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# taz.de -- Theater in Bremerhaven: Glaube Liebe Problemkiez
> Das Theater Bremerhaven bringt „Glaube Liebe Hoffnung“ auf die Bühne.
> Aber nicht im eigenen Haus, sondern in Lehe: Deutschlands ärmstem
> Stadtteil.
Bild: Es kann kein gutes Ende nehmen: Marsha B Zimmermann in „Glaube Liebe Ho…
Vom Bahnhof Bremerhaven-Lehe sind es etwas mehr als 20 Minuten zu Fuß zur
ehemaligen Theodor-Storm-Schule, wo zurzeit [1][das Stadttheater
Bremerhaven] einen Außenposten bezogen hat. Der Weg führt vorbei an Kiosken
und Eckkneipen, Imbissbuden, Spielotheken und Rotlichtviertel.
Bremerhaven-Lehe gilt weithin als „Problemkiez“, eine große
Boulevardzeitung nannte das Quartier nördlich des Bremerhavener Zentrums
den „ärmsten Stadtteil Deutschlands“.
Einst ging „Lili Marleen“-Sängerin Lale Andersen hier zur Schule – als s…
noch nicht Lale Andersen hieß. Seit 2007 fungiert [2][„Die Theo“], wie der
denkmalgeschützte Backsteinbau heute heißt, als „Haus für Arbeit, Familie
und Kultur“. Es gibt offene Beratungsangebote für Arbeitsuchende und
Betriebe, Unterstützung bei der Existenzgründung, aber auch Angebote für
werdende Eltern und eine Schuldner- und Insolvenzberatung. Die ehemalige
Aula, die „Storm Deel“, wird als Ort für Kulturveranstaltungen genutzt.
Johannes Bluth hat sie als ebenerdige Raumbühne eingerichtet, um ein großes
Kreuz aus kleinen, sorgsam mit Blumen gespickten Holzquadern herumstehen
Stuhlhalbkreise. Das Publikum befindet sich auf Augenhöhe mit dem Ensemble.
Von der Seite angeleuchtet, ergeben sie faszinierende Muster. Aber die
Blumen stehen natürlich auch für eine Fragilität der Ordnung und derer, die
darin leben. „Glaube Liebe Hoffnung“ [3][steht auf dem Programm]. Ödön von
Horvath verfasste das Stück mit Hilfe des Gerichtsreporters Lukas Kristl,
der Horvath den realen Stoff für seinen „kleinen Totentanz in fünf Bildern�…
lieferte.
## Eingedampfter Klassiker
Für Florian Thiel, Regieassistent am Stadttheater, ist dieser Abend
zugleich seine Diplominszenierung, mit der er sein Regiestudium am Wiener
[4][Max Reinhardt Seminar] abschließt. Das Personal des Stücks hat er für
seine rund 90-minütige Fassung auf sieben Personen eingedampft, bleibt aber
nah an der Vorlage. „Glaube Liebe Hoffnung“, erzählt die Geschichte der
Korsagenvertreterin Elisabeth. Weil sie ohne Gewerbeschein gearbeitet hat,
muss sie eine Geldstrafe zahlen. Um die Strafe bezahlen zu können, braucht
sie einen Gewerbeschein.
Das Geld für die Strafe leiht sie sich von einem Präparator, der am
Anatomischen Institut arbeitet. Dort hatte sie eigentlich ihre Leiche
verkaufen wollen. Das Geld für den Gewerbeschein wiederum streckt ihr die
Geschäftsfrau Irene Prantl vor. Es könnte sich ihr also die Welt wieder
öffnen, wie der Präparator meint.
Als er allerdings erfährt, wofür sie sein Geld verwendet hat, zeigt er sie
wegen Betrugs an, er sei „nämlich ein herzensguter Mensch, aber ich vertrag
es halt nicht, dass man mich belügen tut“. Elisabeth habe ihm schließlich
erzählt, dass ihr Vater Zollinspektor sei. Während er in Wirklichkeit
Versicherungsinspektor ist … Für die Frau Amtsgerichtsrat, die im
Nebenberuf ebenfalls Korsagen und Strapsgürtel für Frau Prantl verkauft,
ist die Sache klar: Tatbestand des Betruges. Dafür muss die junge Frau für
14 Tage ins Gefängnis.
Wieder in Freiheit verliebt sich der Schupo Alfons Klostermeyer in sie.
Aber auch dieses Glück ist nur von kurzer Dauer: Als Alfons von ihrer
Vergangenheit erfährt, trennt er sich mit Blick auf seine Karriere von ihr.
Elisabeth nimmt sich das Leben. Zwar wird sie noch aus dem Kanal gezogen,
in dem sie sich ertränken wollte, aber gerettet werden kann sie nicht mehr.
Was als Geschichte ja durchaus das Zeug zum Rührstück hat, ist bei Horvath
luzide Gesellschaftsanalyse und -kritik. Hinter der gestelzten Sprache
seiner Figuren verbirgt sich nur sehr notdürftig die Brutalität der
Konkurrenzsubjekte, erst recht in Zeiten ökonomischer Krisen. Thiels Regie
arbeitet diese Charaktermaskerade präzise heraus: Marc Vinzing als
Präparator, Henning Z Bäcker als Alfons, Julia Lindhorst-Apfelthaler als
Irene Prantl, Isabel Zeumer als Frau Amtsgerichtsrat und Alexander Smirzitz
als Kriminaler modellieren ein plastisches Kabinett kleinbürgerlicher
Borniertheit.
Lediglich die zumindest bei Horvath als Prostituierte arbeitende Maria
(Leon Häder) empfindet und praktiziert Solidarität mit Elisabeth (Marsha B
Zimmermann), die bis zum bitteren Ende eine auf ihre Autarkie bedachte Frau
ist, auch wenn sie ihr Heil in der Ehe sucht – hier ist Horvath dann
vielleicht doch nicht mehr ganz aktuell. Ihre Stärke nützt Elisabeth
freilich wenig. Ungerechtigkeit gehöre nun mal zu einer geordneten
Gesellschaft, hatte ihr schon Alfons gesagt. Und auf ihre Frage, ob die
Welt denn dann nicht zumindest ein bisschen weniger ungerecht sein könnte,
herrscht er sie an: „Das ist Philosophie.“
## Keine Spur von Mitgefühl
Der Germanist Klaus Kastberger sagte über Horvaths Figuren: „Sie empfinden
sich selbst als menschlich und moralisch, hinter ihren Masken erkennt man
aber die Bösartigkeit.“ Der Präparator trauert um seinen Rehpinscher,
füttert Tauben. Und entnimmt seiner Schmetterlingssammlung das
Vorhandensein einer höheren Ordnung. Frau Amtsgerichtsrat findet in einer
sentimentalen Aufwallung ja schon, dass ihr Mann der Elisabeth die Strafe
doch wenigstens hätte zur Bewährung aufbrummen können.
Aber so etwas wie Mitgefühl? Keine Spur: Schupo Alfons opfert seine
Beziehung zu Elisabeth ziemlich umstandslos seiner Karriere, und der
Schrecken über den Suizidversuch Elisabeths wandelt vor allem beim
vergeblich rettenden Kriminaler in Stolz auf den eigenen Mut.
Viel Stoff für das „Stadtgespräch“, das nach den Vorstellungen von „Gla…
Liebe Hoffnung“ unter der Leitfrage „Wie stellt sich die soziale Frage 2024
in Bremerhaven?“ Experten und Expertinnen zum Gespräch bittet. Nach der
Premiere sprachen der Bremer Professor für praktische Philosophie, Georg
Mohr, und Jochen Merlin, Bewährungshelfer im Ruhestand, mit
Stadttheater-Dramaturg Peter Hilton Fliegel zwar eher über die
Gerechtigkeit der Justiz als über die soziale Frage im Sinne von Armut. Was
allerdings wohl kaum voneinander zu trennen ist.
Ziemlich sicher dürfte ohnehin sein, dass eine kriminelle Vergangenheit bei
armen Menschen die Schwierigkeiten bei der Resozialisierung keineswegs
verringert. Zwar sei nach Büßen einer Strafe der Rechtszustand
wiederhergestellt, sagt Merlin – und Elisabeth hat ihre Strafe schließlich
abgesessen. Damit ist die Sache aber eben doch nicht erledigt.
Bei der Arbeitssuche sei ein Eintrag ins Führungszeugnis dennoch fatal,
meint Merlin. Dabei liege die Quote derer, die ihre Bewährungsauflagen
erfüllten, bei rund 75 Prozent. Der gute Wille ist eben noch keine Gewähr
für eine erfolgreiche Resozialisierung. Nicht nur insofern scheint Horvath
leider sehr aktuell.
27 Dec 2024
## LINKS
[1] /Bremen-Bremerhavener-Theaterkooperation/!6040552
[2] https://www.die-theo.de/willkommen
[3] https://stadttheaterbremerhaven.de/glaube-liebe-hoffnung/
[4] https://www.maxreinhardtseminar.at/
## AUTOREN
Andreas Schnell
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
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Ödön von Horváth
Orchester
Freies Theater
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