| # taz.de -- Die Wahrheit: Stimmen aus dem Jenseits | |
| > Es ist der neueste Trend der Musikindustrie: frühere Demoaufnahmen werden | |
| > als Lost Tapes veröffentlicht. | |
| Bild: Musik ist überall: Schweizer Verkehrskreisel als Plattenteller | |
| Waldemar Kreppschki ist in ein angeregtes Telefonat verwickelt, als wir in | |
| sein Büro eingelassen werden. „Sie wissen ja, ein Haus verliert nichts“, | |
| ruft Kreppschki ins Telefon, während er uns freundlich zunickt und uns | |
| einen Sitzgruppenplatz zuweist. „Bruce Springsteen hat all die Kisten mit | |
| Tonbändern auch erst nach 30 Jahren in der hintersten Ecke seines | |
| Dachbodens entdeckt. Nur Geduld, Sie werden das Gerät schon finden. Und | |
| dann melden Sie sich direkt – bei mir.“ | |
| Kreppschki legt auf. Das sei gerade die Mutter der Tokio-Hotel-Zwillinge | |
| Bill und Tom Kaulitz gewesen. Sie suche fieberhaft den | |
| Toy-Place-Kassettenrekorder mit zwei Mikrofonen. „In den haben die Brüder | |
| Kaulitz in ihrer Kindheit erste Gesangsversuche hineingesungen. Das ist | |
| brandheißer Stoff.“ | |
| Kreppschki war lange A&R-Manager, was für Artists and Repertoire steht. | |
| Jetzt ist er immer noch A&R-Manager bei Sony. „Heute heißt es aber Artists | |
| and Recycling“, lacht er. Und es stimmt: Durch die Wiederaufbereitung | |
| musikalischen Altmaterials fährt die Unterhaltungsindustrie tatsächlich | |
| momentan große Gewinne ein. | |
| Der Dachboden-Springsteen hat jüngst 83 bisher unveröffentlichte Demos, die | |
| zum Teil noch aus den achtziger Jahren stammen, auf gleich sieben Alben | |
| pressen lassen. Auch die mehrheitlich schon verstorbenen Mitglieder von | |
| Motörhead veröffentlichten jüngst mit den Manticore-Tapes unveröffentlichte | |
| Probeaufnahmen aus den siebziger Jahren. Selbst Black Sabbath kündigten ein | |
| „Legendary-Lost-Tapes-Album“ an. | |
| ## Da klingelt die Kasse! | |
| „Fans können eben nicht genug von ihren Idolen kriegen. Selbst nachlässig | |
| hingerotzte Übungsaufnahmen gehen weg wie warme Semmeln“, führt Kreppschki | |
| weiter aus. „Da klingelt die Kasse!“ Und in diesem Moment auch schon wieder | |
| sein Telefon. „Ja, natürlich“, japst er in sein Handtelefon hinein, „all… | |
| aufnehmen. Alles mitschneiden. Wie? Ja – gerade, wenn sie pupst und hustet! | |
| Nehmen wir!“ | |
| Das sei eben der Toningenieur von Taylor Swift gewesen. Sie nehme gerade | |
| neue Lieder auf, und „da gilt es frühzeitig, schon Lost Tapes für die | |
| Zukunft vorzubereiten.“ Kreppschki glaubt fest an die unverbrüchliche | |
| Stabilität dieses neuen Trends. Der Musikmanager verfügt für den Aufbau der | |
| Musik-Recycling-Sparte über ein umfassendes Budget. Großes hat er damit | |
| vor. Zurzeit werde fieberhaft nach frühen musikalischen Experimenten von | |
| Chuck Berry, Elvis und Buddy Holly gesucht. Eine Höllenaufgabe sei das, | |
| stöhnt der beleibte Manager, „zumal viele von deren Nachkommen auch schon | |
| tot sind“. Er habe deshalb Stammbaumexperten und Erbenermittler mit | |
| Recherchen beauftragt. | |
| Zum Glück kann sich Kreppschki nicht über einen Mangel an Mitarbeitern | |
| beklagen. Die Aktivitäten von Sony sprechen sich herum. Es gehen deshalb | |
| auch viele Initiativbewerbungen bei ihm ein, von Menschen, die | |
| Unterstützung anbieten. Allerdings sei nicht jede Bewerbung brauchbar. | |
| „Neulich wollte ein Geisterbeschwörer für uns arbeiten, der mit dem | |
| Jenseits spricht.“ Die Idee, von toten Sängern und Sängerinnen auf diese | |
| Weise Overdubs anfertigen zu lassen, mit denen man besonders schlechte | |
| Fundstücke nachträglich aufpolieren könnte, hielt Kreppschki zwar für gut | |
| gemeint, letztlich aber doch für untauglich. „Das Verfahren ist | |
| wissenschaftlich nicht möglich. Stimmen aus dem Jenseits lassen sich | |
| tatsächlich nicht magnetisieren.“ | |
| ## Schall verschwindet nicht einfach | |
| Vielversprechender hingegen sei eine seiner neuesten Mitarbeiterinnen, eine | |
| Akustikerin, deren Spezialgebiet die Absorption des Schalls ist. „Schall | |
| verschwindet ja nicht einfach, sondern wird sozusagen aufgesogen in Möbeln, | |
| Vorhängen, Teppichen“, erklärt Kreppschki. Seine Mitarbeiterin arbeite | |
| gerade an der Rückführung von absorbiertem Schall. | |
| „So wie man aus Muscheln das Meeresrauschen hören kann, werden wir aus den | |
| Sesseln von Chuck Berry seinen dort aufgesaugten Gesang lauschen können“, | |
| freut sich der Manager. Aktuell habe er mehrere Privatdetektive weltweit | |
| auf Flohmärkte und Wohnungsentrümpler angesetzt, um die musikalischen | |
| Schätze im Nachlass der Künstler zu bergen. | |
| „Stellen Sie sich vor, wir könnten Mobiliar von Beethoven entdecken, | |
| vielleicht gelingt es uns sogar, Fragmente seiner Klavierübungen zu finden. | |
| Womöglich könnten wir so die eine oder andere unvollendete Sinfonie | |
| vollenden.“ Kreppschki bekommt leuchtende Augen. „Und wer weiß – wenn wir | |
| unserem Schallgenie ein Expertenteam aus Archäologen, Geologen und | |
| Astronomen zur Seite stellen, bringen wir alsbald die Originalaufnahme des | |
| Urknalls heraus! Als Streaming, Download, CD, Vinyl oder auf Kassette. Und | |
| natürlich auch auf Schellack.“ | |
| Der nächste Supertrend im Musikbusiness? „Die Renaissance des Grammophons!“ | |
| 16 Jul 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Günter Flott | |
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