| # taz.de -- Sexualisierte Gewalt: Sie nannte ihn Opa | |
| > Wenn Frauen mit einer Behinderung Opfer sexualisierter Gewalt werden, | |
| > werden Täter noch seltener verurteilt. Im Fall von Jovita S. ist das | |
| > anders. | |
| Bild: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – auch nicht bei Fällen sexualis… | |
| München taz | Das Verbrechen, das Jovita S. angetan wurde, hatte die besten | |
| Chancen, niemals aufzufliegen. Eine Frau im Rollstuhl, schwer geistig | |
| behindert, wird vergewaltigt von einem Mann, dem sie und ihre Familie voll | |
| vertrauen. | |
| Der Mann ist angestellt bei einem Fahrdienst für behinderte Menschen. Jeden | |
| Werktag holt er Jovita S. mit seinem Kleinbus ab und fährt sie in das | |
| Förderzentrum, in dem sie ihren Alltag verbringt. Die beiden haben ein | |
| gutes Verhältnis, „Opa“ nennt sie ihn, „meine Enkelin“ er sie. Er ist … | |
| sie 23. | |
| Die Vergewaltigung plant er genau. Er präpariert seinen Bus, verdunkelt die | |
| Scheiben, sucht sich einen abgelegenen Parkplatz. An einem Nachmittag im | |
| Oktober 2023 überrumpelt er sie auf dem Heimweg, verkauft ihr die | |
| Vergewaltigung als Spiel. Wehren kann sie sich nicht. Als sie schreit, hält | |
| er ihr den Mund zu. | |
| Eineinhalb Jahre später, im Januar 2025, steht der Busfahrer Janusz P. in | |
| München vor Gericht. Fünf Tage lang wird das Gericht verhandeln und | |
| versuchen zu klären, wie es zu der Vergewaltigung kam. Nicht ob, sondern | |
| wie. Denn die Beweislage ist eindeutig. | |
| ## Täter kommen oft aus nahem Umfeld | |
| Frauen und Mädchen mit Behinderungen werden deutlich häufiger Opfer von | |
| [1][Gewalt als Frauen ohne Behinderung]. Etwa zwei- bis dreimal häufiger | |
| erleben sie sexualisierte, körperliche oder psychische Gewalt. Das zeigt | |
| eine [2][Studie des Bundesfamilienministeriums] aus dem Jahr 2011. Die | |
| Dunkelziffer, schätzen Expert*innen, dürfte wesentlich höher liegen, da | |
| gerade Frauen mit geistiger Behinderung schwer von der Forschung erreicht | |
| werden. | |
| Die Täter kommen oft aus dem nahen Umfeld. Es sind Eltern, Stief- oder | |
| Pflegeeltern, Mitbewohner in Behinderteneinrichtungen oder Betreuer in | |
| Werkstätten. Trotzdem landen diese Fälle seltener vor Gericht. Wenn sie | |
| überhaupt bei der Polizei ankommen, werden sie oft eingestellt, denn vielen | |
| Betroffenen fällt es schwer zu beschreiben, was sie erlebt haben. Anderen | |
| wird nicht geglaubt oder die Behörden wissen nicht, wie sie mit ihnen | |
| umgehen sollen. | |
| Ronska Grimm [3][vertritt als Anwält*in Menschen, die Gewalt erlebt | |
| haben]. Den Fall in München vertritt Grimm nicht. Aber Grimm kennt | |
| ähnliche: Etwa 5 Prozent von Grimms Mandant*innen haben eine | |
| Behinderung. Das liege nicht daran, dass es so wenig Fälle gebe, sondern | |
| daran, dass die wenigsten überhaupt Anwält*innen wie Grimm erreichen. | |
| „Wenn Menschen mit Behinderung Gewalt erleben, fällt es Ihnen oft schwer, | |
| sich Hilfe zu holen“, sagt Grimm. „Viele sind sozial isoliert, wissen | |
| nicht, an wen sie sich wenden können. Beratungsstellen sind schwer zu | |
| finden oder nicht barrierefrei.“ Ohne eine Person, die hinter den | |
| Betroffenen stünde und sie unterstütze, sei es für viele kaum möglich, | |
| Hilfe zu finden. | |
| Dass die Vergewaltigung von Jovita S. in München aufgeflogen ist, war | |
| Zufall. Es ist Mitte Januar im [4][Oberlandesgericht München]. Janusz P. | |
| wird im Rollstuhl in den Gerichtssaal gefahren. Ein alter Mann, das Gehen | |
| fällt ihm schwer. Das lange, graue Haar hat er zum Zopf gebunden. Er | |
| spricht nur Polnisch, eine Dolmetscherin übersetzt für ihn. | |
| Janusz P. sitzt seit der Vergewaltigung in Untersuchungshaft. An jenem | |
| Nachmittag im Oktober 2023 hatte eine Nachbarin beobachtet, wie P. seinen | |
| Kleintransporter auf einem Parkplatz geparkt hat. Wie er die | |
| Fensterscheiben mit Decken abgehängt hat, während hinten im Wagen noch eine | |
| kleine Person saß. Dann, als alles abgedunkelt war, begann das Auto zu | |
| wackeln. Die Nachbarin rief die Polizei, die erwischte P. schließlich mit | |
| heruntergelassener Hose nach dem Samenerguss. | |
| ## Angeklagter mit ausgestrecktem Mittelfinger | |
| In den Prozess geht er dennoch trotzig. Am ersten Prozesstag streckt er den | |
| anwesenden Journalist*innen die Zunge raus und den Mittelfinger | |
| entgegen. So berichten es verschiedene Medien. Die Bild-Zeitung zeigt ein | |
| Foto von P. mit herausgestreckter Zunge. Den „Ekel-Busfahrer“ nennt sie | |
| ihn. Äußern will sich Janusz P. zunächst nicht. Die Staatsanwaltschaft geht | |
| davon aus, dass Janusz P. die wehrlose Lage von Jovita S. ausgenutzt hat. | |
| Dass er ihr Vertrauen missbraucht und seine Tat geplant hat. | |
| Jovita S. wird in dem Prozess nicht auftauchen. Sie weiß nicht einmal, dass | |
| die Tat heute verhandelt wird. Sie lebe, so beschreibt das ihre Psychologin | |
| vor Gericht, in der Gegenwart. Die Vergewaltigung habe sie 2023 sehr | |
| verstört. In den Wochen danach habe sie sich geschämt, geekelt und Angst | |
| gehabt. Heute, eineinhalb Jahre später, rede sie nicht mehr davon. | |
| Was Janusz P. ihr angetan hat, hat sie der Polizei erzählt, ihrer | |
| Psychologin, einem Richter. Im Gerichtssaal in München wird sie es nicht | |
| noch einmal erzählen. Von der Vernehmung wird ein Video gezeigt, unter | |
| Ausschluss der Öffentlichkeit. Auch für diesen Text hat sie nicht noch | |
| einmal gesprochen. Alles, was hier steht, basiert auf den Aussagen vor | |
| Gericht. | |
| Jovita S. kam als Kleinkind mit ihrer Familie aus der Türkei. Die Eltern | |
| sind getrennt, aufgewachsen ist sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder. Mit | |
| ihrem Vater wohnt sie noch heute in einer Wohnung im dritten Stock eines | |
| Mehrfamilienhauses. Jeden Tag trägt der Vater die Frau die Treppe hoch und | |
| runter. Ihre Tage verbringt sie in einem Förderzentrum in München. Die | |
| Psychologin beschreibt Jovita S. als eine Frau, die „allgemein belastet“ | |
| sei. Aber auch als eine Frau, die gern Körperkontakt habe. Sie wolle von | |
| ihrer Psychologin häufig umarmt werden, suche die Nähe von Menschen, die | |
| ihr vertraut sind. | |
| Ausführlich erzählt die Psychologin, wie Jovita S. ihr von der Tat erzählt | |
| hat. Dem Richter und den Verteidigern von Janusz P. geht es dabei um | |
| Details: Mit welchen Worten hat sie beschrieben, was passiert ist? Wie gut | |
| kann sie sich erinnern? Kann sie zwischen Film und Realität unterscheiden? | |
| Liebe, sagt die Psychologin, das sei für Jovita S. wie ein Bollywoodfilm. | |
| „Wenn man sich küsst, fliegen Tauben und Herzen, denkt sie.“ Im | |
| Förderzentrum habe sie einen Freund, mit dem knutsche sie. Hat sie eine | |
| Vorstellung von Sexualität, fragt der Richter. „Sie wünscht sich eine | |
| Beziehung“, antwortet die Psychologin. „Aber das muss ja nicht Sexualität | |
| sein. Hat sie ein Verständnis von Geschlechtsverkehr?“, will der Richter | |
| wissen. Die Psychologin zögert. „Ganz wahrscheinlich nicht“, sagt sie | |
| schließlich. „Sie ist eher wie ein Teenager, der ein Bedürfnis hat, aber | |
| nicht weiß, was es alles gibt“. | |
| ## Verfahren werden häufig eingestellt | |
| Ronska Grimm arbeitet seit zehn Jahren als Anwält*in in Berlin und | |
| vertritt Menschen mit Behinderung. „Ich habe es in meiner Arbeit bei | |
| Aussage-gegen-Aussage-Delikten noch nie erlebt, dass jemand dafür | |
| verurteilt wird, einem Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Gewalt | |
| angetan zu haben“, sagt Grimm. | |
| Das liege daran, dass Staatsanwaltschaften die Verfahren häufig einstellen, | |
| bevor sie überhaupt vor Gericht landen. Was wiederum daran liege, dass | |
| oftmals schon die Polizei die ersten Fehler mache. „Ich beobachte | |
| beispielsweise immer wieder, dass Menschen mit kognitiven | |
| Beeinträchtigungen postalisch einen Fragebogen für die Polizei ausfüllen | |
| sollen, in dem sie ihr Erlebtes aufschreiben. Aber die meisten können das | |
| gar nicht“, sagt Grimm. Stattdessen müssten die Aussagen von Menschen mit | |
| Behinderung mit Video- oder Tonaufnahmen dokumentiert werden. Passiere das | |
| nicht, sei die Aussage praktisch wertlos und das Strafverfahren an dieser | |
| Stelle aussichtslos. | |
| Bei dem Prozess in München ist dagegen vieles richtig gemacht worden. Die | |
| Polizei hat direkt nach der Tat Beweise gesichert, etwa die DNA-Spuren von | |
| Jovita S. und Janusz P. Jovita S. wurde per Video vernommen, eine | |
| Glaubhaftigkeitsgutachterin schätzt ihre Aussage später vor Gericht ein. | |
| Damit bestehen kaum noch Zweifel daran, dass der Angeklagte Jovita S. | |
| Gewalt angetan hat. | |
| Das Gericht wird ihn schließlich zu vier Jahren und sechs Monaten Haft | |
| verurteilen, wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs unter | |
| Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses. Janusz P. kommt zugute, dass er | |
| sich doch entschlossen hatte auszusagen. | |
| Am vierten Verhandlungstag vor dem Münchner Oberlandesgericht ergreift sein | |
| Anwalt das Wort. Er beschreibt die Tat so, wie sie in der Anklageschrift | |
| steht. Er trägt vor, dass Janusz P. sein Auto präpariert und geparkt habe, | |
| um Jovita S. zu vergewaltigen. P. habe kein Verständnis für das, was er | |
| gemacht habe, es tue ihm leid, er sei so dumm. Es gebe keine Erklärung für | |
| sein Handeln. | |
| Nach der Erklärung des Anwalts ist es kurz still in dem Gerichtssaal. Dann | |
| fragt der Richter Janusz P., ob er es nicht für eine gute Idee halte, sich | |
| zu entschuldigen, bei Jovita S., und ihrem Vater. Der Vater mache sich | |
| schwere Vorwürfe, er quäle sich mit der Frage, warum er seine Tochter nicht | |
| habe schützen können. Ja, sagt der Anwalt von Janusz P. Es tue seinem | |
| Mandanten leid. Janusz P. hat die Hände verschränkt und schaut zu Boden. Er | |
| schweigt. | |
| 8 Mar 2025 | |
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| [1] /taz-Recherche-zu-Gewalt-gegen-Frauen/!6048065 | |
| [2] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94204/3bf4ebb02f108a31d5906d75dd9af8cf/… | |
| [3] /Rechtsanwaeltin-ueber-Gewalt-gegen-Frauen/!6049470 | |
| [4] /Angriffe-auf-Neonazis-in-Budapest/!6054845 | |
| ## AUTOREN | |
| Anne Fromm | |
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