| # taz.de -- Bachmannpreis in Klagenfurt: Bürgerlichkeit und Benzin | |
| > Am letzten Lesetag des Bachmannpreises kristallisieren sich weitere | |
| > Favorit:innen heraus. Vor allem ein Nicht-Muttersprachler überzeugt | |
| > die Jury. | |
| Bild: Tara Meister bei ihrer Lesung in Klagenfurt | |
| Klagenfurt taz | Für die größte Überraschung am dritten und letzten Lesetag | |
| beim [1][Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb] sorgt am Samstag Klaus Kastberger. | |
| Der Juryvorsitzende ist eigentlich bekannt dafür, besonderen Wert auf | |
| Avantgardistisches, auf sprachliche Eigenheiten zu legen und machte den | |
| Siegertext dann ausgerechnet bei Nora Osagiobare aus. | |
| Die Schweizerin entwirft in „Daughter Issues“ eine Reality-TV-Show, bei der | |
| Vätern eine Million Franken geboten wird, sofern sie den Kontakt zu ihren | |
| Töchtern abbrechen. Osagiobares Protagonistin kommt nicht von ungefähr auf | |
| die Idee, hat sie mit ihrem eigenen Vater doch selbst einige | |
| Schwierigkeiten. Das Ganze wird ziel- bis lösungsorientiert erzählt und es | |
| sind ausgerechnet Sprachbilder gleich dem wie „ein übermütiger Raver“ geg… | |
| die Brust hüpfendem Herz, die Kastberger begeistern. Überraschend viel Lob | |
| gibt es auch vom Rest der Jury. | |
| Ein bürgerliches Szenario entwirft indes Almut Tina Schmidt in ihrem Text | |
| „Fast eine Geschichte“. Schriftstellerische Tiefstapelei schadet bei einem | |
| öffentlichen Wettbewerb selten mehr als das Gegenteil, doch ist Schmidts | |
| Text entgegen dem Titel kein halbfertiger Versuch. | |
| Die Welt dieser Erzählung beschränkt sich auf ein Mehrfamilienhaus. Schmidt | |
| liefert ein umfangreiches Nachbarschaftskaleidoskop, streift viele | |
| Biografien und Lebensentwürfe der Bewohner:innen. Doch wie man auch dran | |
| dreht, es geht aus diesem Kaleidoskop einfach kein klares Bild hervor. Viel | |
| passiert hier und gleichzeitig so gut wie nichts. Der Text überbrückt einen | |
| großen Zeitraum, ihm fehlen aber doch zwingende erzählerische Momente. | |
| Obwohl viel getratscht wird in diesem Haus, obwohl Jahre vergehen, erfährt | |
| die Protagonistin recht wenig über ihre Nachbar:innen, scheint aber auch | |
| keine besondere Neugier ihnen gegenüber zu verspüren. Lieber widmet man | |
| sich der biedermeierhaften Ausgestaltung der eigenen Wohnung. Ehen werden | |
| geschieden, Kinder geboren, doch irgendwie bleibt man ratlos zurück. Als | |
| Kritik an ausgehöhlten, zweckmäßigen Beziehungen innerhalb der bürgerlichen | |
| Gesellschaft verschenkt der Text leider viel Potenzial aufgrund seiner | |
| erzählerischen Beliebigkeit. | |
| ## Werkstattcharakter | |
| Dass es sich beim Bachmannpreis im Sinne [2][der Gruppe 47] einst um eine | |
| Veranstaltung mit Werkstattcharakter handelte, ruft Tara Meister mit | |
| „Wagashu oder“ in Erinnerung. Als Studentin des deutschen | |
| Literaturinstituts Leipzig trägt sie ihren Text institutstypisch | |
| professionell und in weiten Teilen auswendig vor. | |
| Darin liest die Protagonistin eine beinahe Kaspar-Hauser-artige, sprachlose | |
| Figur auf, pflegt den jungen Mann wie ein verletztes Tier und geht eine von | |
| Missverständnissen und wechselnden Machtdynamiken bestimmte Beziehung ein. | |
| Geschlechterrollen changieren, es geht um Sexualität, um das Finden einer | |
| Sprache für Intimität und sexuelle Traumata der Vergangenheit. Außerdem | |
| geht es bei dieser Sprachsuche auf eine Weise auch um das Schreiben an | |
| sich. | |
| Ein wenig klingt der Text wie so manch anderer Institutstext aus | |
| Hildesheim, Leipzig oder Biel: lyrisch, bildhaft, mäandernd und sehr dicht | |
| komponiert. Viel bleibt unter der Oberfläche und sprachlich mehrdeutig | |
| (einer der wenigen [3][Texte in diesem Jahr] mit eigener Sprache: „Er spürt | |
| es, wenn ich Mann denke. (…) Also denke ich: Reh“, Anm. juhu). Jurymitglied | |
| Thomas Strässle findet den Text und seine Hermetik geheimnisvoll, | |
| streckenweise aber auch geheimnistuerisch. | |
| Wie beim elliptischen Titel hat man das Gefühl: Hier fehlt noch etwas. Hier | |
| ist der Schreibprozess noch eine Suche und vielleicht ist die Hermetik auch | |
| diesem Umstand zu schulden. Dieser Ansatz taugt auch nicht jedem in der | |
| Jury: Kastberger poltert in der ihm eigenen Art los, der Text sei eine | |
| „Ausgeburt der Betulichkeit“ und ihm sei ein derart betulicher Text | |
| überhaupt noch nie untergekommen. In der Härte mag man nicht mitgehen, doch | |
| ein wenig Reduktion und Schliff ist hier durchaus noch nötig, darüber kann | |
| auch der beeindruckende Vortrag nicht hinwegtäuschen. | |
| ## Lob für Schumatsky | |
| Viel Lob erhielt indes [4][Boris Schumatsky]. In „Kindheitsbenzin“ verwebt | |
| der seit vielen Jahren in Berlin lebende Autor auf eher essayistische denn | |
| klassisch literarische Weise Erinnerungen an das Aufwachsen in der | |
| Sowjetunion mit aktuellen Überlegungen, ob eine Heimreise zur | |
| sterbenskranken Mutter nach Russland irgendwie möglich zu machen sei. Was | |
| Schumatsky im dortigen Kontext beobachtet, die Ablehnung von Krieg und | |
| Gewalt, macht dabei durchaus Denkräume zu gegenwärtigen Entwicklungen auch | |
| fernab der Russischen Föderation auf. | |
| Scharfe Smartphone- und Social-Media-Kontrollen an der Grenze nehmen | |
| weltweit zu, zuletzt sahen sich auch in den USA Einreisende damit | |
| konfrontiert. Die Verrohung und Umdeutung der Sprache, die Schumatsky am | |
| Beispiel der Veteranen beschreibt, auch in westlichen, sich rechts | |
| einfärbenden Gefilden ist sie zu verzeichnen, Beispiele auch aus dem | |
| deutschen Bundestag finden sich zuhauf. | |
| Nur wenige Kritikpunkte hat die Jury anzubringen. Laura de Weck habe | |
| Schumatsky etwa das starke Betäubungsmittel nicht „abgekauft“, das der | |
| Erzähler im Falle einer Verhaftung bei der Einreise zu schlucken plane. | |
| Irritierend ist zudem ihre Aussage, wonach schon die russischen Kinder vor | |
| 100 Jahren und genauso „vermutlich die Kinder in 100 Jahren wieder kein | |
| Entkommen finden“. Welcher Kristallkugel sie ihre Prophezeiungen entnimmt, | |
| verrät sie nicht. | |
| Ansonsten ist die Jury durch die Bank begeistert von Schumatsky, der sich | |
| somit Hoffnung machen kann auf den Grand Prix dieser 49. Bachmanntage (für | |
| mich leider der erwartbarste Text des ganzen Wettbewerbs, schade, Anm. | |
| yawa). | |
| 28 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Hubernagel | |
| Yannic Walter | |
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