen – und erzielen erste Erfolge. | |
| Bild: Im Hausflur: Viel Dreck | |
| Berlin taz | Zutritt für Unbefugte verboten!“, warnt ein großer Zettel am | |
| Hauseingang des blau-grauen Plattenbaus, der in der Ritterstraße in | |
| Kreuzberg schlank und hoch in den Himmel ragt. Daneben ein weiterer | |
| Aushang: „Talyo geschädigt? Dann kommt zum nächsten Mieter:innen-Treffen!“ | |
| Talyo ist ein Unternehmen, das Wohnungen verwaltet, auch dieses Mietshaus. | |
| Wer es trotz warnenden Aushangs wagt, vorbei an den 84 Klingelschildern | |
| durch die zersprungene Glastür einzutreten, findet sich in einem | |
| Wohngebäude wieder, das wie eine Baustelle anmutet. Dicke, orangefarbene | |
| Kabel ragen neben dem Aufzug aus der Wand heraus, Bauschutt häuft sich auf | |
| dem Boden. Im Treppenhaus und den Etagenflur liegen kleine Trittleitern und | |
| Materialsäcke, als wären die Handwerker:innen nur kurz in der | |
| Mittagspause. | |
| Dabei würden hier nur alle paar Wochen eine Handvoll Arbeiter:innen | |
| vorbeikommen – wenn überhaupt, erzählt Mieter Timo Färber, der in | |
| Wirklichkeit anders heißt. Wie alle Bewohner:innen des Hauses will er | |
| aus Angst vor Problemen mit der Hausverwaltung nicht mit seinem echten | |
| Namen in der Zeitung stehen. Färber wohnt seit 2019 in der Ritterstraße und | |
| hat Ende vergangenen Jahres eine Mieter:innen-Initiative ins Leben gerufen, | |
| um sich gegen die Untätigkeit der Hausverwaltung zur Wehr zu setzen. | |
| „Wir bieten nachhaltig optimiertes Property Management für Wohnimmobilien“, | |
| [1][wirbt Talyo auf seiner Webseite]. „Für zufriedene Vermieter, Mieter und | |
| eine Welt, die von beidem profitiert.“ Von Mieter:innenzufriedenheit | |
| kann in Kreuzberg aber keine Rede sein: Seit Talyo im Jahr 2024 die | |
| Hausverwaltung in der Ritterstraße 95 übernommen hat, gehe es bergab mit | |
| dem Haus, sagt Mieter Färber. Zwar sei es auch zuvor schon etwas | |
| heruntergekommen und das Treppenhaus „ein bisschen eklig“ gewesen, aber | |
| zumindest begehbar. Heute ist es mit Kot, Bauschutt und Überresten von | |
| Drogennutzung vermüllt. | |
| ## Nur noch „ausstehende Restarbeiten“ | |
| Um den Parkourlauf und den unangenehmen Geruch zu vermeiden, nutzen die | |
| Bewohner:innen einen schmalen Fahrstuhl, der bis in den 14. Stock | |
| fährt. Oben wartet eine Aussicht über ganz Berlin – ein Grund dafür, warum | |
| er trotz allem gern hier wohnt, erzählt Färber. | |
| Die großen Probleme im Haus hätten mit der Strangsanierung im Jahr 2023 | |
| begonnen. Dabei werden Versorgungsrohre und -leitungen im gesamten Haus | |
| ausgetauscht. Dadurch mussten die Bewohner:innen zur Toilettennutzung | |
| auf vor dem Haus platzierte Container ausweichen. Seitdem sei das Leben in | |
| der Ritterstraße „wie auf einer nie endenden Baustelle“, sagt Färber. Zwar | |
| seien die eigenen Toiletten mittlerweile wieder nutzbar, aber die | |
| Erneuerung der Stromversorgung sei immer noch nicht abgeschlossen. Von | |
| einem planvollen, zielgerichteten Bauvorgehen sei keine Spur, kritisieren | |
| die Mieter:innen. | |
| Die Talyo-Hausverwaltung erklärt auf taz-Anfrage, die Sanierungsarbeiten im | |
| Haus befänden sich in ihrer „finalen Phase“. Es gebe nur noch „ausstehen… | |
| Restarbeiten“, die derzeit „überprüft und dokumentiert“ würden, „um … | |
| vollständige Fertigstellung durch die beauftragten Unternehmen | |
| sicherzustellen“, so eine Unternehmenssprecherin. | |
| Zu Sanierungsbeginn war noch Capera die verantwortliche Hausverwaltung. Die | |
| Firma habe sich zumindest auf Mietminderungsforderungen aufgrund der | |
| Baustellen- und Toilettensituation eingelassen und war grundsätzlich | |
| ansprechbar, erzählt Färber. Beim Kontaktversuch zu Talyo im Serviceportal | |
| bekämen sie hingegen nur eine automatische Antwortmail: „Ihre Anfrage ist | |
| uns sehr wichtig“ – dann Funkstille. | |
| ## Bedrohungen im Hausflur | |
| Damals hätten auch noch keine obdachlosen Menschen im Hausflur genächtigt. | |
| Mittlerweile habe sich die Ritterstraße im Kiez als Adresse mit offenen | |
| Haustüren herumgesprochen. Mit einem festen Tritt könne man die Haustür | |
| öffnen, erzählt Färber, repariert werde das nicht. | |
| Laut Talyo-Sprecherin soll eine „neue, stabile und | |
| sicherheitszertifizierte“ Tür „bis spätestens Oktober 2025“ installiert | |
| werden. Für die Zwischenzeit entwickle die Hausverwaltung derzeit „eine | |
| Sicherheitsstrategie mit geeigneten Maßnahmen zur Sicherstellung des | |
| Eingangsbereichs“. Worin diese Maßnahmen bestehen, sagt die Sprecherin | |
| nicht. | |
| Mieter Färber hat Mitgefühl mit den Obdachlosen, die vom nahe gelegenen | |
| Kottbusser Tor zunehmend in die Nachbarschaft verdrängt würden. „Das ist | |
| alles furchtbar traurig. Die Leute haben sich nicht ausgesucht, später mal | |
| im Hochhausflur zu schlafen“, sagt er. Sicher fühlt er sich trotzdem nicht | |
| mehr. | |
| Seinen Nachbar:innen geht es ähnlich. „Im Winter musste ich ein- bis | |
| zweimal die Woche die Polizei rufen“, erzählt Mieterin Andrea Kling. Sie | |
| wohnt schon seit 1963 in der Ritterstraße und wurde bereits mehrfach im | |
| Hausflur bedroht. Die Polizei zeige sich oft gleichgültig, auch der | |
| hauseigene Sicherheitsdienst lasse sich fast nie blicken. | |
| ## Crackkonsum eskaliert | |
| Das sei nicht immer so gewesen. „Es war ein schönes Haus, auch das Umfeld. | |
| Wir hatten überall Hecken“, erinnert sich Kling. Wie Timo Färber liebt auch | |
| sie die Aussicht: „Da sind alle neidisch drauf. Nur die Tauben fliegen in | |
| meine Wohnung“, erzählt sie schmunzelnd, als wäre das ein Problem, das sie | |
| gern hat. | |
| Heute macht sie sich Sorgen wegen der Menschen, die in den Fluren Crack | |
| rauchen: „Was, wenn es mal brennt? Dann kommt niemand die Treppe runter.“ | |
| [2][Der Crackkonsum ist in Berlin in den vergangenen Jahren massiv | |
| angestiegen]. Bereits im vergangenen Jahr klagten Suchtberatungsstellen | |
| über maßlose Überlastung, mit dem neuen Haushaltsplan des Senats für die | |
| kommenden zwei Jahre drohen zusätzliche Kürzungen. | |
| Die Mieter:innen in der Ritterstraße sagen, sie hätten sich Hilfe | |
| suchend an das Bezirksamt gewandt, dort habe es jedoch geheißen, ihnen | |
| seien die Hände gebunden. Auf taz-Anfrage erklärt das Bezirksamt, nicht zu | |
| wissen, an welche Stelle sich die Mieter:innen gewendet haben. | |
| Grundsätzlich erkenne man jedoch die „vielschichtigen und komplexen“ | |
| Probleme der Mieter:innen im Viertel an und gehe auch gegen diese vor – | |
| die Sicherheit der Häuser sei allerdings Aufgabe der Eigentümer:innen. Die | |
| Polizei könne bei Hausfriedensbrüchen kontaktiert werden. | |
| Mit der Erkenntnis, dass man „in diesem Haus alles selber machen“ muss, | |
| setzten sich einige Hausbewohner:innen Ende vergangenen Jahres | |
| zusammen und gründeten eine Mieter:innen-Initiative. Nach dem anfänglichen | |
| Zusammentragen von Problemen wurden Aushänge gebastelt, Flyer verteilt und | |
| Haustürgespräche geführt, um noch mehr Mieter:innen einzubinden. | |
| Rückendeckung und Unterstützung erhielt die Initiative vom Mieterverein und | |
| einem Kreuzberger Kiezteam, das Mieter:innen beim Kampf für bessere | |
| Wohnverhältnisse unterstützt. | |
| ## „Das ist halt Kreuzberg“ | |
| Weil Talyo nicht auf Kontaktversuche reagierte, reichte die Initiative im | |
| März einen Brief mit einer zusammengetragenen Mängelliste beim | |
| Hauseigentümer CA Real Estate ein. Der hat nicht nur in der Ritterstraße, | |
| sondern auch in der angrenzenden Lobeck-, Wassertor- und Prinzenstraße | |
| Immobilien. Mit der gleichen Hausverwaltung und ähnlichen Probleme. | |
| Auch in der Lobeckstraße hat sich Anfang des Jahres eine | |
| Mieter:innen-Initiative gegründet. Monatelang hätten sie auf | |
| Betriebskostenrückzahlungen gewartet, erzählt die Bewohnerin Rita | |
| Meininger. Eine Rattenplage im Keller habe dann das Fass zum Überlaufen | |
| gebracht: „Wir mussten uns selbst um die Ratten kümmern. Ohne | |
| Schutzkleidung!“ Die Talyo-Hausverwaltung schreibt auf taz-Anfrage, sie | |
| nehme die Probleme ihrer Mieter:innen „sehr ernst“ – eine Anfrage zu | |
| diesen Problemen sei allerdings nicht bekannt. | |
| In der Ritterstraße wurde der Druck auf Talyo hingegen groß genug, um eine | |
| Reaktion zu erzwingen: Im Mai meldete sich die Hausverwaltung auf die | |
| Mängelliste zurück und stimmte einem gemeinsamen Treffen zu. Bei einem | |
| Rundgang durchs Haus im Juni brachte die Initiative die Probleme des Hauses | |
| zu Protokoll. Rhetorisch hätten die Vertreter der Hausverwaltung die | |
| Probleme zwar abgewiegelt – „das ist halt Kreuzberg“ –, aber Vereinbaru… | |
| zur fristgerechten Problembehebung zugestimmt, erzählt Färber. Dazu gehören | |
| die Reparatur der Haustüren, die Beendigung der Baustelle, die Behebung der | |
| Sicherheitsprobleme, die Pflege der Grünflächen und die Aufbesserung der | |
| Kontaktmöglichkeiten. | |
| ## Wieder schöner Wohnen | |
| Auf Nachfrage der taz bestätigt Talyo die Fristen und sichert zu, die | |
| Probleme zu beheben. „Die Vereinbarungen sind ein erster Schritt. Nun wird | |
| sich zeigen, ob Talyo auch handelt“, sagt Färber. Grund zum Optimismus gebe | |
| es aber wenig: Die Frist zur Beendigung der Baustelle sei bereits um mehr | |
| als einen halben Monat verstrichen. | |
| „Die Mieterinitiative hat uns allen Hoffnung gegeben“, sagt Rita Meininger. | |
| Um den Druck hochzuhalten, wolle man sich nun besser kennenlernen und | |
| weiter vernetzen, gerade auch zwischen den Häusern. Ein erster Schritt war | |
| das Frühlings- und Sommerfest für alle Bewohner:innen, das die | |
| Initiative organisiert hat. „Damit man neben all den anstrengenden Themen | |
| auch mal schöne Momente teilt“, so Färber. | |
| „Man spricht immer von Nachhaltigkeit und Erhalten – und dann werden die | |
| Häuser hier einfach kaputt gewirtschaftet“, klagt Meininger. „Vielleicht | |
| wollen die das hier irgendwann plattmachen und dann was Neues hinbauen“, | |
| vermutet sie und deutet in Richtung der modernen Neubauten auf der | |
| gegenüberliegenden Straßenseite, in dem überwiegend Luxusgewerbe mit | |
| schicken Fensterfronten eingezogen ist. | |
| „Ich bin ’ne alte Kreuzbergerin und habe noch nie woanders gewohnt. Wir | |
| wollen in diesen Häusern einfach wieder angenehm leben“, seufzt Andrea | |
| Kling, die auf ein halbes Jahrhundert auf diesem Flecken Erde zurückblickt. | |
| Rita Meininger nickt: „Wir wollen einen lebendigen und aktiven Kiez. Und | |
| ein paar Blumen, nicht nur Beete voll Dreck.“ Vielleicht ja auch wieder | |
| gepflegte Hecken. | |
| 5 Aug 2025 | |
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| Lea Kleinsorge | |
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