# taz.de -- Konflikt zwischen Kurden und Erdoğan: Demokratie unter Zwangsverwa… | |
> Neslihan Şedal sollte Bürgermeisterin der kurdisch geprägten Stadt Van | |
> sein, wurde aber von der Regierung abgesetzt. PKK-Entwaffnung lässt sie | |
> hoffen. | |
Bild: Eine Gruppe kurdischer „Mütter für den Frieden“ nimmt an einer Prot… | |
Van taz | Neslihan Şedal steht im Hof des DEM-Parteihauses im Zentrum von | |
Van. Über ihr wehen Fahnen in Grün, Blau und Violett im Wind, auf ihnen ein | |
stilisierter Baum, das Symbol der prokurdischen Partei DEM, der Partei für | |
Gleichheit und Demokratie der Völker. Auf dem gepflasterten Platz ist es | |
ruhig, Holzbänke laden zum Sitzen ein, Schatten fällt durch die Äste der | |
Bäume. | |
„Hier ist jeder willkommen“, sagt Şedal lächelnd. 2024 wurde Şedal | |
gemeinsam mit Abdullah Zeydan zur Ko-Bürgermeisterin von Van gewählt. Die | |
DEM gilt als Nachfolgeorganisation der HDP und versteht sich als | |
pluralistisch, feministisch und basisdemokratisch. Die HDP war lange Zeit | |
die wichtigste politische Vertretung der kurdischen Bevölkerung in der | |
Türkei. Ihr Ziel: die politische Vertretung all jener gesellschaftlichen | |
Gruppen, die in der Türkei bislang marginalisiert oder unterdrückt wurden. | |
Doch am 15. Februar wurden Şedal und Zeydan von der Zentralregierung | |
abgesetzt. Sie setzte stattdessen einen Zwangsverwalter ein. Es war nicht | |
das erste Mal. | |
Dabei könnte man meinen, die Zeichen stehen auf Frieden zwischen den Kurden | |
und der Türkei. Im nordirakischen Sulaimaniyya verbrannte die PKK am | |
Wochenende symbolisch ihre Waffen – ein Ereignis, das in der Türkei | |
vielfach als historischer Moment gewertet wurde. Die DEM-Partei agiert als | |
politische Vermittlerin zwischen der Regierung und der PKK. Präsident Recep | |
Tayyip Erdoğan reagierte mit einer Rede in Ankara und sprach von einem | |
„neuen Abschnitt des Friedens“. | |
## Kein Frieden in Van | |
„Der Staat der Republik Türkei steht aufrecht – heute ehrenvoller als | |
gestern und mit mehr Stolz auf seine Zukunft“, sagte er: „Der Türke ist | |
heute sicherer als gestern. Der Kurde, der Araber ist heute sicherer als | |
gestern. Die wir verloren haben, kehren nicht zurück – aber unsere | |
Jugendlichen werden uns nicht mehr entrissen werden, unsere Mütter werden | |
nicht mehr weinen.“ | |
In Van jedoch, unweit der Grenze zum Iran, ist von einem solchen Frieden | |
wenig zu spüren. | |
Betritt jemand den Hof vor der Parteizentrale, grüßt Şedal mit einem | |
freundlichen Nicken. Sie schüttelt Hände und lächelt. Obwohl sie offiziell | |
kein Amt mehr hat, ist sie hier präsent – nicht in ihrer Funktion, sondern | |
als Person. „Wir haben als Volk gewählt – und sie haben unseren Willen | |
enteignet“, sagt sie. Was wie ein Verwaltungsakt erscheine, sei in | |
Wirklichkeit politisch motiviert: „Es ist ein Eingriff in die lokale | |
Demokratie.“ | |
Das sogenannte Kayyum-System – der Begriff bedeutet auf Türkisch so viel | |
wie „Zwangsverwalter“ – ist rechtlich nicht neu. Ursprünglich stammt das | |
Prinzip aus dem Zivil- und Handelsrecht und wurde dort zur Verwaltung | |
insolventer Firmen, bei Erbschaften oder für Personen, die als | |
geschäftsunfähig gelten, angewendet. | |
## Wo Beteiligung nicht nur ein Versprechen sein soll | |
Seit 2005 erlaubt das Kommunalgesetz unter bestimmten Bedingungen auch die | |
Einsetzung von Zwangsverwaltern in der Kommunalverwaltung – etwa bei | |
Terrorvorwürfen. Nach dem Putschversuch gegen Erdoğan im Juli 2016 wurde | |
daraus ein systematisches politisches Instrument. | |
Gerade vor diesem Hintergrund gewinnt das Modell, das Şedal gemeinsam mit | |
Abdullah Zeydan in Van aufgebaut hatte, besondere Bedeutung. Es stand für | |
ein anderes Verständnis von Verwaltung. „Wir wollten eine Verwaltung, in | |
der Beteiligung nicht nur ein Versprechen ist. Kommissionen, Stadtteilräte, | |
offene Entscheidungsprozesse – das war unser Ziel.“ | |
Für Şedal ist Kommunalpolitik mehr als Infrastruktur: „Wir verstehen die | |
Kommunalverwaltung als Teil des gesellschaftlichen Befreiungskampfes – | |
insbesondere für Frauen.“ Ein zentrales Element dieses Ansatzes war das | |
sogenannte Eşbaşkanlık – das Modell des Ko-Vorsitzes, bei dem jeweils eine | |
Frau und ein Mann gemeinsam Verantwortung tragen. | |
Diese Praxis, inspiriert von der kurdischen Frauenbewegung, soll | |
patriarchale Machtstrukturen aufbrechen und politische Gleichberechtigung | |
garantieren. „Wir reden nicht nur über Frauenrechte – wir organisieren | |
Politik strukturell anders“, sagt Şedal. „Nicht symbolisch, sondern | |
systematisch.“ | |
## Schutzräume für Frauen wurden zerstört | |
In Van habe man versucht, gesellschaftliche Gruppen wie Frauen, ältere | |
Menschen oder Menschen mit Behinderung aktiv einzubinden – nicht als | |
Zielgruppe, sondern als Mitgestaltende. „Unser Ansatz war dezentral, | |
transparent und am Alltag der Menschen orientiert.“ Politik, sagt sie, | |
dürfe nicht von oben verordnet werden – sie müsse vor Ort entstehen. | |
Auch die Jin-Karte, mit der Frauen kostenlosen Zugang zu kulturellen | |
Angeboten und Hygieneprodukten erhalten sollten, wurde mit dem Einsetzen | |
des Zwangsverwalters gestrichen. „Kein einziges dieser Projekte läuft | |
weiter“, sagt Şedal. Besonders die Infrastruktur für Frauen sei gezielt | |
zerstört worden. „Frauen wurden aus Schutzräumen zurück in Haushalte | |
geschickt, in denen sie Gewalt ausgesetzt waren. Das ist keine | |
Sparmaßnahme, das ist politische Absicht.“ | |
Van gilt offiziell mit 1,1 Millionen Einwohnern als eine Großstadt, doch | |
davon ist wenig zu spüren. Staub liegt in der Luft, nur eine große Straße | |
im Zentrum wurde modernisiert. Die Stadt lebt vom iranischen | |
Partytourismus. Der Rest ist Stillstand, Migration, Perspektivlosigkeit. | |
„Die Jugend verlässt die Region, es gibt keine sichere Zukunft hier“, sagt | |
Şedal. | |
Die DEM-Partei fordert [1][nach der Waffenabgabe der PKK] konkrete | |
politische Schritte [2][von Seiten der Regierung in Ankara]: Sie fordert | |
nicht nur die sofortige Freilassung von Selahattin Demirtaş, dem seit 2016 | |
inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden, sondern auch die Absetzung aller | |
Zwangsverwalter in kurdischen Kommunen. | |
## Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag | |
Şedal setzt ihre Hoffnung nun in Berichte, nach denen in Ankara eine | |
Verfassungskommission gebildet werden soll, mit dem Ziel, einen neuen | |
Gesellschaftsvertrag zu entwerfen. Im Raum stehen weitreichende Reformen: | |
verfassungsrechtliche Garantien für kurdische Grundrechte, die Anerkennung | |
der kurdischen Sprache, die Rückkehr demokratisch gewählter | |
Bürgermeister:innen und ein verbindlicher Rechtsrahmen für politische | |
Teilhabe. | |
„Ohne rechtliche Sicherheit und echte Demokratie wird es keinen Frieden | |
geben“, sagt Şedal. „Zu oft wurde der Prozess an parteitaktischen | |
Interessen zerschlagen. Diesmal muss es anders sein.“ Şedal richtet ihren | |
Blick deshalb auch auf die übrige Opposition. „Wir müssen gemeinsam gegen | |
Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit Widerstand leisten – nicht nur wir | |
Kurden sollen das tragen“, sagt sie. | |
Sie erinnert daran, dass etwa die CHP – die | |
kemalistisch-sozialdemokratische Oppositionspartei – im Jahr 2016 einer | |
Gesetzesänderung zustimmte, die den Weg für die Absetzung von | |
HDP-Bürgermeister:innen ebnete. Nichtsdestotrotz sei die DEM solidarisch | |
mit der CHP gewesen, [3][als Ekrem İmamoğlu], der CHP-Bürgermeister von | |
Istanbul, unter Druck geriet und festgenommen wurde. „Wir haben sie | |
besucht. Wir gehen auf sie zu. Aber wir fragen auch: Warum leistet ihr | |
keinen Widerstand?“ | |
Für Şedal ist klar: Demokratie ist kein Privileg der Mehrheit, sondern ein | |
Versprechen an alle. Sie hält an der Hoffnung fest. Alles andere hieße zu | |
kapitulieren. | |
14 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Aufloesung-der-PKK/!6096269 | |
[2] /Endgueltiges-Ende-der-PKK/!6096244 | |
[3] /Millionen-Menschen-gegen-Erdoan/!6077365 | |
## AUTOREN | |
Miriam Meyer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan | |
Kurden | |
CHP | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Feminismus | |
GNS | |
Türkei | |
Schwerpunkt Flucht | |
Ekrem İmamoğlu | |
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Grenze zwischen der Türkei und Iran: Niemand hat die Absicht, diese Mauer zu k… | |
Seit mehreren Jahren sichert die Türkei ihre Grenze zu Iran. Über die Toten | |
oder die Schleuserkriminalität seitdem reden sie vor Ort nur zögerlich. | |
Asyl in Deutschland: Schutzquote von Frauen aus der Türkei sinkt deutlich | |
Mehr Frauen aus der Türkei suchen in Deutschland Schutz, doch die Zahl | |
positiver Asylentscheide sinkt. Am schwersten haben es Kurdinnen. | |
Millionen Menschen gegen Erdoğan: Der Türkei steht ein langer Kampf bevor | |
Seit Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu inhaftiert wurde, reißt der | |
Protest gegen Präsident Erdoğan nicht ab. Auch Künstler sind jetzt laut | |
dabei. | |
Repression unter Erdoğan: Die demokratische Türkei nicht alleinlassen | |
Die EU wird sich entscheiden müssen, ob sie aus durchsichtigen Motiven | |
einen Autokraten unterstützt oder sich wirklich für die Demokratie | |
einsetzt. |