# taz.de -- Politik und Menschen in der Lausitz: Die Macht von Pizza in Sachsen | |
> Vor Kurzem zog unsere Autorin in die Lausitz. Die zweite Folge der neuen | |
> Text-Serie handelt von einem Abend, an dem sich alle mal kennenlernen. | |
Bild: Vereint durch Geschmack: Pizza | |
Als ich Mitte letzten Jahres meinen Freund*innen von [1][Gerdas und | |
meinem Umzug ins Lausitzer Hinterland] berichtet habe, sind die Reaktionen | |
oft skeptisch ausgefallen: „Echt, aufs sächsische Dorf? Zu den Nazis?!“ | |
Auch bei mir löst [2][der enorme Rechtsruck] zunehmend Wut, Sorge und Angst | |
aus. In diesen Gesprächen war ich dennoch überraschend defensiv. Das mag | |
einerseits daran liegen, dass ich selbst in einem sächsischen Dorf | |
aufgewachsen bin und mich dem zugehörig fühle. Ich mag ländliche Räume. Und | |
ich mag Sachsen. Andererseits empfand ich die zugrundeliegende Haltung als | |
arrogant. Als könne man das Problem des steigenden Rechtsrucks lösen, indem | |
man die ostdeutschen Dörfer und Kleinstädte künftig einfach großräumiger | |
umfährt. | |
Im Schreiben darüber fühle ich mich nach wie vor etwas tapsig. | |
Selbstverständlich möchte ich keinesfalls menschenfeindliche Positionen | |
bagatellisieren. Ich bin überzeugt, dass man den [3][Politiker*innen | |
der AfD] – insbesondere in Sachsen – keine Bühne bieten sollte. | |
Gleichzeitig finde ich es jedoch unklug, alle Wähler*innen dieser Partei | |
(oder gar eine gesamte Lokalbevölkerung) pauschal als Nazis abzustempeln. | |
Immer wieder erlebe ich unmittelbar, wie solch eine kategorische Abwertung | |
von der AfD als Brandbeschleuniger genutzt wird, Hass und Abgrenzung weiter | |
zu befeuern. | |
So fing ich also bei Diskussionen im Freundeskreis plötzlich an, den Osten | |
zu verteidigen und vor Pauschalisierungen zu warnen. Denen gehe ich | |
natürlich genau dann selbst auf den Leim, wenn ich eine so große Gruppe von | |
Menschen mit unterschiedlichsten Positionen zusammenfasse als „den Osten“. | |
## Unter Beobachtung | |
Ich bin sicher keine Expertin. Aber ich möchte zumindest versuchen, mehr | |
ins Gespräch zu kommen. Mehr zuzuhören. Mich mehr darauf zu konzentrieren, | |
was mich mit Leuten verbindet. Auch wenn dieser Vorsatz konsequenterweise | |
wieder und wieder an der Realität scheitert. Wenn zwei junge, | |
links-progressive Frauen auf ein Dorf in der Lausitz ziehen, ist es ein | |
Leichtes, Unterschiede zu finden. Die suchen die Alteingesessenen ebenso | |
wie die Zugezogen, also ich. Gänzlich ablegen kann ich das nicht, doch | |
zumindest in vielen Momenten mit Humor nehmen. Das hilft. | |
Die anfänglichen Vorbehalte waren keine Einbahnstraße. Auch Gerda und ich | |
wurden von unseren neuen Nachbar*innen zunächst skeptisch beäugt: Unser | |
kleiner Hof ist das letzte Grundstück an einer abgehenden Seitenstraße. | |
Lediglich ein Wendekreis trennt uns von der Sackgasse, die das Ortsende | |
markiert. Umso verwunderter waren wir, dass anfangs Dutzende Autos unsere | |
Straße hinunterfuhren, wendeten, nur um wieder in Richtung der Hauptstraße | |
weiterzuziehen. | |
„Na, die Dörfler sind halt neugierig, wer hier jetzt wohnt!“, klärte uns | |
unsere Nachbarin Angelika auf. Einfach mal bei uns geklingelt hatte bisher | |
keiner. Gerda und ich beschlossen, den ersten Schritt zu machen und | |
steckten eine Einladung zum gemeinsamen Pizzaessen in jeden Briefkasten der | |
Straße. Allein die Geste schien das Eis ein stückweit zu brechen, denn | |
einen Tag später spazierte ein älterer Herr in unsere Richtung. | |
Er grüßte freundlich, drehte (ich denke mir das nicht aus) zu Fuß eine | |
Runde im Wendekreis und blieb schließlich vor uns stehen: „Ich heiße Willi | |
und wohne mit meiner Frau hier in der Sieben. Wenn ihr mit irgendwas Hilfe | |
braucht, sagt Bescheid.“ Damit verabschiedete er sich so rasch, wie er | |
gekommen war. „Ach so, ich soll fragen: trocken, halbtrocken oder | |
lieblich?“, erkundigte er sich noch schnell im Gehen. „Halbtrocken.“ | |
Besagter Pizzaabend stand schließlich vor der Tür und mit ihm überraschend | |
pünktlich knapp dreißig uns bis dato unbekannte Leute. Ich war nervös, | |
Gerda strahlte wie gewohnt vor Charme. Mit so viel Besuch hatten wir nicht | |
gerechnet, sodass wir aus allen Ecken zusätzliche Tische und Stühle zu | |
einer langen Tafel heranschleppten. Einige Gäste mussten an einer | |
ausgedienten Massageliege Platz nehmen, aber das schien niemanden zu | |
stören. Der Abend wurde herrlich. Die Unterhaltungen waren angeregt, die | |
Pizza schmeckte gut und der halbtrockene Sekt noch besser. | |
## Lektionen über die Lausitz | |
Ich lernte: Unsere neue Dorfgemeinschaft besteht überwiegend aus | |
Rentner*innen, die meist ihr ganzes Leben hier verbracht haben. Außerdem | |
gibt es die „Jugend“ (sprich, Mittvierziger), die im Zuge der | |
Familiengründung zurück aufs Dorf gezogen sind. Wieder und wieder wurde | |
betont, dass es so ein Straßenfest hier noch nie gegeben habe und das Dorf | |
buchstäblich ausstirbt. „Die jungen Leute hält hier eben nix mehr – die | |
gehen nach Dresden oder Leipzig oder direkt rüber“, erzählte mir ein | |
älteres Paar, spürbar bedrückt von der Abwesenheit ihrer eigenen Kinder und | |
Enkel. Eine besondere Herausforderung seien zudem die „ewigen | |
Junggesellen“. | |
Noch vor wenigen Tagen war ich über eine erschütternde Erhebung des Berlin | |
Instituts für Bevölkerung und Entwicklung von 2007 gestolpert, laut der | |
selbst in den nördlichen Polarkreisregionen mehr junge Frauen leben als in | |
Ostdeutschland. 2022 betrug der Männerüberschuss in manchen Regionen in | |
Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stattliche 20 Prozent. So wird eine | |
abstrakte Statistik zu greifbaren Lebensgeschichten. | |
Die Älteren erzählten von ihren damaligen Berufen und wie sich aus ihrer | |
Sicht die Lausitz seit der Wende verändert hat. Die Art, wie die Leute | |
sprechen, unterscheidet sich stark von der, die ich gewohnt bin. Aber | |
worüber sie reden, berührt viele der Themen, die auch mich umtreiben, | |
wenngleich sie nicht immer als solche gelabelt werden: Strukturwandel, | |
Arbeit und Rente, Unterschiede zwischen Stadt und Land oder Ost und West. | |
Fragen nach dem guten Leben. | |
## Das innere Ringen mit der Statistik | |
Die Gespräche wurden an keiner Stelle parteipolitisch, was ich erwartet, | |
ehrlich gesagt, sogar befürchtet hatte. Ich musste mir eingestehen – es | |
überraschte mich, wie nett die Leute waren. Während ich mich über meine | |
arrogante Voreingenommenheit ärgerte, fiel es mir dennoch schwer | |
zusammenzubringen, dass statistisch gesehen jede*r zweite der Anwesenden | |
noch vor wenigen Wochen das Kreuz bei der AfD gesetzt hatte. | |
Und jetzt saßen wir hier gemütlich beieinander und wurden gefüttert mit | |
praktischen Informationen, wo man den besten Kompost herbekommt, wer im | |
Dorf so das Sagen hat und warum man die „Betreten Verboten“-Schilder an den | |
Tagebauseen getrost ignorieren kann. Solche Situationen fühlen sich | |
zuweilen an wie ein Reallabor der Ambiguitätstoleranz. Mit dem feinen | |
Unterschied, dass das Ganze eben kein distanziertes Experiment ist, sondern | |
unser Alltag. | |
Das bedeutete nicht, dass ich politische Themen hier künftig vermeiden | |
wollte. Aber es hat mir meine neuen Nachbar*innen multidimensionaler | |
gemacht: Wir leben hier eben nicht nur zwischen rund 50 Prozent | |
AfD-Wähler*innen, sondern neben (Groß-)Eltern, Hobbygärtner*innen, | |
Handwerksprofis, Leseratten, Heimatverbundenen und Reisefans. Ob das die | |
Gesamtsituation jetzt besser oder schlechter macht, obliegt mir nicht zu | |
beurteilen. Es macht sie in jedem Fall echter. | |
Auch mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl ist davon auszugehen, dass | |
Rechtspopulist*innen hier einen großen Teil der Stimmen einfahren. Im | |
Gespräch zu sein; Unterschiede aushalten zu können; an den richtigen | |
Stellen weich zu bleiben – all das ist sicherlich kein Patent gegen | |
Rechtsruck. Dennoch fühlt es sich für mich in jedem Fall konstruktiver an, | |
neben Dissens auch Momente der Verbundenheit zuzulassen. Und gerade als bei | |
mir diese schöne Erkenntnis eingesetzt hatte, fragte einer der Nachbarn, ob | |
wir nicht mal bisschen Rammstein oder die Onkelz anmachen können. | |
23 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Linda Leibhold | |
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