# taz.de -- Internationaler Strafgerichtshof: Der Warlord von Bangui | |
> 2014 erlebte die taz in der Zentralafrikanischen Republik, wie in dem | |
> Haus von Patrice Ngaïssona eine Miliz wütete. Jetzt fällt über ihn das | |
> Urteil. | |
Bild: Angeklagt: Patrice Edouard Ngaïssona, hier bei seiner ersten Vorführung… | |
Kampala taz | Sechzehn Einschusslöcher sprenkelten das grüne Hoftor in | |
Bangui. Das Anwesen von Patrice Edouard Ngaïssona, Jugend- und | |
Sportminister sowie Chef des Fußballverbandes der Zentralafrikanischen | |
Republik (ZAR) war verwüstet. Rebellen der muslimischen Milizenkoalition | |
„Séléka“ hatten im März 2013 [1][die zentralafrikanische Hauptstadt Bang… | |
erobert] und die Regierung von [2][Präsident François Bozizé gestürzt]. | |
Bozizé floh ins Nachbarland Kamerun zusammen mit seinen Freunden, darunter | |
der einflussreiche Politiker Ngaïssona. | |
Die Séléka-Kämpfer zerschossen Ngaïssona damals nicht nur das Hoftor, | |
sondern plünderten das Warenlager seiner Import- und Export-Gesellschaft, | |
räumten die Vorratskammer hinter der Küche aus und stahlen ihm die Matratze | |
aus dem Schlafzimmer. Auf dem Fußboden im Wohnzimmer lagen überall | |
zerstreut Bilder aus seinem privaten Fotoalbum, als die taz das Anwesen | |
erstmals besuchte. | |
Kein Jahr später war die Herrschaft der Séléka schon wieder vorbei. | |
Anstelle der muslimischen Rebellen zogen im Frühjahr 2014 Abertausende | |
junge Männer, einige noch Kinder, mit Messern und Macheten durch die | |
Hauptstadt, töteten und jagten die muslimische Minderheit, bis fast alle | |
Muslime der Zentralafrikanischen Republik getötet oder vertrieben waren. Im | |
Leichenschauhaus stapelten sich die Toten. [3][Anti-Balaka] nannten sich | |
diese antimuslimischen Milizen, Kurzform für „Anti-Balle-Ak47“, weil sie | |
sich einbildeten, ihre Fetische würden sie von den AK47-Kugeln der Séléka | |
schützen. | |
In Ngaïssonas Villa hinter dem grünen Hoftor mit den Einschlusslöchern im | |
Stadtviertel Boy-Rabe hatte sich die Anti-Balaka-Führung eingerichtet. Boy | |
Rabe war der Wahlkreis des gestürzten Präsidenten Bozizé gewesen, hier | |
lebten seine Angehörigen und engsten Anhänger – und von hier aus hatte | |
seine Miliz Anti-Balaka ab Ende 2013 Bangui und das Umland mit extremer | |
Gewalt zurückerobert und Séléka in die Flucht getrieben. | |
## „Das ist unser Gefangener“ | |
[4][Als die taz Ende März 2014 Ngaïssonas Innenhof erneut besuchte], | |
schlichen dort junge Milizionäre im Kreis um einen Stuhl herum, Messer in | |
den Händen. Auf dem Stuhl saß ein junger Mann in Unterhose und T-Shirt, | |
Blutergüsse und tiefe Wunden am Körper: ein Séléka-Anhänger. „Das ist un… | |
Gefangener“, sagte Anti-Balaka-Sprecher Gomez Namsio stolz. „Und das ist | |
Oberst 12 Puissance (12 Volt), der Kommandant der Anti-Balaka.“ | |
Er zeigte auf einen bulligen Mann im schwarzen Jogginganzug. Mit seiner | |
tiefen Stimme brüllte der den Gefangenen an: „Wenn du einer von uns bist, | |
dann werden die Kugeln an dir abprallen, wenn ich auf dich schieße.“ Dann | |
klingelte ein Telefon. Der Kommandeur zog sein Handy aus der Hosentasche. | |
„Der Chef ist dran“, raunzte er und beendete mit einem Handzeichen die | |
Scheinexekution. Der „Chef“ am Telefon – war das Ngaïssona? | |
Unter anderem darüber hat jetzt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) | |
vier Jahre lang verhandelt. Heute fällt in Den Haag das Urteil im | |
[5][Prozess gegen Ngaïssona und einen weiteren zentralafrikanischen | |
Warlord]. Es sind die ersten Urteile des Weltgerichts über die Verbrechen, | |
die die Zentralafrikanische Republik 2013–14 erschütterten und von denen | |
sich das Land bis heute nicht erholt hat. | |
Ngaïssona ist als mutmaßlicher „übergeordneter Koordinator“ der Anti-Bal… | |
schlimmster Verbrechen angeklagt: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, | |
Mord, Folter, Vergewaltigung, Vertreibung sowie Einsatz von Kindersoldaten | |
unter 15 Jahren – insgesamt 31 Anklagepunkte. | |
Mit ihm vor Gericht steht [6][Alfred Yekatom], in der Zentralafrikanischen | |
Republik unter dem Kriegsnamen „Rambo“ bekannt. Der ehemalige Armeeoffizier | |
und Parlamentsabgeordnete kommandierte laut Anklage zwischen Ende 2013 und | |
August 2014 rund 3.000 Anti-Balaka-Kämpfer in der Provinz Lobaye | |
südwestlich von Bangui. Er war also ähnlich wie in Bangui Oberst „12 | |
Puissance“ für die Milizionäre in einer bestimmten Region zuständig. Alle | |
Regionalkommandeure erhielten, so die Anklage, Befehle von Ngaïssona im | |
Exil. | |
Yekatom war im Oktober 2018 im zentralafrikanischen Parlament festgenommen | |
worden, als er im Plenarsaal mit seinem Revolver das Feuer eröffnete. Kurz | |
darauf wurde er nach Den Haag überstellt. Ngaïssona wurde nur wenige Wochen | |
später [7][in Paris verhaftet] und ebenso nach Den Haag ausgeliefert. | |
Mehrfach war er zuvor in Bangui festgenommen, aber wieder freigelassen | |
worden. | |
Nach dem Scheitern seines Vorhabens, 2015 bei den ersten | |
Präsidentschaftswahlen des Landes nach Kriegsende anzutreten, hatte | |
Ngaïssona im Sport Karriere gemacht. 2017 wurde der Milizenführer Präsident | |
des Fußballverbandes der Staaten des zentralen Afrika und vertrat diesen | |
auch beim internationalen Fußballverband Fifa. Zuletzt lebte er in Paris, | |
wo seine Familie seit Langem ansässig ist. Am Pariser Flughafen wurde er im | |
Dezember 2018 mit IStGH-Haftbefehl gefasst, als er gerade aus Bangui kam, | |
und nach Den Haag überstellt. | |
## Die Suche nach dem General | |
Endlich Gerechtigkeit also für die Opfer brutalster Greueltaten in einem | |
international wenig beachteten Land im Herzen Afrikas? Das Verfahren war | |
von Anfang an schwierig. Denn die Richter wollten vermeiden, nur eine | |
Konfliktpartei anzuklagen, also die Anti-Balaka. Jahrelang fahndeten die | |
Ermittler nach Anführern der Séléka, um sie ebenfalls zur Rechenschaft zu | |
ziehen. | |
Immerhin, Anfang 2021 ging den Blauhelmen der UN-Mission Minusca bei einem | |
Treffen in Bangui [8][Séléka-Kommandant Mahamat Said Abdel Kani] ins Netz. | |
Der Oberst war in der Séléka für die Bekämpfung der organisierten | |
Kriminalität zuständig gewesen. Er stand in der Hierarchie unter | |
[9][Séléka-General Noureddine Adam], der nach dem Rückzug seiner Truppe aus | |
Bangui als oberster Anführer der Séléka-Nachfolgeorganisation „Volksfront | |
für die Wiedergeburt Zentralafrikas“ (FPRC) weiterkämpfte. | |
Jahrelang bemühten sich die IStGH-Ermittler vergeblich, General Adam | |
habhaft zu werden. Er versteckte sich in Sudan, wo der IStGH keine | |
Zuständigkeit hat. Bei seinen Truppenbesuchen in der nordöstlichen Savanne | |
der Zentralafrikanischen Republik wurde er von den russischen Söldnern der | |
Wagner-Gruppe hofiert, mit denen er damals Diamantengeschäfte betrieb. Er | |
ist bis heute auf freiem Fuß, die Russen stützen mittlerweile den | |
amtierenden zentralafrikanischen Präsidenten Faustin-Archange Touadéra. | |
Die größte Herausforderung für die Den Haager Ermittler bestand darin, | |
Ngaïssona die Kommandohoheit über die Anti-Balaka nachzuweisen, auch in der | |
Zeit, als er sich zum Höhepunkt des Krieges Anfang 2014 nachweislich im | |
Exil aufhielt – also per Telefon oder anderen Kommunikationsmitteln. Ein | |
Detail war dabei entscheidend: Die Mitgliedsausweise der Anti-Balaka | |
beziehungsweise der Séléka. | |
Denn beide Milizen hatten ihren Truppen ID-Karten ausgestellt: laminierte | |
Karten mit Namen, Rang, Funktion und Portraitfoto. Kämpfer und Offiziere | |
trugen sie an einem Band sichtbar um den Hals. Darauf waren auch die | |
offiziellen Stempel mit Logo und Name der Miliz sowie Unterschriften der | |
Milizenführer. | |
Auf Fotos von Anti-Balaka-Sprecher Namsio, der vor Ngaïssonas grünem Hoftor | |
in Boy-Rabe posierte, war die Unterschrift zu erkennen, aber nicht gut zu | |
lesen. Es wurde nie eindeutig bestätigt, ob es Ngaïssonas Signatur war. Im | |
Fall der Séléka verfügten die Ermittler über bessere Fotos. Sie bewiesen, | |
dass General Adam [10][die Ausweise 2013 ausgestellt] hatte, in seiner | |
damaligen Funktion als Sicherheitsminister der kurzlebigen | |
Séléka.-Regierung. | |
## Kein afrikanisches Essen beim Strafgerichtshof | |
[11][Der Prozess in Den Haag gegen Ngaïssona und Yekatom] begann im Februar | |
2021. Fast 80 Zeugen der Anklage und Opfervertreter wurden gehört. Ab | |
November 2023 kamen die Zeugen der Verteidigung dran. Im Dezember 2023 | |
meldete sich Ngaïssona persönlich zu Wort. | |
„Ich habe sehr gelitten“, klagte er über seine fünf Jahre in der | |
Haftanstalt des IStGH. „Das Essen entsprach nicht meiner Kultur“, so | |
Ngaïssona. Er habe sich seine afrikanischen Lebensmittel selbst beschaffen | |
müssen, das sei teuer gewesen. Zumal habe er seine acht Kinder und sieben | |
Enkel jahrelang nicht sehen können, weil diese sich keine Reise nach Den | |
Haag leisten konnten. „Ich bin der Einzige, der sich um meine Familie | |
kümmert“, so Ngaïssona. Dann wandte er sich direkt an den Vorsitzenden | |
Richter: „Ich rate Ihnen, die Haftanstalt selbst zu besuchen – um zu | |
erfahren, wie man sich dort fühlt.“ | |
Und schließlich stellte Ngaïssona seine Sicht der Dinge klar: Die | |
Anti-Balaka seien Widerstandskämpfer gewesen, die „Frieden bringen | |
wollten“, wie er sagte. „Ich habe alles geopfert, um diese verzweifelte | |
Jugend zu repräsentieren“, schloss Ngaïssona: „Ich habe niemals an | |
irgendwelchen militärischen Aktionen teilgenommen, noch habe ich sie | |
finanziert oder Waffen verteilt.“ Als sein Haus von Séléka geplündert | |
wurde, habe er alles verloren. | |
Demgegenüber erklärte Ankläger Kweku Vanderpuye in seinem | |
[12][Schlussplädoyer] im Dezember 2024, Ngaïssona habe durch Koordination | |
und Finanzierung von Anti-Balaka-Einheiten maßgeblich zu deren Verbrechen | |
beigetragen – „wahllose Angriffe auf muslimische Zivilisten als kollektive | |
Vergeltung für Verbrechen und Greueltaten der Séléka“. Ngaïssona „wollte | |
Macht, ob direkt oder indirekt“, so der Ankläger weiter und forderte für | |
ihn 20 Jahre Haft, für Yekatom sogar 22 Jahre. | |
Ob die Richter in Den Haag den Zentralafrikaner als Opfer ansehen und | |
freisprechen, oder als Täter verurteilen und schuldig sprechen – das wird | |
an diesem Donnerstagnachmittag verkündet. Von einem „Meilenstein“ der | |
Aufarbeitung spricht im [13][Interview mit zentralafrikanischen | |
Journalisten] IStGH-Sprecher Fadi El Abdallah. Hunderte von Menschen werden | |
in Bangui zu einer Live-Übertragung erwartet. | |
24 Jul 2025 | |
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[12] https://www.justiceinfo.net/en/140137-last-words-yekatom-ngaissona-trial.h… | |
[13] https://corbeaunews-centrafrique.org/affaire-yekatom-ngaissona-le-porte-pa… | |
## AUTOREN | |
Simone Schlindwein | |
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