# taz.de -- Waffenstillstand im Gazakrieg: Ruhe auf Zeit | |
> Die Waffen schweigen, doch noch immer fehlt es den Menschen im | |
> Gazastreifen am Nötigsten. Wohin soll man gehen, wenn alles zerstört ist? | |
Bild: Prinzip Hoffnung: temporäre Unterkünfte von Vertriebenen in Deir al-Bal… | |
Deir el-Balah/Berlin taz | In seinem kleinen Kiosk an einer belebten Straße | |
in Deir-el-Balah steht Saadi al-Saftay und verkauft, was er auftreiben | |
kann: Linsen, Konserven, manchmal auch Eier. Wenn sie nicht zu teuer sind. | |
„Alles kostet immer noch mehr als vor dem Krieg“, sagt er. Wer an diesem | |
Tag durch die dicht gedrängten Straßen Deir el-Balahs läuft und bei | |
al-Saftay eine Dose Foul kauft – gekochte Fava-Bohnen, die in Palästina | |
gerne warm zum Frühstück gegessen werden –, bezahlt vier Schekel, | |
umgerechnet etwa einen Euro. Vor Beginn der Waffenruhe seien es etwa drei | |
Euro gewesen, sagt er. | |
Kundschaft fand er trotzdem. Im Verlauf der letzten 15 Monate Krieg wurde | |
aus der Stadt Deir el-Balah mit ihren etwa 80.000 Einwohnern eine Art | |
Metropole. Bis zu 700.000 Menschen sollen im Verlauf des Krieges hierher | |
geflüchtet sein. Und viele von ihnen sind immer noch hier: Sie leben in | |
Zelten auf den Straßen und Freiflächen, in Wohnblöcken ohne Strom und | |
Wasser – „wie in der Steinzeit“, sagt einer der Bewohner. Ihre Handys und | |
Laptops laden die Menschen oft an sogenannten Charging Points, der Strom | |
kommt durch Solarzellen oder Generatoren. Das Leben wird bestimmt vom | |
Mangel. | |
Al-Saftay hat Glück im Unglück – er lebte schon vor dem Krieg in Deir | |
el-Balah. Verhältnismäßig ist die Stadt weniger stark vom Krieg gezeichnet | |
als andere. Auch das Haus, in dem er mit seiner Ehefrau und den beiden | |
Kindern lebt, blieb verschont. Doch auch er leidet unter dem Krieg: Weil es | |
kaum Strom – und damit auch keine funktionierenden Kühlschränke – gibt, | |
kauft er von Tag zu Tag Lebensmittel – für seine Familie und für seinen | |
kleinen Laden. Vorauszuplanen ist schwierig, sogar für 24 Stunden. Auch er | |
fragt sich: Wie geht es nun weiter? Und die Menschen in den Zelten auf den | |
Straßen fragen sich das wohl noch mehr. | |
Seit dem 19. Januar ist das Abkommen zwischen Israel und der Hamas in | |
Kraft, das dafür sorgen soll, dass die Geiseln nach und nach freikommen und | |
die Waffen schweigen. Die Geräusche der Raketen und Explosionen sind in | |
Deir el-Balah verstummt. Doch die Aufklärungsdrohnen, die mit ihrem lauten | |
Surren täglich stundenlang über dem Gazastreifen kreisen, erinnern daran: | |
Bisher ist die Ruhe nur temporär. | |
## Viele Menschen können sich den Markt nicht leisten | |
Im Rahmen des Abkommens sollen außerdem mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen | |
gelangen, mit mehreren hundert Lastwägen täglich. Nach Angaben der | |
Vereinten Nationen übertreffe man seine Ziel sogar: Allein am Tag nach dem | |
Beginn des Waffenstillstandes seien über 900 Lastwägen angekommen. | |
Doch al-Saftay in seinem kleinen Geschäft merkt davon bisher wenig. Die | |
Güter kämen rein in den Gazastreifen, seien im lokalen Großhandel verfügbar | |
– aber die Einkaufspreise seien immer noch höher als vor dem Beginn des | |
Krieges, betont er. Teile der Hilfsgüter, die etwa von den Vereinigten | |
Arabischen Emiraten oder der Europäischen Union gestiftet werden, werden in | |
den Märkten verkauft – auch über ihn. [1][Sie sollten gratis verteilt | |
werden, sind auch so mit Aufdrucken markiert – „Not for Sale“, nicht zu | |
verkaufen. Doch das passiert oft nicht.] Die Großhändler säßen alle hier in | |
Deir el-Balah, sagt er, und verkauften die angekommenen Güter an Händler | |
wie al-Saftay weiter. Jeden Tag änderten sich deshalb auch seine | |
Einkaufspreise. Viele Menschen, betont er, könnten sich weiterhin viele | |
Güter nicht leisten. | |
Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Mehrheit der Menschen in Gaza ihre | |
Häuser, ihre Arbeit, ihr ganzes Leben immer wieder hinter sich lassen | |
musste – auf der Flucht vor den Luftangriffen, den Evakuierungsanordnungen | |
des israelischen Militärs folgend. Einer von den zeitweise über 1,5 | |
Millionen Binnengeflüchteten ist Moman al-Saftay. Dass die beiden Männer | |
den gleichen Nachnamen tragen ist Zufall. Pharmazie habe er studiert, | |
erzählt er, vor dem 7. Oktober 2023. „Mein Leben war normal. Und dann kam | |
der Krieg und hat alles zerstört“ – sein Zuhause, die Apotheke, in der er | |
arbeitete, die Universität, an der er lernte. | |
Er vermeidet es, auf dem Markt einzukaufen. Zu teuer sind die verfügbaren | |
Lebensmittel, nachdem er sein Einkommen verloren hat. Stattdessen stand er | |
bisher mit vielen anderen Menschen in den Schlangen vor den | |
Verteilungszentren der Hilfsorganisationen. Doch seit Beginn der Waffenruhe | |
am Sonntag habe es in Deir el-Balah keine Verteilung von Hilfsgütern mehr | |
gegeben. Das ist nun bald eine Woche her. „Morgen vielleicht“, sagen die | |
Menschen. Vielleicht müssten sie die Waren erst sortieren, sagt einer. | |
## Keine Zukunft im Gazastreifen | |
Daran, dass kriminelle Gangs die Laswägen ausrauben, liegt es wohl nicht. | |
Während des Krieges wurde das zu einem gängigen Bild: Etwa die New York | |
Times berichtete von vermummten, schwer bewaffneten Männern, die sich auf | |
die Planen der eintreffenden Lastwägen schwingen und im herrschenden | |
Machtvakuum – die Hamas ist im Untergrund, eine alternative Kontrollinstanz | |
fehlt – die Ladung stehlen. Auch in den Sozialen Medien häuften sich Bilder | |
und Videos davon. Die erbeuteten Güter, so berichten lokale Quellen, wurden | |
oft teuer weiterverkauft oder von den Gruppen selbst behalten. | |
Also wartet Moman al-Saftay darauf, dass endlich die Verteilung der Güter | |
beginnt. Seine Zukunft, betont er, sehe er nicht im Gazastreifen: „Ich bin | |
21 Jahre alt und stehe vor dem nichts“. So Gott es wolle, sagt er, werde er | |
fortgehen. Dafür müsste der Grenzübergang Rafah zum Nachbarland Ägypten | |
geöffnet werden. Der befindet sich derzeit noch unter israelischer | |
Kontrolle – eine Nachfolge wird diskutiert. Die Times of Israel berichtete | |
jüngst, Israel und Ägypten hätten sich darauf geeinigt, dass die | |
Palästinensische Autonomiebehörde die Kontrolle des Grenzübergangs | |
übernehme. Kurz darauf dementierten Israel wie die Autonomiebehörde die | |
Gerüchte. | |
Bis Rafah – unter welcher Kontrolle es dann auch immer stünde – öffnet, | |
wird noch Zeit vergehen: [2][Nach dem Text des Abkommens] soll der Übergang | |
für Zivilisten und Verwundete geöffnet werden, nachdem alle weiblichen | |
Geiseln freigekommen sind. Ein Zeitrahmen wird nicht genannt. Drei junge | |
israelische Frauen wurden bereits aus der Geiselgefangenschaft entlassen, | |
am Samstag folgen vier weitere. Auf der Liste der 33 Geiseln, die im Rahmen | |
des Deals freikommen sollen, stehen dann noch zwei weitere Frauen. | |
Wie Moman steht auch Mohammed Al-Loyah vor dem nichts, so erzählt er es. | |
Al-Loyah ist ein junger Mann, doch die Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen | |
sitzt tief. Er stammt aus [3][dem Nuseirat Camp] in Zentralgaza. Seit 1948 | |
leben dort Palästinenser, die aus dem für heutigen Israel vertrieben | |
wurden. Längst ist das Camp eine Stadt geworden, über 88.000 Menschen waren | |
vor dem Krieg dort registriert. Die Straßen waren schmal und zwischen den | |
Gebäuden kaum Platz. In Nuseirat befreite das israelische Militär im | |
Frühling 2024 vier Geiseln in einer waghalsigen Operation mit vielen | |
palästinensischen Toten. Al-Loyah hatte das Camp im Dezember 2023, Monate | |
zuvor, verlassen. | |
## „Warum passiert uns das?“ | |
Auf vier Stockwerken wohnten sie zusammen, erzählt er: Sein Vater, seine | |
Mutter, sein Bruder mit dessen Frau und Kindern, er selbst mit Ehefrau und | |
den drei kleinen Kindern. Geld verdiente er auf dem Bau oder als | |
Hilfsarbeiter – kein großes Auskommen, doch es reichte. „Sie haben alles | |
zerstört“, sagt er, die „Jish al-Ahtilal“, die Armee der Besatzung. So | |
nennen viele in Gaza und dem Westjordanland die israelische Armee. | |
Nahe al-Loyahs Zuhause lag Ackerland. Heute, erzählt er, sei es Teil des | |
Netzarim-Korridors. Die ganze Landschaft hätten die Israelis mit Bulldozern | |
plattgemacht. Und: „Nachdem wir unser Haus verlassen hatten, nutzten es die | |
Besatzungstruppen“. Bekannte, die vor Ort geblieben seien, erzählten ihm: | |
Der zweite Stock – in dem sein Bruder mit seiner Familie lebte – sei | |
vollkommen abgebrannt. Schließlich sei das Haus bombardiert worden. | |
„Nichtmal ein Zelt könnte man da noch aufstellen“, glaubt al-Loyah. Also | |
bleibt er erstmal mit seiner Familie in ihrem Zelt in Deir-el-Balah – „und | |
obdachlos“. „Wenn die Waffenruhe nicht hält, wäre das eine Katastrophe“, | |
betont er. „Insbesondere, weil unser Zuhause an die Netzarim-Achse grenzt“. | |
In den Sozialen Netzwerken zeigen Menschen aus dem Gazastreifen die | |
Rückkehr in ihre Wohnungen: In manchen ist nur wenig zerstört, die Bewohner | |
fegen Scherben und Schutt zusammen, einer verlegt sogar neue Fliesen. Auch | |
der Verkäufer Saadi al-Saftay erzählt: Weil sein Laden an einer größeren | |
Straße in Deir el-Balah liege, sei er immer wieder von Splittern naher | |
Explosionen beschädigt worden. Von größeren, strukturellen Schäden blieb er | |
aber verschont: „Ich habe es dann einfach repariert.“ | |
Etwas reparieren, wieder aufbauen: Daran denkt Moman Al-Saftay, der einmal | |
Pharmazie studierte und nun auf die Verteilung von Lebensmitteln wartet, | |
nicht mehr. Er will nur fort. Und fragt: „Warum passiert uns das?“. Und: | |
Wann endet das? | |
25 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nytimes.com/2024/05/18/world/middleeast/israel-gaza-economy.html | |
[2] https://www.timesofisrael.com/full-text-of-the-hostage-ceasefire-agreement-… | |
[3] /Krieg-zwischen-Israel-und-der-Hamas/!6015836 | |
## AUTOREN | |
Sami Ziara | |
Lisa Schneider | |
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