# taz.de -- Seidenraupen in Kalabrien: Fressen, spinnen, sterben | |
> Drei junge Menschen erwecken im kalabrischen Bergdorf San Floro die alte | |
> Kunst der Seidenproduktion. Und hören die begehrten Raupen Knabbern. | |
Bild: Es ist ein langer Weg, bis aus den mohnkorngroßen Eiern der Seidenraupe … | |
Sie essen. Rund um die Uhr. Drei Mal täglich geht Domenico Vivino daher zu | |
ihnen, mit einer Schubkarre voll langer, dicht bewachsener Zweige. Die | |
Kleineren bekommen nur die Blätter, zu Schnipseln gehackt. Bei den Größeren | |
legt Vivino einfach den ganzen Ast hinein. Der 37-Jährige geht zu einem | |
Lautsprecher, der im Eck des schummrigen Raumes steht. Die laute | |
italienische Schlagermusik verstummt. | |
„Hörst du sie?“ Domenico Vivino beugt sich über die Holzplatte. Wie ein | |
leiser Nieselregen klingt ihr Knabbern. Reihe um Reihe futtern sich die | |
Raupen durch die Blätter. Nach wenigen Stunden ist vom Grün nichts mehr | |
übrig. Der Nachschub für die hungrigen Tiere wächst unterhalb des Hauses, | |
in einem Tal mit sanft abfallenden Hängen: mehrere tausend Maulbeerbäume. | |
Früher waren sie überall in Kalabrien zu finden, denn einst war die Region | |
für ihre Seide berühmt. Die ist – man vergisst es leicht in unserer | |
hochindustriellen Zeit – ein Naturprodukt, das auf der Arbeit kleiner Tiere | |
beruht: der Larven des Seidenspinners, besser bekannt als Seidenraupen. Und | |
die ernähren sich ausschließlich von Maulbeerblättern. | |
Vermutlich gelangte das Wissen um die Seidenproduktion im 9. Jahrhundert | |
[1][nach Kalabrien], als die italienische Stiefelspitze zum byzantinischen | |
Reich gehörte. Besonders rund um die heutige Hauptstadt Catanzaro | |
entwickelte sich das Handwerk. „La città della seta“ wurde sie genannt. Die | |
Stadt der Seide. | |
20 Kilometer südlich von Catanzaro liegt das Bergdorf San Floro, Heimat von | |
Domenico Vivino und seinen Kindheitsfreundinnen Giovanna Bagnato und Miriam | |
Pugliese. Anders als viele ihrer Altersgenossen haben die drei ihre Heimat | |
nicht verlassen beziehungsweise sind hierher zurückgekehrt. Ins kalabrische | |
Hinterland, wo die Orte wie Adlerneste auf Bergrücken hängen, wo die | |
Straßen so steil und kurvig sind, dass sich selbst die Italiener an die | |
vorgegebenen 30 km/h halten, und die Einwohnerzahlen so niedrig, dass die | |
Dörfer „wie große Familien“ sind. | |
Miriam Pugliese steht auf der Piazza von San Floro und scherzt mit | |
Salvatore, einem der wenigen hundert Einwohner des Ortes. Bevor sie ihre | |
Geschichte erzählt, gibt es erst mal einen caffè in der kleinen Bar, wo | |
sich am Sonntag das halbe Dorf versammelt hat. Den Wert der engen | |
Gemeinschaft habe sie erst in der Ferne erkannt, meint Pugliese. Mit Anfang | |
20 ging sie nach Berlin. Es war die Zeit, als dort Guerilla Gardening ein | |
großes Ding wurde und viele Großstädter ihr Interesse an der Natur | |
entdeckten, daran, eigene Lebensmittel anzubauen oder eigenen Honig zu | |
erzeugen. Das gefiel auch Pugliese, und so war da bald diese Sehnsucht nach | |
ihrem Heimatdorf, in dem sie – als Kind nach Mailand gezogen – die | |
schönsten Sommer verbracht hatte. | |
„Da ist doch nix!“, meinten ihre Eltern. Miriam Pugliese und ihre | |
Mitstreitenden aber ließen sich nicht entmutigen. Sie entdeckten ein | |
Projekt, das Regionalpolitiker in den 90er Jahren angestoßen hatten: 3.500 | |
Maulbeerbäume wurden damals gepflanzt, an der Piazza im Ort ein kleines | |
Museum eingerichtet. Man wollte an die alte Tradition anknüpfen, die mit | |
der Industrialisierung, den politischen Umbrüchen und der Landflucht in | |
Vergessenheit geraten war. Als jedoch die Regionalregierung wechselte, | |
wurde das Projekt nach nur wenigen Jahren fallen gelassen. Die Bäume | |
verwilderten. | |
Pugliese sperrt die knarzende Tür des Museums auf. 2014 bekam das Trio die | |
Erlaubnis, das Gebäude und die fünf Hektar Anbaufläche zu übernehmen. Nido | |
di Seta nannten sie ihr Unternehmen, Seidennest. „Als wir hier angefangen | |
haben, war das Haus, ein altes Schloss, in einem desolaten Zustand.“ Heute | |
sind die schummrigen Räume mit Schaukästen und -tafeln bestückt. Von der | |
Decke baumeln dekorative Seidenfäden in unterschiedlichen Farben und | |
Stärken, im Eck steht ein alter Webstuhl. „So einen gab es vor fünfzig | |
Jahren in jedem Haus.“ | |
Aus den selbst gewebten Stoffen fertigten die Frauen Bettwäsche und | |
Kleidung. Miriam Pugliese zeigt auf ein dunkles Kleid. „Das ist ein | |
Hochzeitskleid. Die bestanden oft aus zwei Teilen“, erklärt sie. Aus einem | |
einfachen Rock und einem aufwendig verzierten Oberteil, das von mehreren | |
Familien geteilt wurde. Obwohl Seide damals verbreitet war, war sie | |
kostbar. | |
Es ist ein langer Weg, bis aus den mohnkorngroßen grauen Eiern der | |
Seidenraupe erst Larven, dann Kokons, daraus dann Garne und schließlich | |
fließende Stoffe werden. „Einmal geschlüpft, fangen die Larven sofort an zu | |
fressen. In nur 28 Tagen legen sie das 50.000-Fache an Gewicht und Größe | |
zu!“, sagt Miriam Pugliese. Sie lacht. „Ich weiß noch, wie ich hier in San | |
Floro vor fünfzehn Jahren das erste Mal welche gesehen habe und sie auf mir | |
rumgekrabbelt sind.“ Einige Wochen lang träumte sie von Riesenwürmern. | |
Das junge Team fing ohne Vorkenntnisse an, aber sie lernten schnell. Ein | |
paar alte Bewohner von San Floro führten sie in das Handwerk ein. Später | |
reisten Vivino, Bagnato und Pugliese nach Indien, Thailand und Mexiko, in | |
die Zentren der traditionellen und modernen Seidenproduktion. Sie halfen | |
mit und sammelten viel Wissen. Auch darüber, wie sie es nicht machen | |
wollen. Zum Beispiel mit chemischen Mitteln färben. „Schrecklich“, meint | |
Pugliese – für die Arbeiter, die knietief in der Brühe stehen, und die | |
Natur, in der das Abwasser ungefiltert entsorgt wird. Bei Nido di Seta | |
verwenden sie nur natürliche Farben, also Schalen, Blätter oder Wurzeln. | |
Produziert wird die Seide direkt neben den Plantagen, die man über einen | |
unbefestigten Waldweg erreicht. Zwischen den Maulbeerbäumen wachsen | |
Holunder, Orangen und Feigen. Was sich heute als Bilderbuchidyll | |
präsentiert, war zu Beginn verwildert und von Müll übersät. In den einst | |
verfallenen Häusern sind ein kleiner Shop und die Produktionsstätte | |
untergebracht. Und natürlich die Aufzuchtstation, das „Kinderzimmer“, wie | |
Miriam Pugliese es nennt. | |
Sie geht in den warmen Raum, wo ihr Kollege Domenico Vivino gerade das | |
Mittagessen verteilt. „Fühl mal“, meint sie und nimmt einen der weißen | |
Würmer auf die Hand. Sie sind, ja, seidenweich und klein wie ein | |
Fingernagel. Wenn sie nach einem knappen Monat ausgewachsen sind, messen | |
sie bis zu fünf Zentimeter. Dann beginnen sie, sich einzuspinnen. „Unter | |
dem Mund haben sie zwei Container. Aus einem kommt der Faden, aus dem | |
anderen eine Art Kleber.“ | |
Nach drei Tagen werden die fertigen Kokons, die an weiße Erdnüsse erinnern, | |
eingesammelt und in speziellen Öfen getrocknet. Die Seidenraupe stirbt. | |
„Ansonsten würde sie ausbrechen und den Kokon zerstören.“ Und ihn damit f… | |
die Produktion hochwertiger Seide unbrauchbar machen, denn das Besondere | |
ist ja, dass der Kokon aus einem einzigen Faden besteht, der, kaum | |
vorstellbar bei der Größe, 1.000 bis 1.500 Meter lang ist. | |
Weil die Raupen sterben müssen, wird die Seidenproduktion von Tierschützern | |
kritisiert. Pugliese kennt den Vorwurf. Sie antwortet, noch bevor die Frage | |
kommt. Auch in freier Wildbahn wäre ihr Leben kurz, erklärt sie. „Sobald | |
sie sich gepaart haben, sterben sie.“ | |
Um den Kleber, das Sericin, zu lösen, werden die getrockneten Kokons in | |
heißem Wasser eingeweicht. Anschließend wird der Faden aufgerollt, was bis | |
zu 45 Minuten dauern kann. Wird dieser gewoben, hat man Rohseide. Sie ist | |
steifer als jene, die man aus edlen Boutiquen kennt. Für solch feinen | |
Stoffe muss das Gewebe erst gewaschen werden, um sämtlichen Kleber zu | |
lösen. Es folgen das Verzwirbeln der feinen Fäden, das Färben, das Weben, | |
schließlich das Schneidern. Rund 60 Kilo Seidengarn fertig Nido di Seta pro | |
Jahr. „Damit sind wir der größte Produzent in Europa“, sagt Pugliese. | |
Mittlerweile ist auch die Modewelt auf sie aufmerksam geworden. Mit | |
Unterstützung einer italienischen Luxusmarke haben sie eine Spezialmaschine | |
angeschafft, auf der sie hauchfeine Seidenfäden für | |
[2][Haute-Couture]-Stoffe produzieren. Ihr Herz aber schlägt für die | |
traditionelle Handarbeit. „Ein Baum ohne Wurzeln hat keinen Stand“, sagt | |
Pugliese. Mittlerweile arbeitet Nido di Seta mit acht lokalen | |
Handwerkerinnen zusammen. „Wir wollen nicht nur altes Wissen erhalten, | |
sondern auch Arbeitsplätze schaffen.“ Insbesondere für Frauen, die in | |
Kalabrien lange finanziell abhängig waren. | |
Auf der anderen Seite des Tals haben sie ein kleines Lokal eröffnet, in dem | |
sie mit Maulbeeraromen angereicherte Gerichte anbieten: Es sind vor allem | |
die Beeren des Baumes, die zu Sirup (im Spritz) oder Konfitüre (zum Käse) | |
verarbeitet werden. Ein paar Blätter sind auch dabei, allerdings nur als | |
aromatische Beilage zum geschmorten Schwein. Als Hauptgericht werden sie | |
einzig den nimmersatten Raupen serviert. | |
7 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Verena C. Mayer | |
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