# taz.de -- Polizei-Techniken gegen Sitzblockaden: Mit dem Finger gegen die Nas… | |
> Die Polizei nutzt Schmerzgriffe, um linke Straßenblockaden aufzulösen. | |
> Jurist:innen sehen Verstöße gegen die Menschenwürde und sprechen teils | |
> von Folter. | |
Bild: „Da war überall einfach nur Schmerz.“ Die Polizei setzt verstärkt a… | |
Dresden taz | Geschrei, Gezerre, Schläge, sitzende Demonstrant:innen | |
und behelmte Polizist:innen. Es ist unübersichtlich auf der Kreuzung in der | |
Dresdener Innenstadt, als sich eine geöffnete Hand über das Gesicht von | |
Mila Linde legt und fest zudrückt. | |
An diesem 15. Februar, einem Samstag, haben sich mehrere hundert Menschen | |
auf die Straße gesetzt, auch Linde. Sie wollen einen [1][der größten | |
Aufmärsche von Neonazis in Europa blockieren], den sogenannten | |
„Gedenkmarsch“, 80 Jahre nachdem die Alliierten im Zweiten Weltkrieg | |
Dresden bombardierten. Schätzungsweise 2.000 Neonazis und andere | |
Rechtsextreme zogen in diesem Jahr durch die Stadt, etwa doppelt so viele | |
Menschen protestierten dagegen. | |
Um die Demonstrationsfreiheit der extremen Rechten durchzusetzen, räumt die | |
Polizei in Dresden die antifaschistischen Sitzblockaden. Bevor die Beamten | |
bei ihr sind, überlegt Mila Linde kurz, selbst aufzustehen, doch | |
entscheidet sich dagegen. Der Neonaziaufmarsch soll es so schwer wie | |
möglich haben. Aber wenn die Polizei sie wegträgt, will sie sich nicht | |
wehren, so erzählt es Linde wenige Tage danach der taz am Telefon. | |
Eigentlich heißt sie anders, möchte aber anonym bleiben, um nicht ins | |
Visier der Polizist:innen zu geraten. | |
Irgendwann sind die Beamt:innen bei ihr. Sie heben Linde vom Asphalt. | |
Aber was dann kommt, daran erinnert sich Linde nur bruchstückhaft: Eine | |
Hand in ihrem Gesicht, starker Druck auf ihrem Kiefer, ihrer Schläfe, von | |
beiden Seiten. „Wie genau, da bin ich nicht sicher“, sagt sie. „Da war | |
überall einfach nur Schmerz.“ | |
## Manchmal fällt das Wort „Folter“ | |
Was Linde beschreibt, klingt nach einer „Nervendrucktechnik“, wie es bei | |
der Polizei heißt. Sie selbst [2][nennt es „Schmerzgriff“]. Beide | |
Bezeichnungen meinen grob gesagt dasselbe: Handgriffe, die meist aus dem | |
Kampfsport stammen und die Teile der Polizei als Zwangsmittel einsetzen. | |
Beamte drücken dann etwa mit den Fingern von unten gegen die | |
Nasenscheidewand oder auf die Lymphknoten. Zum Einsatz kommen die Techniken | |
bei Festnahmen oder wenn die Polizei, wie im Fall von Linde, Sitzblockaden | |
räumt. Der Schmerz soll Betroffene etwa dazu bringen, sich selbstständig | |
aus einer Sitzblockade zu entfernen. | |
Ob die Polizei das darf, ist strittig. Rechtswissenschaftler:innen | |
mahnen, Schmerzgriffe seien unverhältnismäßig, es fehle an gesetzlichen | |
Grundlagen, und Griffe, die nur Schmerzen erzeugen, verletzten | |
Menschenrechte. Manchmal fällt sogar das Wort „Folter“. Aber juristisch | |
eindeutig ist die Situation nicht. | |
Zwei Verwaltungsgerichte haben sich in diesem Jahr mit Klagen gegen | |
[3][sogenannte Schmerzgriffe beschäftigt und kamen zu unterschiedlichen | |
Urteilen]. Das Amtsgericht Ansbach wies im Februar eine Klage ab, das | |
Berliner Verwaltungsgericht erklärte einen Monat später die Anwendung der | |
Technik in einem anderen Fall für unverhältnismäßig. Beide Male hatten | |
Klimaaktivisten dagegen geklagt, dass sie mithilfe von Schmerzgriffen aus | |
einer Sitzblockade entfernt wurden. | |
In Dresden gittert die Polizei an dem Tag im Februar, als Mila Linde gegen | |
die Rechtsextremen demonstriert, schon früh am Morgen Teile der Innenstadt | |
für den Straßenverkehr ab. Zwischen den Neonazis und den | |
Gegendemonstrant:innen stehen überall Beamte, laut Innenministerium | |
sind mehr als 2.000 von ihnen aus neun Bundesländern im Einsatz. Insgesamt | |
verläuft der Polizeieinsatz ruhig. Trotzdem ist Mila Linde nicht die | |
Einzige, die der taz danach von Griffen berichtet, die vor allem Schmerzen | |
verursachen. | |
## Fast niemand traut sich zu klagen | |
Valide Zahlen gibt es nicht. Auch der Griff in Mila Lindes Gesicht wird in | |
keiner Datenbank auftauchen. Zwar hält sie ihn für unverhältnismäßig, aber | |
rechtlich dagegen vorgehen? „Das ist aussichtslos“, glaubt die Aktivistin. | |
Die Gefahr sei größer, dann selbst ein Verfahren am Hals zu haben. Ähnlich | |
äußern sich auch andere Betroffene gegenüber der taz. | |
Aber nicht nur Zahlen, auch eine umfassende rechtliche Bewertung der | |
Technik fehlt. Dorothee Mooser hat im [4][Jahr 2021 eine Doktorarbeit zum | |
Thema vorgelegt]. Es ist eine der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zu | |
dem Thema. In ihrer Untersuchung kam Mooser zu dem Schluss: | |
„Nervendrucktechniken stellen eine unzulässige Maßnahme der Polizei dar und | |
können gegen Menschenrechte verstoßen.“ | |
Den Protest gegen den „Gedenkmarsch“ der Neonazis in der sächsischen | |
Landeshauptstadt Dresden begleitete unter anderem die | |
Linke-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel als parlamentarische Beobachterin. | |
Bei einer der Blockaden hatten sich rund 200 Menschen auf die Straße | |
gesetzt. Alle blieben zunächst auf dem Asphalt, als die Polizei sie | |
aufforderte, zu gehen. Dann begannen die Beamten, Aktivist:innen aus | |
der Blockade zu ziehen. Dabei kündigten sie Schmerzen an, drückten in | |
Gesichter und verdrehten Arme. Nur die wenigsten standen von selbst auf. | |
Filmaufnahmen belegen: Während die einen offenbar ohne Schmerzen abgeführt | |
wurden, heulten andere laut auf. Mit verzerrtem Gesicht presste eine Person | |
unter lautem Schluchzen hervor: „Ich laufe ja schon!“ Die Brille war ihr | |
unter die Nase gerutscht. Zwei Beamte überdehnten sichtlich ihre | |
Handgelenke, während sie sie von der Blockade wegführten. „Fast geschafft�… | |
sagte einer in beruhigendem Ton. Daraufhin ertönte ein weiteres Heulen. | |
## Angeblich Verhältnismäßig | |
Nagel erkundigte sich zwei Tage später in einer [5][Kleinen Anfrage an die | |
Landesregierung], inwieweit die Polizei Nervendrucktechniken oder | |
Schmerzgriffe angewendet habe. Innenminister Armin Schuster (CDU) | |
antwortete: Die Blockierer:innen hätten sich aneinander festgehalten | |
oder untergehakt. In solchen Fällen sei Wegtragen nicht möglich, deshalb | |
sei der „gezielte und kurzfristige Einsatz von Schmerzreizen“ notwendig | |
gewesen. Das sei verhältnismäßig. | |
Ähnlich äußert sich auch die verantwortliche Polizeidirektion Dresden | |
gegenüber der taz zu dem Einsatz. Grundsätzlich gelten demnach „die | |
strengen Maßstäbe“ der Verhältnismäßigkeit. Die anwesenden Beamten würd… | |
jeweils prüfen. | |
Juliane Nagel zweifelt an der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes in Dresden. | |
Einzelne Beamte seien „rabiat“ gegen die Aktivist:innen vorgegangen, | |
„und unterließen die Griffe auch nicht, als Protestierende intensiv auf | |
Schmerzen hinwiesen“, kommentiert die Landtagsabgeordnete. Die Sitzblockade | |
habe sich friedlich verhalten. Doch wie ist das mit der Verhältnismäßigkeit | |
von Schmerzgriffen? | |
Das Berliner Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil eine Antwort auf diese | |
Frage geliefert. Sofern die Beamt:innen Sitzblockaden mit anderen Mittel | |
auflösen könnten, seien Nervendrucktechniken nicht verhältnismäßig. | |
## Gewalt wird zur Normalität | |
Geklagt hatte der 21-jährige Klimaaktivist Lars Ritter. Im April 2023 hatte | |
er sich mit etwa 40 Aktivist:innen der Letzten Generation auf eine | |
Straße gesetzt, um den Autoverkehr zu blockieren. Videos zeigen, wie ein | |
Polizist Ritter warnte, wenn er nicht selbstständig aufstehe, werde er | |
tagelang nicht schmerzfrei kauen und schlucken können. | |
Als der Klimaaktivist ungerührt sitzenblieb, griff der Beamte unter seinen | |
Kiefer, drückte, ein zweiter Polizist verdrehte Ritters Arm. Der schrie. Am | |
Ende trugen die Beamten den Aktivisten am verdrehten Arm und an den Beinen | |
von der Straße. | |
Ritter klagte dagegen und bekam recht. Im Urteil heißt es, es seien genug | |
Einsatzkräfte vor Ort gewesen, um Ritter einfach wegzutragen. Das wäre ein | |
milderes Zwangsmittel gewesen. Der Aktivist habe sich nicht gegen die | |
Polizei gewehrt. Trotzdem betonte der vorsitzende Richter Wilfried Peters | |
laut Medienberichten bei der mündlichen Urteilsverkündung, das Urteil könne | |
nicht verallgemeinert werden. An der Zulässigkeit von Schmerzgriffen | |
bestünde „kein Zweifel“. Die Schmerzen bei Nervendrucktechniken, so der | |
Richter weiter, seien nicht der eigentliche Zweck, sondern Mittel zum | |
Zweck. | |
Dass Schmerzen bei Nervendrucktechniken nicht der Zweck sind, [6][sieht | |
Hannah Espín Grau anders]. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am | |
Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht der Goethe-Universität Frankfurt | |
und forscht zu Gewalt bei Polizeibeamten. Während etwa bei Hebelgriffen der | |
Schmerz als Nebenprodukt entstehe, seien bei „Nervendrucktechniken der | |
Schmerz die eigentliche Maßnahme“, sagt sie. | |
Und genau das sei juristisch problematisch, denn die Maßnahme lasse sich | |
damit nur bedingt unter die Regeln des unmittelbaren Zwangs fassen. Die | |
betroffene Person gehe nicht durch den Schmerz an sich weg, sondern aus | |
Angst vor weiteren Schmerzen. „Deshalb lässt sich diskutieren, ob diese | |
Gewalt im Einzelfall eine Form der Folter oder der unmenschlichen | |
Behandlung darstellt.“ | |
Ein weiteres Problem, das Espín Grau kritisiert: Die Nervendrucktechniken | |
trügen dazu bei, dass Polizist:innen Gewalt als normal wahrnehmen. Die | |
Schmerzen würden durch wenig Kraftaufwand erzeugt, und die Griffe | |
hinterließen wenige sichtbaren Folgen. Entsprechend niedrig sei die Hürde. | |
Doch entgegen der polizeilichen Wahrnehmung sei der Schmerz massiv und | |
damit auch die Gewaltanwendung. | |
Und die Griffe wirkten zudem nicht nur auf die betroffenen Aktivist:innen, | |
gibt Sarah Ahmad zu bedenken. Sie arbeitet an der Universität Tübingen als | |
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Staatsrecht, Völkerrecht, | |
Verfassungslehre und Menschenrechte und [7][beschäftigt sich mit der | |
Rechtmäßigkeit von Schmerzgriffen im versammlungsrechtlichen Kontext]. | |
Bürger:innen fühlten sich in der Folge von weiteren politischen | |
Versammlungen abgeschreckt. Dieser „chilling effect“ sei eine Folge, „die | |
in einem menschenrechtskonformen Gemeinwesen nicht eintreten darf“, erklärt | |
Ahmad. | |
Über die Proteste in Dresden und was sie dabei erlebt hat, hat Mila Linde | |
in den Tagen danach mit Bekannten gesprochen. Zum Verarbeiten. Manche waren | |
mit ihr in Dresden, andere nicht. Sie glaube, es sei wichtig, nicht | |
abzustumpfen, aber trotzdem handlungsfähig zubleiben. Ob sie nächstes Jahr | |
wieder versucht, die Neonazis in Dresden zu blockieren? „Wenn’s irgendwie | |
möglich ist, ja.“ | |
1 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /80-Jahre-nach-der-Bombardierung/!6069722 | |
[2] /Umstrittene-Praxis-bei-Berliner-Polizei/!6042904 | |
[3] /Berliner-Gericht-zu-Schmerzgriffen/!6073439 | |
[4] https://api.pageplace.de/preview/DT0400.9783748932338_A43532686/preview-978… | |
[5] https://edas.landtag.sachsen.de/redas/download?datei_id=40080 | |
[6] https://verfassungsblog.de/schmerzgriffe-als-technik-in-der-polizeilichen-p… | |
[7] https://verfassungsblog.de/schmerzgriffe-polizei-menschenrechte/ | |
## AUTOREN | |
David Muschenich | |
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