# taz.de -- Landesparteitag der Linken: „Believe the hype!“ | |
> Die Linke Berlin ist euphorisch. Sie wählt Kerstin Wolter zur neuen | |
> Chefin. Maximilian Schirmer bleibt Co-Chef, doch sein mäßiges Ergebnis | |
> hat Gründe. | |
Bild: Kämpferisch und selbstbewusst: Kerstin Wolter und Maximilian Schirmer, d… | |
Berlin taz | Das hätte es früher nicht gegeben: Der Landesparteitag der | |
Berliner Linken, der am Wochenende im Dong Xuan Haus in Lichtenberg tagt, | |
beginnt mit dem Auftritt eines Liedermachers, das Mittagessen ist kostenlos | |
und 49 Prozent der Delegierten sind weiblich. Das neue Spitzenduo aus | |
Kerstin Wolter und Maximilian Schirmer tritt kämpferisch und selbstbewusst | |
auf. Oberflächlich betrachtet verläuft alles harmonisch. | |
Neu sind für manche Delegierte auch die elektronischen Geräte, die zu | |
Beginn für die Abstimmungen verteilt werden. Ein Mann im Punkeroutfit und | |
mit grünen Haaren hat dazu noch Fragen, eine Frau mittleren Alters | |
beantragt erfolglos, dass auf herkömmliche Art abgestimmt werde. Eine | |
Testabstimmung zeigt, dass Rock und HipHop hier die beliebtesten | |
Musikrichtungen sind. Dann geht es los. | |
Über die politische Lage in der Stadt, die die Linke sich „zurückholen“ | |
will, ist man sich in der Generaldebatte einig: Die Kürzungen des | |
schwarz-roten Senats sind demnach fatal, die Olympia-Bewerbung der | |
Hauptstadt ist Geldverschwendung und die Streikenden an der Charité sollen | |
unterstützt werden. Die Linkspartei solle eine „Mieten-Antifa“ sein und das | |
Tempelhofer Feld nicht bebaut werden. Dass die Linke in Berlin [1][bei der | |
Bundestagswahl rund 20 Prozent abgeräumt hat], zeigt für den Delegierten | |
Niklas Schenker, die Partei könne Berge versetzen. Er rät: „Believe the | |
hype“. Die Delegierten lachen und klatschen begeistert. | |
Auch jedes Mal, wenn jemand den Parteislogan „Niemals alleine, immer | |
gemeinsam“ aufsagt, wird geklatscht. Etwas allein scheint da nur der | |
Delegierte, der die EU abschaffen will und vom „Finanzkapital“ spricht. | |
Kurz darauf empfiehlt ein anderer für die erfolgreiche Erneuerung mehr | |
politische Bildung innerhalb der Partei, etwa zu Antisemitismus und | |
marxistischen Basics. | |
## Nichts Neues zu Nahost | |
Das Thema Nahost wird weder ausgespart noch führt es zum Eklat. Die einen | |
beschweren sich, dass sie vom inzwischen aus der Partei ausgetretenen | |
Sebastian Scheel, der noch immer Teil der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus | |
ist, keine Räume für die Vorführung des Films „No Other Land“ bekommen | |
hätten. Manche wollen, dass der [2][nach Antisemitismus-Vorwürfen | |
ausgeschlossene Ramsis Kilani] zurückkommen darf. Ein Antrag, in dem es um | |
vier Personen geht, die für Gaza demonstriert hatten und die das Land | |
Berlin zur Strafe ausweisen wollte, erledigt sich bereits vor Beginn des | |
Parteitags, da ein Gericht den Ausweisungsplänen vorerst einen Riegel | |
vorgeschoben hat. | |
Die [3][scheidende Vorsitzende Franziska Brychcy] erinnert daran, dass der | |
Vorstand zahlreiche Beschlüsse gegen die Repression der | |
Palästina-solidarischen Bewegung und nur einen einzigen zum Schutz des | |
jüdischen Lebens gefasst habe. Parteimitglied Shaked Spier bittet darum, | |
dass sofort alle aufhören, „an der Eskalationsspirale zu drehen“ und man | |
stattdessen miteinander rede. Gelöst wird der Konflikt, der sich wie ein | |
roter Faden durch viele Beiträge zieht, nicht. Etwas Neues beizutragen hat | |
auch niemand. | |
Dann beschließen die Delegierten einmütig den Leitantrag, in dem es um | |
Wohnen, Klima sowie Soziales geht. Ein Sicher-Wohnen-Gesetz könnte, so ein | |
Vorschlag darin, auch private Vermieter verpflichten, die Hälfte ihrer | |
Wohnungen an Menschen mit normalen Einkommen zu vermieten. Am Ziel, | |
Konzerne wie Deutsche Wohnen zu enteignen, hält der Landesverband fest, | |
darüber hinaus sollen leer stehende Einkaufszentren zu „Sorgezentren“ | |
werden. | |
Forderung an die Fraktion | |
Einen der wenigen kontroversen Beiträge macht der Neuköllner Delegierte | |
Rouzbeh Taheri, Mitbegründer der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen. | |
Er erinnert an den Beschluss, dass aus der Partei ausgetretene Mitglieder | |
nicht in der Fraktion bleiben sollten. „Darüber darf kein Mantel des | |
Schweigens gelegt werden. Die Mitglieder müssen wissen, woran sie sind“, | |
sagt Taheri der taz. | |
Mit den Ausgetretenen meint er den ehemaligen Landesvorsitzenden und | |
Kultursenator Klaus Lederer, die Ex-Sozialsenatorin Elke Breitenbach, den | |
Ex-Fraktionschef Carsten Schatz sowie Ex-Stadtentwicklungssenator Sebastian | |
Scheel. Sie waren nach dem vorangegangenen Parteitag im Oktober 2024 | |
[4][unter Protest gegen Antisemitismus in der Partei ausgetreten], sind | |
aber weiterhin Teil der Fraktion im Abgeordnetenhaus. Nur die kann formal | |
über einen Ausschluss entscheiden. | |
Den lautesten Applaus des Tages erntet das kostenlose Mittagessen für die | |
Delegierten. Das hat der neue Geschäftsführer Bjoern Tielebein eingeführt. | |
„Weil ich keinen Bock mehr auf eine Zweiklassen-Linke habe, bei der die | |
einen ins Restaurant können und die anderen zur Imbissbude müssen“, sagt | |
der Marzahner. | |
Von allen Wahlen am Samstag sahnt er mit 147 von 160 abgegebenen Stimmen | |
das beste Ergebnis ab. Er selbst vermutet, das liege daran, dass er | |
Kommunalpolitiker und schon seit mehr als 20 Jahren in der Linken aktiv | |
ist. Andere sagen der taz, sie schätzten seine vermittelnde Art. Tielebein, | |
der klar israelsolidarisch ist, schaffe es auch beim Thema Nahost, alle | |
Seiten einzubinden. Außerdem ist er bekannt für seine Witze. In seiner | |
Bewerbungsrede stellt er sich zum Beispiel als „kommunistischer… äh | |
kommissarischer Geschäftsführer“ vor. | |
Die neue Doppelspitze | |
Verhaltener fällt die Zustimmung für das neue Duo an der Spitze des | |
Landesverbands aus. [5][Kandidiert hat Kerstin Wolter], bisher | |
Bezirksvorsitzende der Partei in Friedrichshain-Kreuzberg. Sie ist 1986 in | |
Perleberg geboren, studierte unter anderem Umwelt- und Sozialwissenschaften | |
und war Mitarbeiterin von Katja Kipping, der früheren Bundesvorsitzenden | |
und Exsozialsenatorin. Die feministische Marxistin kommt aus der | |
Bewegungslinken. | |
In ihrer Bewerbungsrede wünscht sich Wolter „eine solidarische Stadt, die | |
sich unterhakt und keine, in der die Ellenbogen ausgefahren werden“. Ihre | |
Vision: Sie will die von der Linken entwickelten Hilfsangebote wie | |
Sozialberatung, Heizkostencheck und Solidaritätsfonds zu einem „Netz der | |
Solidarität über die gesamte Stadt spannen“. | |
Eine Regierungsbeteiligung der Linken schließt Wolter nicht aus. Während am | |
Samstagvormittag ein Antrag abgelehnt wird, der aus dem guten Wahlergebnis | |
der Linken einen Auftrag zur Regierungsbereitschaft ableiten wollte, sagt | |
die neue Vorsitzende der taz dazu: „Mir ist wichtig, was am Ende dabei rum | |
kommt und ob die Regierungsbeteiligung einer Linken das Leben der Menschen, | |
die mittel bis wenig haben, konkret verändert.“ Die Delegierten wählen sie | |
schließlich mit 71,9 Prozent. | |
Mit ihr kandidiert erneut Maximilian Schirmer, der schon seit zwei Jahren | |
Landesvorsitzender ist. Er ist zudem Chef der Linksfraktion in der Pankower | |
Bezirksverordnetenversammlung und Bundesvize der Partei. In seiner Rede | |
teilt der Politikwissenschaftler gegen die „Zerstörungskoalition“ von CDU | |
und SPD aus: Die Stimmung in der Stadt befinde sich „irgendwo zwischen | |
Siedepunkt und Resignation“, so der Mittdreißiger. Er formuliert on point: | |
„Auch unter einer neu sanierten Brücke ist Obdachlosigkeit eine menschliche | |
Tragödie.“ | |
## Co-Chef Schirmer will „rote Metropole“ | |
Um das zu ändern, schlägt Schirmer konkrete Maßnahmen vor, wie „Geld | |
reinkommen“ könnte: höhere Grunderwerbsteuer, Vergnügungssteuer für | |
Glücksspiel-Unternehmen, mehr Steuerprüfer und eine Vermögenssteuer, die in | |
die Kommunen fließen würde. Er will eine „rote Metropole“ und kündigt | |
selbstbewusst an: „Wir werden bei der nächsten Wahl stärkste Kraft.“ | |
Trotzdem erhält er nur 60,7 Prozent der Stimmen. | |
Hört man sich nach Gründen für dieses eher mäßige Ergebnis um, platzen die | |
Delegierten gerade zu vor Erklärungen: Die einen meinen, Schirmer tanze auf | |
zu vielen Hochzeiten, andere vermuten, er sei aus feministischen Gründen | |
abgestraft worden. Eine Delegierte sagt der taz, sie sei mit dem | |
Gesamtpaket unzufrieden. Wolter finde sie toll, und formal sei die | |
Geschlechterparität zwar gewahrt, doch nun seien ein Vorsitzender, der | |
Geschäftsführer und der Schatzmeister männlich. | |
Ein weiterer Grund könnte sein, dass Schirmer als Zögling von Klaus Lederer | |
gilt, dem ausgetretenen Exvorsitzenden. Von dem habe er sich zwar | |
distanziert, doch das nähmen ihm die einen krumm, während die anderen ihm | |
gerade deshalb noch nicht vertrauten, schätzt ein anderer Delegierter. | |
Einige machen Schirmer dafür verantwortlich, dass [6][beim letzten | |
Parteitag der Antisemitismus-Streit eskaliert ist]. | |
Mehrere migrantische Delegierte sagen der taz, sie hätten es besser | |
gefunden, wenn statt Schirmer noch andere Leute kandidiert hätten. Mehrmals | |
genannt wird zum Beispiel der Bezirksvorsitzende aus Treptow-Köpenick, | |
Moritz Warnke. Doch der hatte seinen Hut gar nicht in den Ring geworfen. | |
„Das neue Spitzenduo hat ja noch in derselben Sitzung, in der Franziska | |
Brychcy ihren Rückzug erklärt hat, seine Kandidatur angekündigt“, beschwert | |
sich eine hochrangige Person aus der Partei. Dadurch seien sehr schnell | |
Fakten geschaffen worden. „Diese Vorgehensweise hat Leute, die nicht schon | |
seit 20 Jahren dabei sind, abgeschreckt.“ | |
Was die Neuen sich wünschen | |
Eine der mitreißendsten Reden des Tages hält Elif Eralp aus Kreuzberg, die | |
manche aus ihrem Bezirk gern als Direktkandidatin für den Bundestag gesehen | |
hätten. Sie will Politik, „die über den Kapitalismus hinausweist“ und dass | |
die Linke „mehr als eine Partei im Parlament“ ist. Später wird sie zu einer | |
der Stellvertreter*innen Landesvorstands gewählt. | |
Als die frauenpolitische Referentin der Bundes-Linken, Pilar Caballero | |
Alvarez, für den erweiterten Landesvorstand kandidiert, spricht sich eine | |
junge Delegierte aus Reinickendorf, die bis dahin ganz ruhig in der letzten | |
Reihe gestrickt hat, für Caballero Alvarez aus: „Die vielen FLINTA in | |
unserer Stadt haben zu Recht die Erwartung, dass wir sie vertreten.“ | |
Seit Oktober hat sich die Zahl der Berliner Linken-Mitglieder auf fast | |
15.500 verdoppelt. Damit diese über das Programm für die | |
Abgeordnetenhauswahl 2026 mit entscheiden dürfen, fordert ein Antrag, die | |
neuen Delegierten früher zu wählen als üblich. Der Vorstand will darüber | |
beraten. | |
„Ich werde dafür sorgen, dass das tatsächlich passiert und nicht | |
verschleppt wird“, erklärt die neu in den Vorstand gewählte Ongoo | |
Buyanjargal im Gespräch mit der taz. Sie ist gewerkschaftliche Organizerin. | |
Ihre Eltern sind aus der Mongolei eingewandert, sie sagt, sie wisse „sehr | |
genau, wie die Baseball-Schläger-Jahre waren“. Neben dem Kampf gegen | |
Rassismus nennt sie als ihr Ziel: strukturelle Erneuerung. | |
Ein erfahrener Hauptamtlicher sagt der taz hingegen: Die Neuen sollten erst | |
einmal in den Bezirken ankommen und die Partei kennenlernen, bevor sie | |
Delegierte würden. Buyanjargal hält das für falsch: „Viele sind zwar in der | |
Partei neu, politisch aber schon sehr erfahren.“ Damit der Hype sich | |
konsolidiert, müsse man die Neuen, „und das sind sehr viele Frauen“, auch | |
richtig mitmachen lassen. Inwiefern das gelingt, dürfte in nächster Zeit | |
eine der spannenden Fragen im Landesverband sein. | |
## Wie die Erneuerung gelingen kann | |
Die Bereitschaft, zumindest von Teilen der Alteingesessenen, dass sich die | |
Partei erneuert, zeigt sich in mehreren Momenten: Zum Beispiel als | |
Neumitglied Tilli Ripp einen Antrag stellt. Ihr sei aufgefallen, dass in | |
der Fragerunde zu Kandidaturen oft nicht alle zu Wort kämen. Also schlägt | |
sie eine Redezeitbegrenzung von 30 Sekunden pro Person vor. Die Delegierten | |
nehmen die Idee an, sie gilt ab sofort. | |
Dann beantragt Luisa Mayer vom Jugendverband solid eine Satzungsänderung: | |
Künftig soll solid den jugendpolitischen Sprecher vorschlagen dürfen. Der | |
neue Geschäftsführer Tielebein unterstützt das, der Antrag bekommt eine | |
große Mehrheit. | |
Als für den Posten später Johannes Franck antritt, meldet sich eine ältere | |
Dame und fragt: „Wie können wir älteren Genossen denn Eure Kampagne gegen | |
die Wehrpflicht unterstützen?“ Franck antwortet, dass er die Erfahrung aus | |
bereits geführten Kämpfen schätze – und wird gewählt. | |
Wer diesen für linke Verhältnisse revolutionär freundlichen Umgang der | |
Generationen miteinander beobachtet, dürfte der Delegierten zustimmen, die | |
betont: „Die Trennlinie in unserer Gesellschaft verläuft nicht zwischen alt | |
und jung, sondern zwischen oben und unten.“ | |
Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Artikel hieß es, | |
Delegierte hätten sich beschwert, „dass sie von der Partei keine Räume für | |
die Vorführung des Films „No Other Land“ bekommen hätten“. Tatsächlich | |
beschwerten die Delegierten sich, dass sie von Sebastian Scheel, der | |
inzwischen nicht mehr Mitglied der Partei ist, keine Räume erhalten hätten. | |
18 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/BU2025/afspraes/index.html | |
[2] /Streit-um-Antisemitismus/!6054218 | |
[3] /Berliner-Linke-sortiert-sich-neu/!6071731 | |
[4] /Linke-in-Berlin/!6044784 | |
[5] /Designierte-Chefin-der-Berliner-Linken/!6084797 | |
[6] /Linkspartei-streitet-ueber-Antisemitismus/!6039646 | |
## AUTOREN | |
Lotte Laloire | |
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