# taz.de -- Rituale im Tischtennis: Zwangsneurotiker am weißen Plastikball | |
> In kaum einer anderen Sportart werden Gewohnheiten derart gepflegt wie im | |
> Tischtennis. Mehr Schweißabwischen geht nicht. | |
Bild: Ritualsportler: Hugo Calderano beim Aufschlag | |
Meine Oma hatte eine Putzneurose. Einmal wurde in ihr Haus eingebrochen und | |
Schmuck gestohlen; sie reiste nahezu umgehend mit meinem Onkel in ein | |
Ferienhaus ab. Sie kompensierte den Schock, indem sie drei Tage lang das | |
gesamte Ferienhaus putzte. Nicht am Ende des Urlaubs, sondern am Anfang. Am | |
Ende putzte sie es noch einmal. | |
Aber was hat das mit Tischtennis zu tun, mögt ihr fragen? Ich erzähle es | |
euch. Tischtennis ist eine Sportart für Nerds, das ist eine Binse. Besieht | |
man sich die Spitzensportler dieser Sportart, muss man konstatieren, dass | |
Grad und Anzahl von Zwangsneurotikern im Tischtennis sehr hoch ist. Wer das | |
nicht glaubt oder für billige Küchenpsychologie hält, sollte sich nur | |
einmal ein Spiel von Hugo Calderano, [1][Nummer 5 der Weltrangliste], | |
ansehen. | |
Calderano, Stammkraft beim Bundesligisten TTF Liebherr Ochsenhausen, hat | |
während eines Matchs seine Rituale und kann es in dem Punkt locker mit | |
Rafael Nadal aufnehmen, einem Zwangsneurotiker vor dem Herrn. Calderano | |
nimmt den Ball, trocknet sich die Hand auf der Platte ab, wischt sich den | |
Schweiß an der Stirn mit dem Unterarm ab, wiederholt das Prozedere und | |
widmet sich dann mit Liebe dem Aufschlag. Klingt harmlos, wiederholt sich | |
aber fortlaufend. Es geht nicht anders. | |
## Timo Bolls Wohnmobil | |
Ein anderes Beispiel ist [2][Timo Boll]. Boll, der gerade seine | |
Abschlusstournee durch die Hallen dieser Republik ableistet, hat in einem | |
Interview mit Spiegel Work unfreiwillig durchblicken lassen, auf was sein | |
Erfolg aufgebaut war: monotoner Fleiß, weltvergessende Disziplin. „Alles in | |
meinem Leben ist auf Effizienz ausgerichtet“, so Boll. An den meisten | |
Tagen wohnt er in einem Wohnmobil, keine 50 Meter von der Halle entfernt. | |
Das Training beginnt er um 5 Uhr morgens. Er trainiert sogar seine | |
Augenmuskulatur. Im einem normaler verlaufendem Leben wäre er | |
Sparkassenangestellter geworden. | |
Keine Frage, dass die Spitzenkräfte JEDEN GOTTVERDAMMTEN TAG trainieren. In | |
den unteren Regionen, also ungefähr dort, wo sich der Kolumnist rumtreibt, | |
sind dreimal die Woche schon ein optimaler Wert. Als ich versucht habe, | |
Kontakt zu meinem Heimatverein aufzunehmen, da ich dort ein paar Tage | |
verbringen sollte, und fragte, ob ich nicht auch trainieren gehen könnte, | |
hieß es: in sechs Wochen wieder. Es waren gerade Sommerferien. | |
Wer also Leistungssportler werden möchte, der muss den ganzen Tag ran, | |
neben dem Üblichen, das so anfällt – Familie, Schule, Freunde. | |
Extravaganzen gibt es keine, aber eine gewisse Disposition zur | |
Zwangsneurose kann helfen. Oder entwickelt man die erst, wenn man die ganze | |
Zeit nichts anderes macht, als einen weißen Plastikball mit einem | |
gummibelegten Brett auf einen Tisch zu zimmern? | |
Das Sportwort für diese Fixierung lautet natürlich „Fokus“. Timo Boll | |
schwört darauf und kann es auch im Alltag nicht lassen, diesen Fokus zu | |
haben. Liest er Zeitung, liest er Zeitung. Das Interview, das er Spiegel | |
Work gegeben hat, ist ziemlich großartig. Und dass es [3][Spiegel Work] | |
ist, ist auch kein Zufall: Für die Arbeitswelt stellt Spitzensport, | |
jedenfalls von oben betrachtet, so etwas wie eine Traumfabrik dar. Hier | |
muss man neoliberale Arbeitsmoral gar nicht einimpfen. Das bringen die | |
Helden des Sports von sich aus mit. | |
Hugo Calderano zum Beispiel hat in der Bundesliga eine Saisonbilanz von | |
17:1. Timo Boll, die ehemalige Nummer 1 der Welt, steht bei 11:11. Die | |
fetten, nein, besser: asketischen Jahre sind wohl vorbei. Boll hat noch | |
genau einen Spieltag vor sich, dann folgen die Play-offs. Es kann Juni | |
werden, bis seine Karriere endgültig vorbei ist und er seinen Camper auf | |
wirkaufendeinauto.de anbieten kann. Was aber machen Zwangsneurotiker | |
oder Autisten, wenn ihr Betätigungsfeld wegbricht? | |
25 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Frankreichs-Shootingstar-Felix-Lebrun/!6040061 | |
[2] /Kolumne-Liebeserklaerung/!5331078 | |
[3] https://www.spiegel.de/extra/work/index-2025.html | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
## TAGS | |
Kolumne Plattenspieler | |
Timo Boll | |
Tischtennis | |
Tischtennis | |
Profisport | |
Kolumne Plattenspieler | |
Timo Boll | |
Kolumne Plattenspieler | |
Kolumne Plattenspieler | |
Tischtennis | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tischtennis-WM 2025: Schmettern auf Pink | |
Seit Samstag findet in Doha, Katar, die Tischtennis-WM statt. Die | |
Favoritinnen und Favoriten kommen wieder aus China. Doch auch sie sind | |
besiegbar. | |
Sportlicher Rundumschlag: Domestizierter Glam | |
Nicht mehr nur im Spitzensport, sondern auch in den Niederungen der | |
Randsportarten ist Sport zunehmend von Reichen für Reiche. | |
Tischtennis: Reden wir doch mal über Frustrationstoleranz | |
Tischtennisfreaks mögen es gar nicht, wenn man ihren Sport mit Tennis | |
vergleicht. Aber eine wichtige Parallele gibt es doch. | |
Tischtennis-Star Timo Boll über Rückzug: „Ich stehe nicht gerne im Mittelpu… | |
Für ihn ist es ein Abschied mit „reinem Gewissen“. | |
Ausnahme-Tischtennisspieler Timo Boll beendet am Wochenende seine | |
Bundesliga-Abschiedstournee. | |
Skandal beim ÖTTV: Der Funktionär, das unbekannte Wesen | |
Nicht nur im Frauenfußball oder Turnen, sondern sogar auch im Tischtennis | |
gibt es Funktionäre, die Spielerinnen und Spieler belästigen. | |
Tischtennis-Podcasts: Der Zwei-Phasen-Aufschlag einer Kolumne | |
Podcast killt den Radiostar, das gilt auch für die nerdige Randsportart | |
Tischtennis. Wir haben mal in ein paar Podcasts reingehört. | |
Frankreichs Shootingstar Felix Lebrun: Vulkan an der Platte | |
Bester Europäer im Tischtennis ist der erst 18-jährige Franzose Felix | |
Lebrun bereits laut Weltrangliste. Nun will er in Linz Europameister | |
werden. |