| # taz.de -- Kriegsangst in Lettland: Zwei Pässe, eine Front | |
| > Seitdem sie lettische Staatsbürgerin ist, ist der Krieg in der Ukraine | |
| > für unsere Autorin nahe – und sie ringt mit der Frage: Kämpfen oder | |
| > fliehen? | |
| Bild: Militärparade am Unabhängigkeitstag in Riga | |
| So hatte ich mir das mit der [1][lettischen Staatsbürgerschaft] eigentlich | |
| nicht vorgestellt. Pünktlich zur russischen Totalinvasion der Ukraine im | |
| Februar 2022 (für die Osteuropäer fing der Krieg bereits 2014 mit der | |
| [2][Annexion der Krim] an) bin ich neben meiner deutschen | |
| Staatsbürgerschaft obendrauf noch Lettin geworden, bei der Botschaft meines | |
| Minivaterländchens in Berlin. | |
| Ich kann mich erinnern, ein Dokument unterzeichnet zu haben, das einem | |
| Eheschwur gleichkam – und tatsächlich fühlte es sich ein bisschen an wie | |
| Heiraten: in guten und in schlechten Zeiten. Und gerade sind die Zeiten | |
| nicht allzu rosig. In Fachkreisen ist man sich einig, dass [3][das | |
| Baltikum] als Nächstes auf Putins Menüplan steht. | |
| Was für viele Menschen hierzulande dann schnell wieder in der Menge der | |
| täglichen Schreckensnachrichten weg diffundiert, hat für mich qua | |
| lettischer Staatsbürgerschaft deutlich mehr Gewicht. Auch familiär und | |
| freundschaftlich bin ich inzwischen sehr verbunden mit diesem kleinen Land, | |
| das nicht nur eine russische, sondern gleich auch noch eine belarussische | |
| Grenze hat. | |
| Manche Meldungen, die Lettland in Aufruhr versetzen, schaffen es dabei kaum | |
| bis in die deutschen Nachrichten. Wie beispielsweise eine aus Belarus | |
| abgeschossene Shahed-Drohne, die sich letzten September zum Glück nur in | |
| einem lettischen Apfelbaum verfing. | |
| Inzwischen vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht frage, wie ich mich | |
| im Falle eines russischen Überfalles auf Lettland verhalte. Nicht: | |
| Verhalten würde. Denn für einen theoretisch durchgespielten Konjunktiv ist | |
| die Bedrohung viel zu konkret. Hinfahren, Scholle verteidigen, vielleicht | |
| mit Gewehr im Anschlag? | |
| ## Abhauen ist keine Option | |
| Wenn ich das erzähle, werde ich selbst im Freundeskreis für verrückt | |
| gehalten. „Übertreibst du nicht ein bisschen?“ „Quatsch, Putin würde do… | |
| nie die Nato angreifen!“ Oder: „Gehörst du jetzt also auch schon zu den | |
| Kriegstreibern?“ | |
| Hier in Deutschland kenne ich so gut wie niemanden, der mit der Waffe in | |
| der Hand unsere demokratischen Errungenschaften verteidigen würde. Lieber | |
| abhauen – nach Thailand, Australien, Kanada. Ganz anders die Lage in | |
| Lettland: Da will niemand, dass die eigene Freiheit, der Besitz und schon | |
| gar nicht die mühsam errungene Demokratie wieder in die Klauen der Russen | |
| gerät – daher ist Abhauen für kaum jemanden eine Option. | |
| Um zu ermitteln, was ich denn im Ernstfall Hilfreiches tun könnte und | |
| welche Erwartungen überhaupt an mich gestellt werden, bin ich kürzlich zum | |
| kleinen Krisengipfel nach Riga gefahren. Wenn ich dort bin, wohne ich bei | |
| Onkel und Tante, beide 81 Jahre alt. Als Putin 2022 beliebte, schon kurz | |
| nach der Vollinvasion der Ukraine mit Atomraketen zu drohen, rief ich | |
| meinen Onkel an. „Ja, ja, das machen die Russen immer, wenn ihnen nichts | |
| anderes einfällt“, sagte er. „Das kennen wir schon.“ | |
| Wir sitzen jetzt also am Frühstückstisch und ich frage: Wenn hier was | |
| passieren sollte (ich vermeide die Worte „Invasion“ und „Okkupation“) �… | |
| kommt ihr zu mir nach Deutschland? Mein Onkel antwortet sofort: „Nein, auf | |
| gar keinen Fall. Wir gehen in den Keller!“ | |
| Wie sich der Aufenthalt dort unten zwischen Regalen voller Einmachgurken, | |
| Kartoffeln und Gartengerät konkret gestalten soll, sagt er mir nicht, er | |
| will lieber schnell irgendwas wurschteln, räumen, schrauben, um sich nicht | |
| weiter mit dem Thema zu befassen, das sowieso immer in der Luft hängt – so | |
| manifest, dass man es greifen kann. | |
| Der Fernseher läuft ständig, entweder lettische oder ukrainische | |
| Nachrichten. Lettland hat seinen Wehretat inzwischen auf über drei Prozent | |
| (Anm. d. Redaktion: des Bruttoinlandsprodukts) erhöht, die Abwägung | |
| „Verteidigung versus Sozialsystem“ ist schon über die Bühne – ohne gro�… | |
| Proteste übrigens, aber Letten sind sowieso keine lautstarken | |
| Demonstrierer. | |
| ## Gestandene Menschen schauen sich um | |
| Da wird stattdessen irgendwas Grantiges in die Facebook-Kommentarspalte des | |
| staatlichen Nachrichtensenders gerotzt oder zuhause im Stillen vor sich | |
| hingeknurrt. Aber der eklatante Unterschied zur BRD ist: Alle wissen, was | |
| die russische Okkupation eines souveränen Staates bedeutet. | |
| Das sitzt den Menschen in den Knochen, über Generationen hinweg. Bis heute | |
| ist es so, dass, wenn das Gespräch auf den KGB kommt, sich die Stimmen | |
| senken und nur noch im Flüsterton gesprochen wird. Gestandene Menschen | |
| schauen sich um, bevor sie weiterreden – und das in ihrem eigenen | |
| Wohnzimmer. Und niemand, wirklich niemand will das wieder erleben. | |
| Als nächstes treffe ich meinen Cousin und seine Familie. Er denkt schon | |
| länger über den Erwerb eines Ferienhäuschens in Spanien nach, inzwischen | |
| aber auch aus Gründen des Exils. Wir essen zusammen, als sein | |
| siebenjähriger Sohn ganz unvermittelt zu mir sagt: „Tania, ich hab so Angst | |
| vor dem Krieg.“ Und ich sage halbherzig: „Du musst keine Angst haben“, und | |
| glaube mir selbst nicht. | |
| Mein Cousin will im Ernstfall natürlich seine Familie aus der Gefahrenzone | |
| bringen, andererseits die alten Eltern nicht im Stich lassen – das treibt | |
| ihn um. Mich genauso, denn wir wissen beide, dass es die Alten schon sehr | |
| ernst meinen mit ihrem Keller, die kriegen wir da niemals raus. | |
| Wir reden lange über die Freiwilligenarmee Lettlands, die „Zemessargi“, die | |
| seit 2022 regen Zulauf bekommen. Man darf sich das in etwa so vorstellen | |
| wie eine Mischung aus Schnuppertraining bei der Bundeswehr und | |
| Katastrophenschutz beim THW: Militärisches Basistraining, niedrigschwellig, | |
| offen für alle. | |
| Auch Menschen ohne jeden Hang zum Militärischen schmeißen sich dort für ein | |
| Wochenende in Camouflage und lernen Zielschießen oder robben durch den Wald | |
| – besser vorbereitet sein. Es wird keine Vorkenntnis verlangt, und auch | |
| mein Cousin überlegt, dort mal ein Training mitzumachen. | |
| Wenn ich nächstes Mal in Lettland bin, melde ich mich da auch an. Ich hoffe | |
| natürlich, dass es nie so weit kommt, aber sollte ich mal in die nicht mehr | |
| ganz unwahrscheinliche Situation geraten, eine Waffe gebrauchen zu müssen, | |
| dann will ich lieber vorher wissen, wie man die korrekt bedient. | |
| Abends rast auf einer von Rigas belebtesten Straßen eine Bikergang an mir | |
| vorbei, fünf oder mehr Typen auf Motorrädern, einige mit Totenkopfmasken | |
| und russischer Flagge am Lenker. Hier und dort ist ein Z auf eine Hauswand | |
| geschmiert. Die täglichen Provokationen von russischer Seite nehmen zu. | |
| Natürlich gibt es genauso auch freundliche, angenehme und gut integrierte | |
| Russen in Lettland, sehr viele sogar. Aber die fallen eben nicht weiter auf | |
| und gehen in der allgemeinen lettischen Muffligkeit unter. Doch die | |
| wirklich widerwärtigen, die Gopniks (Hooligans) und Vatniks | |
| (Putin-Propagandisten), die sind dagegen sicht- und hörbar. Der | |
| [4][estnische Musiker und Autor Jüri Reinvere] hat neulich in der FAZ einen | |
| klugen Artikel geschrieben – es ging um die Lautstärke der Russen im Land. | |
| ## Russische Hooligans pöbeln und drängeln in der Bahn | |
| Wenn sie still sind, kann man sich entspannen. Werden sie aber laut und | |
| rüpelhaft, ist das wie ein Seismograph, dann fühlen sie sich stark und | |
| haben Oberwasser. Pöbeln, drängeln in der Bahn, schreien die Apothekerin | |
| auf Russisch an – alles gerade erst erlebt. Der aggressive Sound ist | |
| unmissverständlich, dazu rasierte Glatzen und fragwürdige Tattoos – so | |
| erlebe ich den unangenehmen Teil der Russen in Riga. Was sie allerdings | |
| äußern, kann ich nur ahnen. | |
| So fuhr ich mit einer Freundin in der Bahn, neben uns zwei russische Herren | |
| genannter Bauart im Gespräch. Sie übersetzte mir, dass man als stolzer | |
| Russe diese Hundesprache Lettisch nicht lernen werde, weil man hier bald | |
| sowieso wieder Russisch spricht. | |
| Ich besuche meine Autorenkollegin, die mit ihrer Frau zusammenlebt, was in | |
| Lettland noch längst nicht selbstverständlich ist. Sie hat auch ganz ohne | |
| russische Bedrohung einiges auszustehen. | |
| „Weißt du“, sagt sie, „natürlich liebe ich mein Land und meine Sprache,… | |
| natürlich will ich es nicht den Russen überlassen. Aber ich will nicht mein | |
| Leben dafür opfern, vielleicht gefoltert oder vergewaltigt werden – für ein | |
| Land, das auch mir einiges angetan hat. Ich kann außer Schreiben nichts | |
| tun. Ich kann nicht schießen, nicht mal schnell genug weglaufen.“ | |
| Ich sage ihr, dass ich sie beide nach Deutschland hole, wenn etwas | |
| passiert. Da ist es wieder, das Unaussprechliche – ich kann es selbst nicht | |
| sagen, weil es damit so konkret klingt, als würde ich es mit Worten | |
| beschwören. Wir benennen es nicht, dann bleibt es noch fern, hoffentlich. | |
| Sämtliche Letten, die ich kenne, sind trotz der spürbaren Bedrohung | |
| bewundernswert stoisch – auch wenn sie durchaus besorgt sind. Aber niemand | |
| verfällt dort in die Schnappatmung, die ich von hier kenne, wenn das | |
| Gespräch mal wieder um Russland kreist. | |
| Das deutsche Schuldenpaket ist zwei Tage lang Topthema in den lettischen | |
| Nachrichten. Natürlich auch Merz als nächster Bundeskanzler. Scholz ist | |
| wegen seiner Dauerzaudereien in Lettland nicht wohlgelitten, so hofft man | |
| auf den nächsten. Von Merz versprechen sie sich alle was: Er würde so | |
| kompetent wirken, alleine schon, weil er so groß sei – das höre ich fast | |
| von allen. | |
| Als ich meine Freundin Dace besuche, eine Historikerin und gestandene | |
| Kulturlady, erzählt sie mir von ihrem Wehrunterricht in der Schule, damals | |
| zu Sowjetzeiten. „Ich kann noch alle Handgriffe, mit denen man eine | |
| Kalaschnikow auseinanderbaut und wieder zusammensetzt – vielleicht nützt | |
| mir das was.“ Sie lacht. | |
| Überhaupt lachen wir viel und wenden uns anderen Themen zu. Essen Kuchen, | |
| gehen spazieren, trinken Cognac, machen muntere Selfies. Ob sie zu mir nach | |
| Deutschland kommen will, wenn es bedrohlich wird, frage ich sie. | |
| „Das ist sehr lieb von dir“, sagt sie, „aber ich habe ja zum Glück noch | |
| meinen Keller.“ | |
| 20 Apr 2025 | |
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| [4] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-sich-estland-auf-eine-i… | |
| ## AUTOREN | |
| Tania Kibermanis | |
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