# taz.de -- Tagebuch aus der Ukraine: Heute Nacht schlafe ich | |
> Warum die Menschen in Kyjiw mehr den Sommer spüren als den Krieg. Eine | |
> Stadt erkämpft sich das Recht auf ein normales Leben. | |
Bild: Living the War: Ein Besucherin des „Cafe Kyiv 2025“ trägt eine VR-Br… | |
Der vierte Kriegssommer in der Hauptstadt der Ukraine ist immer noch näher | |
am Sommer als am [1][Krieg]. Russland erhöht zwar weiterhin die Zahl der | |
Drohnen und Raketen, mit denen es die Stadt nachts angreift, aber | |
[2][Kyjiw] erholt sich auf wundersame Weise bis zum Morgen und kämpft | |
weiter für sein Recht auf ein halbwegs normales Leben. Gegen Abend öffne | |
ich die Fenster weit, stelle den Wecker und gehe schlafen. | |
Was es in meinem Leben nicht gibt, ist die App „[3][Luftalarm]“. Weil ich | |
nachts schlafen will und nicht die Sirene meines Smartphones hören möchte. | |
Wenn die Explosionen weit weg sind, werde ich sie vielleicht gar nicht | |
bemerken, und wenn sie näher sind, brauche ich keine Benachrichtigung, um | |
davon zu erfahren. | |
Das ist zwar nicht gerade ein sicheres Verhalten, aber ich werde mich auch | |
nicht in einen Schutzraum begeben. Ich wohne nicht in der Nähe einer | |
U-Bahn-Station, und alle anderen Schutzräume kommen mir entweder nicht | |
vertrauenswürdig vor, oder es gibt sie einfach nicht. Ich habe Privilegien | |
– ich habe keine Kinder oder Haustiere, daher bin ich nur für mich selbst | |
verantwortlich. Und morgens muss ich zur Arbeit gehen – wie alle anderen | |
auch. Deshalb schlafe ich. | |
Und ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Muster nun zur Normalität | |
geworden ist. Nach schweren Anschlägen meldet die [4][U-Bahn] Tausende von | |
Menschen, die sich dafür entschieden haben, auf dem Betonboden der Station | |
zu schlafen, um am nächsten Morgen ganz sicher wieder aufzuwachen. Aber in | |
unserer Stadt gibt es mehrere Millionen Menschen, die sich im Flur, im | |
Badezimmer, auf der Treppe oder einfach auf dem Boden einrichten und jede | |
Nacht hoffen, dass die durch die Explosionswelle zerbrochenen Glasscheiben | |
nicht auf sie fallen. | |
Kyjiw ist eine Stadt, die an beiden Ufern des Dnjepr liegt, die durch | |
Brücken verbunden sind. Während der Luftalarmphase fährt die U-Bahn nicht | |
vom rechten zum linken Ufer. Deshalb machen sich die Menschen keine Sorgen | |
wegen eines möglichen Angriffs, sondern wegen der realen Gefahr, es nicht | |
rechtzeitig vor der Ausgangssperre nach Hause zu schaffen. Auch ich habe | |
nachts mehr Angst davor, nicht genug Schlaf zu bekommen, als vor einem | |
Angriff. | |
## Fatalismus und Vertrauen in die Luftabwehr | |
Dieses Gefühl und dieses Verhalten glaube ich mir leisten zu können, weil | |
ich auf die Effizienz der ukrainischen Luftabwehr vertraue. Ihr werden fast | |
magische Eigenschaften zugeschrieben -übrigens völlig zu Recht. Und ich | |
handele so, weil ich dem Fatalismus verfallen bin, dem man hier nicht | |
entkommen kann. | |
Zu Beginn der groß angelegten Invasion drehten die Ukrainer Videos, die den | |
Beschuss europäischer Städte zeigten, um Empathie und Unterstützung zu | |
wecken. Sie taten das nach dem Motto: Heute passiert das uns, morgen könnt | |
ihr an unserer Stelle sein. Nach mehr als tausend Tagen Krieg denke ich, | |
dass das keinen Sinn hatte. | |
Die Bewohner friedlicher Städte und Länder gehen nachts ruhig schlafen. Sie | |
schalten die Benachrichtigungen auf ihren Handys aus und schlafen ohne | |
Sorgen ein. Ich bin nicht bereit, sie dafür zu verurteilen. | |
Wenn nötig, kann man im Internet nach der [5][„Zwei-Wände-Regel“] suchen. | |
Sie beschreibt, wie man in einem Haus einen möglichst sicheren Ort findet, | |
um sich vor Schüssen oder Explosionen zu schützen. Wichtig ist dabei: | |
Zwischen einem selbst und der Straße sollten mindestens zwei stabile Wände | |
liegen. Die erste Wand dämpft die Wucht der Explosion, die zweite schützt | |
vor umherfliegenden Splittern. | |
Aber gut. Ich gehe jetzt schlafen. | |
[6][Vasili Makarenko] ist freier Autor aus Kyjiw und war Teilnehmer eines | |
Osteuropa-Workshops der [7][taz Panter Stiftung]. | |
Aus dem Russischen [8][Tigran Petrosyan]. | |
Durch Spenden an die [9][taz Panter Stiftung] werden unabhängige und | |
kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts | |
„Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt. | |
1 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Vasili Makarenko | |
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