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# taz.de -- Hausbesuch: Ganz schön Platt
> Johanna Bojarra ist zweisprachig aufgewachsen, mit Hochdeutsch und Platt.
> Letzteres wurde der Rostockerin zur Leidenschaft – und zum Beruf.
Bild: Aus einer Fischerfamilie kommt Johanna Bojarra – trotz Deko – nicht
Sie steht auf der Bühne, geht in Schulen, schreibt Kinderbücher und sitzt
im Bundesrat für Niederdeutsch. Alles, um Plattdeutsch unter die Leute zu
bringen.
Draußen: Rostock-Gehlsdorf. Am Bootsanleger rostet ein Stahlsegelboot vor
sich hin. Einst wählten Schiffskapitäne und Reeder den Rostocker Stadtteil
am Ufer der Warnow als Alterssitz und bauten sich herrschaftliche Häuser.
Im Laufe der vergangenen Jahre entstanden in zweiter und dritter Reihe,
wenige hundert Meter vom Flussufer entfernt, schnörkellose
Mehrfamilienhäuser. In einem wohnt Johanna Bojarra. Von ihrem Balkon schaut
sie im Winter durch die Bäume bis zum Fluss. Jetzt, da sie wieder Blätter
tragen, ist die schöne Aussicht verschwunden.
Drinnen: „GÖNN DI WAT!“ steht auf einem Bierdeckel, eingeklemmt am Rahmen
des Spiegels im Flur. „Gönne dir etwas!“ Ein Stück Fischernetz hängt im
Kinderzimmer an der Wand, über einer Zeichnung mit Kutter und Leuchtturm
steht „Heimathafen“. Unter dem Balkonfenster im Wohnzimmer zieht Johanna
Bojarra die Jungpflanzen für den Garten vor.
Die Muttersprache: Johanna Bojarra ist in den Rostocker Stadtteilen
Evershagen und Lichtenhagen aufgewachsen. „Nein, nicht auf dem Dorf“, sagt
sie. Sie ist ein Stadtkind, ein Plattenbaustadtkind. „Und auch aus einer
Familie von Fischern oder Hafenarbeitern komme ich nicht. Das sind die
typischen Klischees, die Leute mit Plattdeutsch verbinden.“ Aber kein Leben
ist ohne Widersprüche, in ihrer Wohnung bedient sie die Klischees, wie die
Deko zeigt.
Sprache: Ihre Mutter kommt aus der Nähe von Parchim. Für sie und Bojarras
Großeltern war Plattdeutsch die Alltagssprache, die sie auch nach dem Umzug
nach Rostock in der Familie pflegen wollte. „Meine Mutter hatte sich an
verschiedenen Orten in unserer Wohnung kleine Zettel hingelegt. ‚Marita
schnack platt‘ stand drauf.“ Das sollte sie daran erinnern, mit ihrem Kind
von klein auf Platt zu sprechen. „Für mich war das völlig normal. So ist
Plattdeutsch im wahrsten Sinne meine Muttersprache.“
Alleinstellungsmerkmal: Mutter Marita engagierte sich für Plattdeutsch auch
außerhalb des Haushalts und nahm die kleine Johanna mit zu Lesungen und
Veranstaltungen. Da standen sie dann auch zu zweit auf der Bühne und trugen
etwas auf Platt vor. Die „lütte Johanna“ merkte, dass sie etwas kann, was
andere Kinder nicht können. Das hat ihr gefallen. „Es war ein
Alleinstellungsmerkmal und irgendwie cool.“
Begeisterung: Sie war 4 oder 5 Jahre alt, als sie in der NDR-Radiosendung
„De Plappermoehl“ ein Gedicht vortragen durfte. „Mir hat so was immer viel
Spaß gemacht. Allerdings, als Jugendliche war das Ganze dann uncool, weil
niemand von meinen Freunden Platt sprechen konnte und die das auch nicht so
interessierte.“ Mit Namen wie [1][Heidi Kabel], der Schauspielerin am
Ohnsorg-Theater, wo Platt gesprochen wurde, oder [2][Fritz Reuter] und
[3][John Brinckman], Schriftsteller, die auf Niederdeutsch schrieben,
hätten die wenigsten etwas verbunden. In ihrer Abiturzeit kommt die
Begeisterung für Plattdeutsch dann jedoch zurück. Bojarra schreibt ihre
Facharbeit über „die Entwicklung der niederdeutschen Sprache“. Die will sie
tradieren. Auch in die nächste Generation.
Der Sohn: Heute ist Bojarra 36 und hat einen dreijährigen Sohn, Emil. Wäre
es nach ihr gegangen, dann hieße Emil heute Michel, so wie der Michel aus
Lönneberga, die Kinderbuchfigur von Astrid Lindgren. „Mit den Geschichten
von Michel und Pippi Langstrumpf bin ich aufgewachsen.“ Aber ihrem Freund
Steve habe der Name nicht so gut gefallen. „Da war Emil ein guter
Kompromiss. Denn der Michel heißt im schwedischen Original Emil“, sagt
Bojarra. „Eine plattdeutsche Version der Geschichten gibt es leider nicht.“
Aber auch ohne diese wächst Emil zweisprachig auf. Hochdeutsch und Platt,
so wie schon Johanna Bojarra.
Das Einschlafritual: Bojarra spricht ausschließlich Platt mit ihrem Sohn.
„Wenn Emil im Bett liegt, frage ich ihn jeden Abend ‚Wo leif heff ik di?‘
und er antwortet ‚Sooo leif!‘. Das sagt er auch zum Papa, der sonst nur
Hochdeutsch mit ihm spricht. Papa kommt aus Sachsen-Anhalt. Auch da
sprechen Leute Platt. Nur Papa nicht.
Bühne und Buch: Ihre Ausbildung als Erzieherin beendet Bojarra 2012, sie
arbeitet einige Jahre in einer Kita in Warnemünde. Berufsbegleitend
studiert sie Sozialpädagogik und Management. Im Ehrenamt steht sie auf der
[4][Niederdeutschen Bühne Rostock] und schreibt gemeinsam mit Mutter Marita
ihr erstes Kinderbuch. „Plattdüütsch mit [5][Lütt-Mariken]“ führt die L…
und Leserinnen mit bunten Illustrationen der Grafikerin Steffi Meyer an den
Strand, auf den Bauernhof und hilft beim Lernen der Zahlen von eins bis
zehn auf Platt. In Kürze geht es mit Lütt-Mariken „unnerwägens in de
Stadt“. Die Kosten für Grafik und Druck des Buches finanziert sie per
Crowdfunding. „Hoffentlich klappt das.“
Schatzkiste: Die Kultur der Heimat sei ein Schatz. Deshalb hat sie dabei
mitgemacht, [6][Heimatschatzkisten] an Kitas und Horte in
Mecklenburg-Vorpommern zu schicken. 1.500 Stück – an jede Kita und jeden
Hort ging eine. Die Holzkisten sind gefüllt mit Handpuppen, Büchern,
Naturführern, einem Bernstein, einem Stück „Sternberger Kuchen“: Das ist
ein über 23 Millionen Jahre altes Sandgestein, in dem zahlreiche
Fossilreste eingelagert sind. Dazu sind Spiele, Anleitungen für Tänze und
ein großer dicker Ordner mit didaktischen Handreichungen beigelegt. Die
Kiste ist Teil eines Programms, das heimatkundliche Inhalte und die
Vermittlung des Niederdeutschen fördert.
Corona: Im Auftrag des [7][Heimatverbands Mecklenburg-Vorpommern e. V].
wirkte Johanna Bojarra an der Entstehung der Schatzkiste mit. „Die Kisten
waren fertig und ausgeliefert und dann kam Corona. Der Einsatz der Kisten
in den Einrichtungen kam nicht richtig in Fahrt. Vermutlich stehen einige
davon jetzt irgendwo in der Ecke.“ Das soll nun evaluiert werden. Seit
Januar 2025 hat Bojarra einen festen Job als Referentin für Niederdeutsch
und immaterielles Kulturerbe beim [8][Heimatverband]
Mecklenburg-Vorpommern. „Hier kann ich jetzt viele Dinge machen, die sonst
nicht möglich waren.“ Sie sei viel im Land unterwegs. Natürlich nicht nur
wegen Plattdeutsch. „Auch wie der Vorpommersche Fischerteppich geknüpft
wird oder Trachten, Tanz und Zeesenboote gelten als immaterielles
Kulturgut.“
Pläne: „Ich finde es schade, dass Plattdeutsch in meiner Altersgruppe kaum
gesprochen wird“, sagt Bojarra. Zu Zeiten der Hanse sei Platt die
verbindende Sprache im ganzen Ostseeraum gewesen. Noch heute werde es in
Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen,
Schleswig-Holstein sowie in den nördlichen Teilen von Brandenburg,
Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt gesprochen. „Aber eher wenig im
Alltag.“ Andersherum werde ein Schuh draus: „Platt und Heimat werden
schnell mal mit einem angestaubten Weltbild und rechten Umtrieben in
Verbindung gebracht.“ So sei es aber nicht. Heimat sei für alle da. „Aber
auch ich musste mich schon rechtfertigen. Als ich die Stelle beim
Heimatverband angenommen habe, hat mich mein Onkel schräg angeguckt und
gefragt, was ich denn da so mache.“
Vokabeln lernen: Zurzeit sucht sie das „[9][Plattdeutsche Wort des Jahres
2025]“. Bojarra bereitet die Einsendungen für die Jury vor. Hier ein paar
Siegesbeispiele aus früheren Jahren: 2009 war es „Spijöök“ – Scherz, 2…
„Dwarsdriewer“ – Querulant, 2020 „Ballerdutje“ – schmatzender Kuss.
Zukunft: Bojarra ist Mitglied im [10][„Bunnsraat för Nedderdütsch]“. Da
gehe es auch um Sprachausbau. „Eine Sprache ist lebendig und ändert sich.
Für Dinge, die es gestern noch nicht gab, brauchen wir heute ein Wort.“ Da
sei etwa das Mobiltelefon oder Smartphone. Soll es „Plietschfon“, soll es
„Klönbrett“ heißen? Bojarra hat noch mehr Ideen. Poetry-Slams auf Platt,
Bandcontests mit plattdeutschen Songs, [11][Podcasts]. Überhaupt: „Warum
nicht mal Beschilderung im Supermarkt auf Platt?“ Ja, warum nicht? Kann der
Blick zurück nicht Fortschritt sein? Dazu passt auch die Frage nach
Friedrich Merz:
Was halten Sie von dem? „As Plattschnackersche bün ik von Herrn Merz un de
niege Regierung bannig enttäuscht. In denn niegen Koaltitschonsverdrach
ward de Regionalspråk Plattdüütsch mit keinein Wuurt nömt.“ Enttäuscht i…
sie also, weil Friedrich Merz das Plattdeutsche im Koalitionsvertrag mit
keinem Wort erwähnt.
30 May 2025
## LINKS
[1] https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Heidi-Kabel-Das-Ohnsorg-Theater-war-ih…
[2] https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Fritz-Reuter-Plattdeutscher-Bestseller…
[3] https://www.bertbrink.de/regionalgeschichte/beitraege/brinckman-gesellschaf…
[4] https://ndb-rostock.de/
[5] https://luett-mariken.de/
[6] https://www.heimatschatzkiste.de/
[7] https://www.heimatverband-mv.de/index.html
[8] https://www.heimatverband-mv.de/
[9] https://luett-mariken.de/plattdeutsches-wort/
[10] https://www.niederdeutschsekretariat.de/
[11] http://www.niederdeutschsekretariat.de/category/regionalsprache-niederdeut…
## AUTOREN
Claus Oellerking
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