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# taz.de -- Fragiler Waffenstillstand in Nahost: Die Zeit, die bleibt
> Der Waffenstillstand im Nahen Osten kann jeden Moment zusammenbrechen.
> Die Angehörigen der Hamas-Geiseln schwanken zwischen Hoffnung und Wut.
Bild: Der Israeli Ofer Calderon war Gefangener der Hamas und kam am 1. Februar …
Berlin taz | Sie hat 484 Tage kaum geschlafen, aber das müsste Ifat
Calderon nicht erzählen. Man sieht es im Videogespräch auch so. An den
tiefen dunkelgrauen Augenringen, die schon fast Furchen sind. Besonders
schlimm, erzählt Calderon, wurde es noch einmal, als [1][Mitte Januar der
Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas verkündet wurde]. Nachts
nickte sie für eine Stunde ein, um kurz darauf wieder aufzuwachen. Wird ihr
Cousin Ofer Calderon auf der Liste der freizulassenden Geiseln sein? Diese
Woche? Nächste Woche? Und, als er es schließlich war, die bange Frage: Wird
alles gutgehen?
Am [2][1. Februar fällt ihr Cousin seiner Frau und seinen Kindern in Israel
in die Arme]. Das Video davon geht wie die Clips anderer freigelassener
Geiseln um die Welt, auch der Scherz, den Ofer Calderon darin macht. „Der
Busch, in dem wir uns versteckt haben, war wohl doch nicht so gut.“ Er und
zwei seiner Kinder hatten sich am 7. Oktober in einem Busch versteckt und
waren von dort entführt worden. Die Kinder kamen nach 52 Tagen frei, nun
auch ihr Vater.
Ofer Calderons Geschichte nimmt vorläufig ein vergleichsweise glückliches
Ende. Viele andere nicht. Eli Sharabi konnte nicht zu seiner Familie
zurückkehren. Wohl erst auf dem Weg nach Israel erfuhr er, dass seine zwei
Töchter und seine Frau am 7. Oktober getötet worden waren. Yarden Bibas,
der am gleichen Tag wie Calderon freigelassen wurde, umarmte seinen Vater
und seine Mutter – stumm. Seine Frau und seine beiden rothaarigen Kinder,
deren Bilder seit ihrer Entführung am 7. Oktober um die Welt gingen, sind
noch in Gaza, es gebe „große Sorge um ihr Schicksal“, heißt es vom
israelischen Militär.
Der Kampf um die Geiseln und den Waffenstillstand spaltet die israelische
Gesellschaft. Aber diejenigen in Israel, die für die Freilassung der
Geiseln und die Fortsetzung des Waffenstillstands kämpfen, gehen durch ein
Wechselbad der Gefühle.
## Rückkehr der Geiseln am Fernsehbildschirm
Auf der einen Seite ist die Freude über das vorläufige Ende des Kriegs und
die zurückkehrenden Geiseln. Dabei ist die erste Phase des
Waffenstillstands, die noch bis zum 23. Februar anhalten soll, ein
langwieriger Prozess. Vor allem die Samstage sind für die Israelis eine
nervenaufreibende Prozedur, wenn sie an den Fernsehbildschirmen die
Rückkehr der Geiseln verfolgen, die sich oft über Stunden hinzieht,
inklusive der skurrilen und demütigenden Inszenierung der Hamas.
Und zugleich wissen alle auch: Der Waffenstillstand kann jeden Moment wie
ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Vergangene Woche schien dieser
Moment gekommen. Am Montag hatte die Hamas angekündigt, die
Geiselfreilassung am Samstag auszusetzen. Israel, so ein Sprecher der
Hamas, habe zuvor Hilfslieferungen zurückgehalten und auf zurückkehrende
Palästinenser*innen geschossen. Zu diesem Schritt der Hamas
beigetragen hatte möglicherweise auch [3][die Ankündigung von US-Präsident
Donald Trump], die Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen nach
Ägypten und Jordanien zu verfrachten und aus Gaza eine Riviera machen zu
wollen, was Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für eine
„bemerkenswerte“ Idee hielt.
Stand 14. Februar sieht es danach aus, als würde die erste Phase des
Waffenstillstands nun vorerst Bestand haben. Die Hamas hat angekündigt,
drei Geiseln wie geplant freizulassen. Doch vorhersehbar ist nichts.
## „Wie Holocaust-Überlebende“
Und dann sind da noch die Bilder vom vergangenen Samstag. Or Levy, Ohad Ben
Ami und Eli Sharabi konnten kaum selbst laufen, als die Hamas sie vor ihrer
Freilassung auf der Bühne präsentierte, ihre Körper ausgemergelt. „Wie
Holocaust-Überlebende“, raunte es durch die israelischen Medien. Über lange
Zeiträume hinweg sollen die drei alle paar Tage nur eine verschimmelte Pita
erhalten haben, die sie mit anderen teilen mussten, sollen gefoltert worden
sein. Eine andere freigelassene Geisel soll über 15 Monate gefesselt in den
Tunneln festgehalten worden sein, ohne dabei Tageslicht zu sehen. Hinzu kam
wohl oft psychische Folter.
Vieles von dem, was die Geiseln durchgemacht haben, ist noch nicht bekannt.
Vieles werden sie wohl erst nach und nach erzählen. Als Ifat Calderon ihren
Cousin Ofer im Krankenhaus besuchte, baten Psycholog*innen sie, nichts
zu fragen, er müsse in seinem Tempo von dem Erlebten erzählen. Aber für die
meisten Israelis ist klar: Wer jetzt zurückkommt, wird wohl mindestens so
aussehen wie die letzten drei Freigelassenen. 17 Geiseln sollen in der
aktuellen Phase noch nach Israel zurückkehren, neun von ihnen wohl lebend.
Wie eine Übergabe der Toten aussehen soll, mag man sich in Israel schwer
vorstellen.
Auch für die Palästinenser ist es eine zermürbende Zeit. Für die
palästinensischen Gefangenen, von denen längst nicht alle Mitglieder
militanter Organisationen sind, und ihre Angehörigen. Für die
Gazaner*innen, die zu Fuß durch zerstörte Landschaften laufen, auf dem Weg
zurück in ihr Zuhause, aus dem sie geflohen sind. Freude und Erleichterung
über die zumindest momentane Sicherheit mischt sich mit dem Schock darüber,
was die Heimkehrer*innen nun sehen. Sie fühlen sich wie Fremde,
schreibt der Autor Esam Hajjaj aus Gaza, erkennen die Landschaft nicht
wieder, finden die Straßen nicht. Sie wünschen sich ein neues Leben und
schaffen es nicht, das vergangene zu verarbeiten.
## Eigentlich sollten Verhandlungen im Februar beginnen
Die große Frage, die nun über allem schwebt: Wie geht es mit der zweiten
Phase weiter? In dieser sollte es, so im Abkommen vorgesehen, um die
Freilassung aller verbliebenen Geiseln und den kompletten Rückzug Israels
aus dem Gazastreifen gehen. Eigentlich sollten Verhandlungen darüber
bereits Anfang Februar beginnen. Doch Benjamin Netanjahu wollte den Besuch
bei Donald Trump abwarten, der ihm dann zu seiner Freude den
Gaza-Riviera-Plan bescherte.
Die Drohung der Hamas und das Hin und Her der letzten Woche haben die
Verhandlungen erneut verschoben. Medienberichten zufolge soll Netanjahu in
einer Kabinettssitzung gesagt haben, es mache keinen Sinn, über die zweite
Phase zu diskutieren, da es sich im Moment nur um eine „hypothetische
Frage“ handele.
Die Hoffnungen von Ifat Calderon auf eine zweite Phase des
Waffenstillstands sind gedämpft. Ihre Wut auf Netanjahu und dessen
rechtsextreme Regierung hingegen ist riesig. Immer wieder sagt sie, dass
alle Geiseln zurückgeholt werden müssen. Dass die Zeit abläuft. Dass
militärischer Druck die Geiseln nur als Leichen zurückbringen würde.
Und dann erzählt sie eine Episode, die Ofer Calderons Tochter Sahar ihr
nach deren Freilassung berichtet hat. Nach einigen Wochen sei ihr Vater
Ofer in die Tunnel zu ihr gebracht worden. Sie habe ihn kaum wiedererkannt.
Ofer habe ihr gesagt: „Ich bin durch einen Holocaust gegangen.“ In den
ersten Wochen seiner Geiselhaft war er wohl in einem Käfig festgehalten
worden. Kurz danach wurde Sahar freigelassen. „Kämpf für mich und alle
Geiseln“, hatte Ofer ihr zum Abschied gesagt: „Ich will nicht in den
Tunneln sterben.“
Ifat Calderon macht eine Pause. Dann fragt sie: „In welchem Land muss eine
Tochter für ihren Vater kämpfen, weil der Ministerpräsident es nicht tut?“
14 Feb 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Judith Poppe
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