# taz.de -- Sugardating: Intimität als Ware | |
> Sarah trifft Christian für guten Sex und gute Gespräche. Und er überweist | |
> ihr jeden Monat Geld. Ist das Prostitution – oder einfach nur ehrlich? | |
Bild: Sarah ist 28 und war mal verschuldet. Durch das Geld, das sie von Christi… | |
In ihrer früheren Beziehung kümmerte sie sich um alles. Finanziell, | |
organisatorisch und sogar für die Laune ihres Freundes fühlte sie sich | |
verantwortlich. Zehn Jahre lang. Über diese Rollenverteilung wurde nicht | |
konkret gesprochen und doch schien sie unumstößlich. | |
„Jetzt muss ich mir um nichts Gedanken machen“, sagt Sarah. „Jemand sorgt | |
für mich, und wenn’s mal persönlich nicht passt, dann such ich mir halt | |
jemand anderen.“ Nach Beziehungen sucht Sarah online, wobei filtern wohl | |
passender ist, denn eigentlich kann sie sich zurücklehnen. Sie wird genug | |
angeschrieben und muss sich nur entscheiden, wem sie ihre Aufmerksamkeit | |
schenkt. | |
Die Chats auf der Plattform werden schnell direkt. „Worauf stehst du denn | |
so?“ ist neben „Mir ist Diskretion sehr wichtig“ wohl die häufigste | |
Nachricht, die Sarah bekommt. Inzwischen trifft Sarah regelmäßig einen | |
Mann, der etwa 15 Jahre älter ist als sie und für die gemeinsame Zeit | |
bezahlt. | |
Sarah ist ein Sugarbabe. Die Intimitäten, die sie anbietet, sollen sich so | |
anfühlen, als wäre kein Geld geflossen. Sie hat dunkles Haar, eine schlanke | |
Figur, ist immer perfekt geschminkt. Bei unserem Treffen trägt sie einen | |
kurzen Collegerock, Bluse, Strickpullover, Kniestrümpfe und Stiefeletten. | |
Wir haben einen gemeinsamen Bekanntenkreis. | |
Sarah heißt eigentlich anders, um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich | |
sie anonymisiert. Sie ist 28, spricht eloquent, ist mitten im Studium, aber | |
geht dank ihres Aussehens problemlos als Erstsemester durch. Sie raucht | |
selbstgedrehte Zigaretten, trinkt Cola und lebt in Berlin. Im sexpositiven | |
Nachtclub Kitkat kennt sie sich aus, in Europa eher weniger. | |
## Es geht nicht nur ums Geld | |
Anfangs war es vor allem Neugier, später auch das Bedürfnis nach | |
Bestätigung, das sie [1][zum Sugardating brachte]. Vor allem aber reizte | |
sie die Möglichkeit, eigene Fantasien auszuleben und Menschen | |
kennenzulernen, die außerhalb ihres üblichen Umfelds liegen, sagt sie. Und | |
es bringt finanzielle Entlastung – weniger Sorgen um Rechnungen und den | |
Einkauf, mehr Weggehen mit Freunden, neue Klamotten. | |
„Meine Hauptmotivation ist aber nicht das Geld, sonst würde ich den | |
auswählen, der mir das höchste Angebot macht. Ich suche nach den | |
Erfahrungen, die mir das bringen kann. Ich will in den Urlaub fahren, meine | |
Kinks ausleben und ich selbst sein“, sagt Sarah. „Es gibt viele auf der | |
Sugardatingplattform, die One-Night-Stands anbieten und direkt einen | |
Preiskatalog parat haben.“ Das sei nicht ihr Ding. „Was ich mache, ist | |
Dating.“ | |
Obwohl sie mit sogenannten pay per meets, also Cash pro Date, mehr | |
verdienen könnte, trifft Sarah nur noch einen Mann und bekommt dafür einen | |
festen monatlichen Geldbetrag. Kennengelernt hat sie ihn, der in diesem | |
Text Christian heißen soll, auf mysugardaddy.com. Auch Christian bleibt zum | |
Schutz seiner Privatsphäre anonym. | |
Sarah verwendet auf der Plattform ein unscheinbares Profilbild im | |
Kapuzenpulli. Eines, das so auch auf Whatsapp stehen könnte. Mit großen | |
Augen blickt sie in die Kamera und gibt an, nach „Flirts, erotischen | |
Kontakten, Ausgehen und Shopping“ zu suchen. Die Sugardaddys können gezielt | |
nach Merkmalen wie Figur, Haarfarbe oder auch ethnischer Herkunft filtern. | |
Um andere Mitglieder anzuschreiben, muss man ein paar Euros bezahlen – es | |
sei denn, man wird selbst angeschrieben. | |
Sarah hat noch keinen Cent investiert. Ihr Postfach ist voller Nachrichten | |
von Männern, die aussehen, als wären sie Anfang 50, sich auf der | |
Onlineplattform aber zehn Jahre jünger machen. „Würdest du mich gerne | |
treffen?“ oder „Darf ich dich verführen?“ schreiben sie. Mehrere Dutzend | |
Nachrichten hat Sarah nicht einmal geöffnet. Viele Männer wollen ihr sagen, | |
wie süß sie sei und bleiben hartnäckig. Manche führen regelrechte | |
Selbstgespräche über die Vorteile eines Dates mit ihnen. Wenn Sarah | |
antwortet – was selten vorkommt –, wird es schnell konkret. Vorlieben und | |
Tabus werden geklärt: Kondome, kein Anal, kein [2][Natursekt]. | |
## Prostitution oder echte Beziehung | |
Seit der Gründung im Jahr 2010 haben sich auf der Sugardatingplattform laut | |
eigenen Angaben weltweit sieben Millionen Menschen angemeldet. Auch die | |
deutsche Seite sugardaddy.de gibt auf Anfrage an, seit 2015 einen Sprung | |
von gerade einmal 15.000 Mitgliedern auf über eine halbe Million gemacht zu | |
haben. 56 Prozent der Mitglieder seien Männer, 44 Prozent Frauen – letztere | |
meist in der Rolle der Sugarbabes. Auch Sugarmummys nutzen das Modell, aber | |
sie sind selten. Die amerikanische Seite seeking.com, eine weitere | |
Onlineplattform für Sugardating, hat laut Selbstauskunft weltweit 46 | |
Millionen Mitglieder, ein bedeutender Teil davon sind College-Studierende. | |
Zum Sugardating gibt es kaum wissenschaftliche Untersuchungen, | |
repräsentative Umfragen schon gar nicht, aber eine Vielzahl von | |
Definitionen. „Die Sichtweisen zu dem Phänomen reichen von der | |
Extremposition, es sei Prostitution, bis zur gegenteiligen Ansicht, es | |
handle sich um eine echte Beziehung – oder gar um eine Mischform aus | |
beidem“, sagt Carsten Stark, Professor an der Hochschule Hof, wo er den | |
Studiengang Wirtschafts- und Organisationssoziologie leitet und mit | |
Studierenden [3][zur „Ökonomisierung von Sex“ forscht]. | |
„Das Phänomen hat sich im Studierendenmilieu als eine Art Nebenjob | |
etabliert“, sagt Stark. Es sei zwar nicht neu, gewinne aber an Popularität: | |
„Heute sind wir gewissermaßen alle öffentliche Personen, weil wir mit | |
unseren Social-Media-Profilen ständig online sind.“ Da sei es nur ein | |
kleiner Schritt, auch Sex digital anzubahnen. „Sugardating ist eine weitere | |
Eskalationsstufe dieser Entwicklung.“ Die Hemmschwelle, sich auf einer | |
Sugardatingplattform anzumelden und dort die gleichen Fotos hochzuladen, | |
die man auch schon auf Instagram habe, sei gering. | |
Gleichzeitig berichten Sugarbabes auf Social Media von ihren Erfahrungen. | |
In Videos verkünden sie offen ihr Einkommen und erzählen von schrägen | |
Diensten, die dafür im Gegenzug von ihnen verlangt werden: Da will jemand | |
die Schuhsohlen einer Studentin ablecken und bezahlt dafür ihren | |
Amazon-Warenkorb oder bittet um eine Ohrfeige nach dem gemeinsamen | |
Restaurantbesuch. | |
Im Frühjahr 2024, als sie auf der Plattform so richtig aktiv wurde, habe | |
sie sich auch auf Dates für 150 Euro eingelassen, erzählt Sarah. Dabei lief | |
gleich das erste Treffen, mit einem Mann Mitte 40, richtig mies: Er wurde | |
übergriffig, akzeptierte ihr Nein nicht und drängte sie gegen eine | |
Hauswand, weil er sich einen Abschiedskuss erzwingen wollte. Zum Glück habe | |
sie sich losreißen können. Das vereinbarte Geld bekam Sarah nie. | |
Sie legte daraufhin eine längere Pause ein. Doch irgendwann war die Neugier | |
stärker. „Beim nächsten Date war ich vorsichtiger, habe mehr auf mein | |
Bauchgefühl gehört und darauf geachtet, dass ein Freund erreichbar ist. | |
Aufgeregt war ich trotzdem.“ Heute würde sich Sarah nicht mehr auf Dates | |
unter 300 Euro einlassen – die meisten Angebote lägen ohnehin darüber. | |
Die Onlineplattform Sugar-Forum [4][gibt „6 Tipps für angehende | |
Sugarbabes“]: „Für den Einstieg suchst du dir den Nettesten, nicht | |
denjenigen, der dir am meisten verspricht. Mit etwas Erfahrung kann dann an | |
der Prioritätensetzung nachjustiert werden.“ Weiter heißt es: „Vorsicht b… | |
sehr großzügigen Angeboten, das ist oft Fake. Wer nie vorhat zu bezahlen, | |
kann auch problemlos viel versprechen.“ Die Ratschläge im Forum klingen | |
harmlos, fast wie klassische Datingtipps. | |
## Emotionale Nähe für 1.200 Euro im Monat | |
Sarah ist bei „dem Netten“ geblieben. Sie trifft Christian mehrmals die | |
Woche, eigentlich immer, wenn er danach fragt. Dann übernachten sie | |
beieinander und er macht ihr kleine Geschenke, mit denen sie ihre Vorlieben | |
ausleben: meist Sextoys, Richtung [5][Fesselspiele]. Das ist so ein Kink | |
von ihnen. Sie seien sich aber auch sonst nah, sagt Sarah, weil sie nicht | |
nur sexuelle Grenzen austesten, sondern auch intellektuelle Themen | |
anschneiden. | |
Sarah studiert Psychologie – das gefalle Christian. Und ihr gefällt seine | |
Zuneigung: wenn er sie massiert oder Kerzen für sie anzündet. Wie | |
involviert Sarah ist, zeigen auch die Whatsapp-Nachrichten, die sie täglich | |
hin und her schicken. „Die Männer sind nicht nur auf der Suche nach Sex, | |
sondern auch nach Companionship“, sagt Sarah. „Sie wollen jemandem Fotos | |
aus dem Urlaub schicken.“ Emotionale Nähe für 1.200 Euro im Monat. Das ist | |
der Deal. | |
Während anfangs immer mindestens eine Freundin durch einen Live-Standort | |
über ihre Dates Bescheid wusste, flog Sarah im Februar zum ersten Mal mit | |
Christian in den Urlaub. Fünf Tage Südeuropa hat er ausgesucht, weil es | |
dort warm genug ist, um den ganzen Tag ohne Unterwäsche herumzulaufen – | |
noch so ein Kink. Christian ist laut eigener Aussage „Ministerialbeamter“ | |
und hat die komplette Reise für sie beide bezahlt. Ein teures Vergnügen. | |
Doch er sagt: Die Kontobewegungen bemerke er kaum. Und sie hat eine Stadt | |
kennengelernt, von der sie heute sagt, es sei die schönste, die sie je | |
gesehen hat. | |
Christian ist Mitte 40, schlank, sportlich und nicht einen Hauch nervös, | |
wenn er erzählt, dass er Frauen für Sex bezahlt. Wir treffen uns im Café | |
eines Hotels an der Warschauer Straße. Um uns herum wird an Laptops | |
gearbeitet. Christian drückt sich gewählt und sehr deutlich aus: „Meine | |
wertvollste Ressource ist Zeit.“ Für den Job reise er viel, auch wenn er in | |
Teilzeit arbeite. Er hat viele Hobbys, viele Freunde, zwei Kinder im | |
Teenageralter, ist passionierter Fahrradfahrer. Er sei glücklich getrennt | |
und gerne gebunden durch Sugardating. | |
Das sei für ihn ein Arrangement, bei dem jeder bekomme, was er wolle, sagt | |
Christian: „Es ergibt sich ohne große Anlaufzeit, weil beide Seiten zum | |
Geschäft kommen wollen.“ In jedem Fall sei es besser als konventionelle | |
Datingplattformen wie Bumble, meint er. Auch dort habe er nach der Trennung | |
von seiner Frau einige Zeit gedatet: „Die meisten Frauen dort waren mir | |
aber zu uninteressant und harmlos, keine spannenden Personen eben.“ Als er | |
2020 zum ersten Mal von Sugardating hörte, meldete er sich auf einer | |
Plattform an und stellte das Foto eines Fremden als Profilbild ein. | |
Diskretion hätte damals höchste Priorität gehabt, erzählt er, denn er war | |
noch mit seiner Frau zusammen. Moralische Bedenken habe er keine gehabt, | |
die Neugier überwog. | |
Nachdem er auch auf der Sugardatingplattform 90 Prozent der Frauen für zu | |
„langweilig“ befand, lernte er eine Erasmus-Studentin in Berlin kennen. | |
Nach einem Monat Sugardating entwickelte sich daraus eine Affäre, für die | |
er der Studentin kein Geld mehr überwies. Was sich ihm dabei enthüllte, | |
seien die eigenen sexuellen Bedürfnisse gewesen. „BDSM zum Beispiel. Sex im | |
Kitkat. Wenn man das einmal kennt, gibt’s keinen Weg zurück“, sagt | |
Christian. Eine schwere Krankheit, die er nur knapp überlebt habe, hätte | |
ihm gezeigt, dass er mit bestimmten Lebenserfahrungen lieber nicht warten | |
sollte. | |
„Ich möchte sexuelle Abenteuer erleben und Frauen mit großer Libido | |
kennenlernen – jemanden wie Sarah zu finden, ist schon etwas sehr | |
Besonderes“, sagt Christian. Eine „reine Triebbefriedigung“ sei das mit i… | |
nicht, er wünsche sich ja eigentlich eine monogame Beziehung. Intellekt und | |
ähnliche sexuelle Vorlieben hätten dabei Priorität – all das bringe Sarah | |
mit. Immer wieder betont Christian während des Gesprächs, dass auch Sarahs | |
Fantasien Raum fänden und Macht nur auf „sexueller Ebene“ eine Rolle | |
spiele. Er habe seine Vorlieben aber bislang nur mit „devoten Frauen“ | |
ausgelebt. | |
„Es fühlt sich so an, als wären wir zusammen“, habe Christian im Urlaub | |
mehrmals zu ihr gesagt, erzählt Sarah. Gilt dasselbe auch für sie? Sarah | |
weicht aus. Sie kenne ja nur ihre zehnjährige Ex-Beziehung und so fühle es | |
sich mit Christian nicht an. Mehr als die vereinbarten 1.200 Euro pro Monat | |
habe sie für die fünf Tage zusätzliches Rollenspiel nicht bekommen. | |
War das Urlaub? | |
Städte zu Fuß erkunden, teuer Essen gehen, ein Ausflug zu einer Burg, er | |
habe auf ihrem Schoß genappt, „sehr pärchenmäßig“, die Abende in Bars �… | |
erinnert sich Sarah. „Er ist sehr touchy gewesen“, sagt sie. Und: „Ich | |
hatte schon das Gefühl, dass einige Leute wegen unseres Altersunterschieds | |
sehr judgy geschaut haben. Das war ungewohnt und auch ein bisschen | |
unangenehm.“ Beim Frühstück im Hotel hätten die prüfenden Blicke sie eher | |
gestört als nachts in der Sofaecke einer Bar. Und dann sei da noch die | |
Sache mit der Rückzugsmöglichkeit gewesen: Zeit für sich hätte sie im | |
gemeinsamen Urlaub eigentlich schon ab und zu gebraucht. Aber „es ist | |
schwerer, sich das herauszunehmen, weil eine geschäftliche Beziehung | |
dranhängt“, sagt Sarah. Dieses Bedürfnis nicht anzusprechen, sah sie als | |
ihre „Verpflichtung“ an. | |
## Ist Prostitution immer Gewalt? | |
„Das Sugarbabe verkauft nicht nur ihren Körper, sondern sich als Person“, | |
sagt Carsten Stark. „Das wäre kein Problem, wenn es auf Augenhöhe | |
stattfände. Aber die Absicht, Sex zu haben, liegt beim Mann. Die | |
Hauptmotivation der Frau ist nicht Sex oder Liebe, sondern Geld.“ Es sei | |
eine veralltäglichte Form von Prostitution, so der Soziologe. Sarah | |
hingegen betont immer wieder, wie viel Spaß ihr der Sex mit Christian mache | |
und dass sie dabei Vorlieben ausleben könne, die sie in ihrer zehnjährigen | |
Beziehung zuvor vermisst habe. „Meine Kinks sind sehr speziell, es ist | |
nicht so leicht, da einen Gleichgesinnten zu finden.“ | |
Prostitution ist in Deutschland seit 2002 legal und als reguläre | |
Dienstleistung anerkannt. Das ermöglicht Sexarbeiter:innen, sich | |
sozialversichern zu lassen, Verträge abzuschließen und rechtlich gegen | |
Ausbeutung vorzugehen. Beim Sugardating fließt Geld jedoch meist in Form | |
von Trinkgeldern oder Geschenken – und auch die monatlichen Zuwendungen | |
melden zumindest Sarah und Christian nicht dem Finanzamt. | |
Die Liberalisierung von Prostitution ist nicht unumstritten. | |
Kritiker:innen argumentieren, das deutsche Modell begünstige vor allem | |
Zuhälter und Bordellbetreiber, während Befürworter:innen es als | |
wichtigen Schritt zur Entkriminalisierung von Sexarbeitenden sehen. Anna | |
Schreiber gehört zu den Kritikerinnen. | |
Die Psychotherapeutin aus Karlsruhe berät häufig Frauen, die aus der | |
Prostitution ausgestiegen sind – und sie kennt das System von innen, in den | |
1980er Jahren war sie selbst zwei Jahre lang als Sexarbeiterin tätig. Heute | |
sagt sie: „Prostitution ist immer Gewalt und schadet Frauen grundsätzlich.“ | |
Sugardating sei ein niederschwelliger Einstieg in die Prostitution. „Bei | |
mir war es der Escort.“ Schreiber setzt sich [6][für das sogenannte | |
Nordische Modell ein], das den Kauf von Sex unter Strafe stellt, während | |
Sexarbeiter:innen straffrei bleiben und Ausstiegshilfen erhalten. | |
Mit dem Einstieg in die Prostitution beginne oft eine Dissoziation, sagt | |
Schreiber: „Das passiert nicht bewusst, sondern automatisch – ein | |
schützender und grundsätzlich gesunder Mechanismus der Psyche.“ Mit dem | |
psychologischen Fachbegriff meint Schreiber ein Gefühl der emotionalen | |
Betäubung: nicht wirklich anwesend zu sein oder sich von außen zu | |
beobachten. „Sugardating tarnt die unfreiwillige sexuelle Handlung noch | |
stärker als etwa Zwangsprostitution, wo den Frauen bewusst ist, dass ihnen | |
Gewalt widerfährt.“ | |
Die angeblichen Vorlieben der Sugarbabes sind Schreibers Meinung nach oft | |
Selbstvermarktung: „Ein Spiel, das von den Männern erwartet wird.“ Auch sie | |
selbst habe damals von Freiwilligkeit gesprochen. Doch nach dem Ausstieg | |
habe es zehn Jahre gebraucht, bis sie wirklich gespürt habe, welche | |
Grenzüberschreitungen sie erlebt hatte. | |
„Viele Frauen haben bereits vor dem Einstieg in die Prostitution | |
Erfahrungen mit Grenzüberschreitungen, emotionaler Vernachlässigung oder | |
Bindungsstörungen gemacht“, sagt Schreiber. „Der Schritt ins Sugardating | |
fällt noch mal leichter, weil es nach außen hin klare Abmachungen und einen | |
vermeintlich netten Sugardaddy gibt. | |
Doch die Verarbeitung danach ist oft schwieriger. Nach dem Gedanken ‚Ich | |
habe es freiwillig getan und es gab klare Regeln‘ kommt schnell das Gefühl: | |
Also bin ich selbst schuld.“ Auch die Männer würden ihre eigene Scham | |
verdrängen, sagt Schreiber: „Sie zahlen für etwas, das andere umsonst | |
bekommen. Diese Scham wird dann auf die Frau übertragen, weil der Mann sie | |
nicht wahrhaben will – ein klassischer Fall von Opferscham.“ | |
Christian rechtfertigt Sugardating damit, dass es im Grunde genommen die | |
„ehrlichere Beziehung“ sei. Denn auch bei traditionellen Beziehungen gebe | |
es die transaktionelle Komponente und damit die Abhängigkeit eines Partners | |
– das sei nur nicht so explizit, findet er. Beim Sugardating würden die | |
Karten immerhin offen auf den Tisch gelegt. | |
Der Soziologe Carsten Stark kennt diese Argumentation aus den Foren, die er | |
untersucht hat: „Sugardating wird dort oft mit anderen Beziehungsformen | |
verglichen. Aber es gilt als moralisch fragwürdig, es mit Prostitution | |
gleichzusetzen.“ Er sieht das anders, denn für ihn bleibt das | |
Machtverhältnis unausgewogen: „In dieser Logik wird völlig ausgeblendet, | |
dass sich Sugardating rein an den sexuellen Bedürfnissen eines Partners | |
orientiert. Männer kaufen sexuelle Dienstleistungen – dieses Verhältnis ist | |
weder frei von Abhängigkeiten noch von Macht. Sugarbabes können sich den | |
Wünschen des Sugardaddys nicht entziehen, ohne die Beziehung zu riskieren.“ | |
## Der Mann gibt die Richtung vor | |
Emanzipiert sei das nicht, findet auch Sarah: „Der Mann bezahlt und kümmert | |
sich um alles, er sorgt für die Frau, ist älter und erfahrener. Die Frau | |
ist hübsch und gut im Bett.“ Trotzdem ist für sie völlig klar: „Ich habe | |
die Macht, mir herauszunehmen, nur das zu machen, worauf ich Lust habe.“ | |
Das klingt selbstbestimmt und frei – aber dennoch besteht ein | |
Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihr und dem Mann, den sie datet. | |
Wenn sie bestimmte Wünsche nicht mitmacht, riskiere sie die | |
(Geschäfts-)Beziehung, sagt sie. Weil er sie darum bittet, lädt Sarah | |
Christian vier Tage nach dem Urlaub zu sich ein, obwohl sie erkältet auf | |
der Couch liegt. Einen weiteren Urlaub im August hat er auch schon für sie | |
beide gebucht. „Drei Tage sind voll optimal, fünf Tage waren zu viel | |
permanente Zeit miteinander“, sagt Sarah und bezweifelt, dass Christian das | |
auch so sieht. | |
Natürlich habe sie manchmal Zweifel, „ob es nicht vielleicht doch ungeahnte | |
psychische Folgen für mich haben könnte“. Aber trotz – oder vielleicht | |
gerade wegen – der intensiven Nähe, die immer wieder neu ausgehandelt und | |
begrenzt werden muss, bleibt Sarah bei Christian. Auch, wenn sie hin und | |
wieder mit sich zu ringen scheint, ob es nicht doch Zeit wäre, einen | |
Schlussstrich zu ziehen. | |
„Ich möchte mich wohlfühlen wie bei einem normalen Date, deshalb finde ich | |
es super strange, über Geld zu verhandeln“, sagt Sarah, solche Gespräche | |
würden den „Dating-Charakter“ zerstören. Gleichzeitig stellt sie klar, da… | |
sie keine Beziehung möchte: „Das wären mir bei einem Sugardaddy zu viele | |
Verpflichtungen.“ Doch hier wird es paradox: Kann Nähe sich echt anfühlen, | |
ohne in eine Form von Verbindlichkeit überzugehen? | |
Etwa 11.000 Euro hat Sarah bislang verdient, auf ihrem Bankkonto ist davon | |
allerdings nichts mehr übrig. Neben den Semestergebühren und der | |
Krankenkasse hat Sarah mit dem Geld auch ihren Dispo ausgeglichen. Sie habe | |
aber auch ihren Lebensstil angepasst, da sie nicht mehr so sehr darauf | |
achten müsse, wie viel Geld sie ausgebe. Das erste Mal Geld zu bekommen, | |
habe sich wie ein High angefühlt, sagt sie. „Vor allem am Anfang habe ich | |
alles rausgeschleudert. Das ist gefährlich, denn es kann süchtig machen.“ | |
Sarah war früher verschuldet. Sie weiß, wie es ist, mit dem Geld nicht | |
auszukommen, Rechnungen nicht bezahlen zu können oder sich sehr | |
einschränken zu müssen. Während ihres Studiums habe sie freier von | |
Geldsorgen sein wollen. Geld bedeutet für sie Sicherheit, doch es mit einem | |
„erfüllten Privatleben“ auf diese Weise zu verdienen, scheint genauso eine | |
Rolle zu spielen. | |
Sarah „reinvestiert“ in sich: Wäre sie nicht Sugarbabe, würde sie sich die | |
teure Unterwäsche nicht kaufen und sich auch keine regelmäßigen | |
Beauty-behandlungen für rund 200 Euro pro Sitzung leisten. Sie freut sich | |
aber auch darüber, sich diesen Luxus nun finanziell erlauben zu können. | |
„Natürlich erhöhen die Dates den Druck, auf eine bestimmte Art attraktiv zu | |
sein. Mit dem Geld optimiere ich mich zum Teil auch für das nächste Date“, | |
sagt sie. | |
Christian sagt, er investiere gerne in teure Rennräder, und auch mit den | |
Ausgaben für sein Datingleben ist er zufrieden: „Ich finde, das Geld ist | |
bei Sarah gut angelegt. Sie finanziert sich ein sorgenfreies Leben und vor | |
allem ihr Studium damit. Sie kann ihr Geld ausgeben, wofür sie möchte. Aber | |
wäre es die Gucci-Handtasche, würden wir nicht so gut zusammenpassen. | |
Statussymbole interessieren mich nicht.“ | |
Die ambivalente Deutung ihrer Beziehung führe bei Sugardaddys zu logischen | |
Brüchen, erklärt Soziologe Carsten Stark: „Sie wollen Sex kaufen und | |
dadurch gleichzeitig legitimieren, dass es nicht um Sex, sondern um eine | |
qualitativ hochwertige Beziehung geht.“ | |
In seiner Studie hat Stark die interviewten Sugardaddys in „Idealtypen“ | |
kategorisiert. Neben „lüsternen Opportunisten“ und „frustrierten | |
Schürzenjägern“ benennt die Studie auch den „narzisstische Romantiker“. | |
Dieser sei „Ich-bezogen, drückt sich gewählt aus und stilisiert sich als | |
weltgewandter Mann und Charmeur. Er distanziert sich vom Klischee der | |
‚alten, geilen Böcke‘ und fühlt sich ihnen überlegen, weil er die | |
Intelligenz und persönliche Reife der Sugarbabes als mindestens genauso | |
wichtig einstuft wie ihre Attraktivität. Dabei kann er Gefühle für sein | |
Sugarbabe entwickeln“, schreibt Stark in der Studie. | |
Und wie geht es den Sugarbabes damit? „Die Frauen spüren in späteren | |
Beziehungen genau, was ein Mann will und wie sie darauf reagieren sollen“, | |
sagt die Psychotherapeutin Anna Schreiber. „Sie haben aber systematisch | |
verlernt, ihren eigenen Körper wahrzunehmen, auf sich selbst zu hören und | |
ihre Bedürfnisse klar zu kommunizieren.“ Eine Generation, für die der | |
Verkauf von Sex dermaßen normal sei, habe es zuvor nicht gegeben. Das | |
wiederum verstärke die Nachfrage erheblich. Schreiber sagt: „Ohne die | |
Legalisierung der Prostitution gäbe es diese Plattformen nicht.“ | |
Doch auch als Geschäftsmodell taugt Sugardating nur eingeschränkt: „Es ist | |
schnelles Geld, aber vermutlich das instabilste berufliche Verhältnis, das | |
man haben kann, weil es jederzeit von beiden Seiten beendet werden kann“, | |
sagt Sarah. Sie hat deshalb zusätzlich einen Job als Werkstudentin. Diese | |
sichere Einnahmequelle ist ihr wichtig. | |
Sarah kennt die Kritik an ihrem Lebensmodell. Sie weiß von den | |
Expert:innen, die über psychische Belastungen und unscharfe Grenzen | |
sprechen, denen viele Frauen in ähnlichen Situationen ausgesetzt sind. Sie | |
sieht Sugardating als Übergangslösung, maximal bis sie in drei bis vier | |
Jahren mit dem Studium fertig ist. „Ich möchte ab dem Punkt Karriere | |
machen“, sagt sie. „Ich glaube, dass ich mir ein gutes Leben dann selbst | |
finanzieren kann.“ Aktuell sei sie aber noch auf die 1.200 Euro im Monat | |
von Christian angewiesen. Der wiederum fordert für das Geld auch | |
Exklusivität, außer ihm soll Sarah keine Männer daten. Sarah sagt, sie sei | |
momentan ohnehin nicht bereit für eine verbindliche Beziehung. Aber steckt | |
sie nicht mittendrin? | |
1 Jun 2025 | |
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