# taz.de -- Publizistin Gümüşay über Polarisierung: „Wir leben in einer r… | |
> Heutzutage finden Utopien am Rande der Gesellschaft statt, sagt die | |
> Autorin Kübra Gümüşay. Für eine bessere Welt bräuchte es mehr kollektive | |
> Scham. | |
Bild: Kübra Gümüşay | |
Mit Wortneuschöpfungen wie „Heizhammer“ oder „Verbotsmentalität“ malt… | |
fossile Lobby ein hässliches Bild der klimaneutralen Zukunft. Gleichzeitig | |
fehlen im deutschsprachigen Klimadiskurs bisweilen die Worte für eine | |
positive Zukunftsvision. Die Autorin Kübra Gümüşay beschäftigt sich in | |
ihrer Arbeit viel damit, wie Sprache und Denken unser Handeln beeinflussen. | |
Zuletzt suchte sie in ihrem Bestseller „Sprache und Sein“ nach Worten für | |
ein gemeinsames Denken in einer zunehmend polarisierten Welt. | |
taz: Kübra Gümüşay, Sie haben mal geschrieben: „Wer antritt, die Missstä… | |
unserer Gesellschaft zu bekämpfen, muss in zwei Welten leben. In der Welt, | |
wie sie ist, und in der Welt, wie sie sein könnte, einer Utopie.“ Wie | |
erleben Sie den Spagat zwischen diesen zwei Welten? | |
Kübra Gümüşay: Der Spagat wird einem besonders deutlich, wenn man in | |
Verantwortung für andere Menschen ist, insbesondere für Kinder. Es ist | |
nochmal ein besonderer Stretch, wenn es ein rassifiziertes Kind ist, das | |
Ausgrenzung erfahren wird. Du musst einerseits die Welt erklären, wie sie | |
derzeit ist, aber auch gleichzeitig den Blick dafür öffnen, dass es anders | |
sein könnte. Zugleich sollst du diesem jungen Menschen die Werte mitgeben, | |
die er braucht, um durch sein Handeln diese andere Welt auch selbst zu | |
erschaffen. | |
taz: Müssen wir zuerst anerkennen, wie ernst die Lage ist und was | |
fundamental falsch läuft, bevor wir uns die Utopie ausmalen? | |
Gümüşay: Ich war in den letzten Jahren sehr viel auf Recherche zu | |
sogenannten realen Utopien – also zu Orten in der Gegenwart, in denen | |
Menschen bereits Ideale und Werte umsetzen, die in der Gesamtgesellschaft | |
nicht etabliert sind. Eine Beobachtung des US-amerikanischen Soziologen | |
Erik Olin Wright ist, dass solche realen Utopien häufig an den Rändern | |
unserer Gesellschaft zu finden sind. In einem Interview wurde ich dann von | |
einer Journalistin gefragt, ob es auch reale Dystopien gebe. Zuerst fand | |
ich die Frage irritierend, aber dann wurde mir klar, dass wir in einer | |
realen Dystopie leben. Die Anzeichen sind überall sichtbar. | |
taz: Wo sehen Sie die reale Dystopie im Jahr 2024 besonders deutlich? | |
Gümüşay: Ist es keine dystopische Gegenwart, wenn in bestimmten Teilen der | |
Erde ein würdevolles Leben verunmöglicht wird? Es gibt so viele Beispiele: | |
Statt ein würdevolles Leben in Frieden und Gerechtigkeit für alle zu | |
ermöglichen, fließen derzeit Milliarden in die Aufrüstung, in die aktive | |
Verwüstung und Zerstörung von Mensch und Umwelt, in Kriegsverbrechen. Aber | |
wir müssen gar nicht weit weggucken. Es reicht eigentlich schon ein | |
Spaziergang zu den Hauptbahnhöfen in deutschen Großstädten: Ist es nicht | |
ungeheuerlich, dass in einer der reichsten Industrienationen Menschen | |
[1][unfreiwillig obdachlos] sind? Dass sie nicht nur ohne Obdach leben, | |
sondern auch noch systematisch ausgegrenzt und kriminalisiert werden, | |
selbst durch absurde Banalitäten wie eine Architektur, die eigens Parkbänke | |
mit Zwischenlehnen kreiert, damit Bedürftige sich nicht hinlegen können? | |
Diese reale Dystopie ist die Luft, die wir atmen. Sie ist unsere | |
Normalität. | |
taz: Klimajournalist*innen werden viel mit dem Anspruch konfrontiert, | |
Erzählungen über die Welt in der Klimakrise müssten konstruktiv sein. | |
Sollten wir reale Dystopien nicht auch klar benennen? | |
Gümüşay: Ja klar! Zu skandalisieren, was ist, ist ein wichtiger Schritt, um | |
überhaupt eine andere Welt denken zu können. Was ich schwierig finde, ist, | |
wenn man bei diesem ersten Schritt verweilt. Die Skandalisierung der Welt | |
muss einhergehen mit dem Öffnen des Blickes dafür, was stattdessen sein | |
könnte. Ohne das verfallen wir in Ohnmacht. Wer schon einmal mit Menschen | |
gesprochen hat, die in Kriegsgebieten leben mussten, weiß: Es ist nicht so, | |
dass die Menschen dort die ganze Zeit unglücklich vor sich hinvegetieren. | |
Da findet Freude statt und Tanz und Kunst – trotz allem. Menschen sind | |
adaptiv, sie können trotz widrigster Umstände Schönheit erschaffen. Das | |
zeigt uns, wie Widerständigkeit auch aussehen kann. | |
taz: In den Klimawissenschaften richtet sich der Blick oft in die Zukunft | |
und beleuchtet dystopische Szenarien im Jahr 2050, oder zum Ende des | |
Jahrhunderts. Welche Wirkung hat das? | |
Gümüşay: Die Frage ist doch: Wie sehr muss es brennen, damit ein Zustand | |
als Notstand erkannt wird? Es gibt immer mehr Daten, die die Realität | |
belegen, aber es findet keine ausreichende Veränderung in der Art und Weise | |
statt, wie politisch entschieden und gehandelt wird. Mehr Daten und mehr | |
Skandalisierungen allein ändern leider nichts. | |
taz: Viele Menschen weltweit leben ja bereits heute ganz real in einer | |
zerfallenden Welt. Das machen Sie in Ihrer Arbeit immer wieder deutlich. | |
Gümüşay: Menschen, die soziale Umwälzungen oder Migration durchlebt haben, | |
schlicht jede Person, die aus einem Raster gefallen ist, weiß um die | |
Veränderlichkeit der Welt. Es ist absolut realitätsfern, die aktuelle Krise | |
als „neue Herausforderung“ zu betrachten. Das kann nur jemandem einfallen, | |
der sich aus dem Lehnsessel heraus, fernab jeglicher Praxis, lediglich | |
theoretische Gedanken macht. | |
taz: Die Diskussion um die Zukunft scheint momentan genau diesen Männern zu | |
gehören, die aus einem solchen Lehnsessel heraus die Welt betrachten, oder? | |
Gümüşay: Einer Vision wie der von Elon Musk – etwa [2][die Besiedlung des | |
Mars], im Grunde eine Dystopie – wird nicht konsequent mit Abwehr begegnet, | |
stattdessen zieht sie gar Milliardeninvestitionen an. Da frage ich mich: | |
Warum gilt es als utopisch, also unmöglich, über eine Welt ohne Grenzen, | |
Polizei und Gefängnisse nachzudenken, während ein Businessplan zur | |
Bevölkerung des Mars als realistisch betrachtet wird? Diese Diskrepanzen | |
zeigen, dass wir absichtlich realistische Ideen als utopisch abtun. Dabei | |
sind sie darüber hinaus dringend notwendig. | |
taz: Welches Potenzial sehen Sie darin, wenn wir kollektiv anerkennen, dass | |
wir gerade scheitern? Ganz persönlich fällt es uns oft nicht leicht, Fehler | |
zu machen – wir haben gelernt, uns dafür zu schämen. | |
Gümüşay: Ein Stichwort spielt da eine zentrale Rolle und das ist die Scham. | |
Scham wird ja häufig als etwas betrachtet, was wir hinter uns lassen | |
sollten. Und gleichzeitig erleben wir, wie gewaltvoll der Mangel an Scham | |
wirkt – wenn jemand schamlos Menschen unterdrückt, andere hintergeht oder | |
lügt, bloß weil er juristisch oder vonseiten mächtiger Institutionen keine | |
Konsequenzen fürchten muss. So orientiert sich das Handeln an externen | |
Bestrafungssystemen. Ein gesundes, inneres Maß an Scham hingegen ist in | |
einer Gesellschaft wichtig und ermöglicht uns, aus Fehlern zu lernen. | |
taz: Die Debatte über Flugscham hat bisher zumindest gefühlt zu wenig | |
Einsicht und Veränderung geführt … | |
Gümüşay: Es ist wichtig, hier zu unterscheiden zwischen Scham auf | |
individueller Ebene und auf der strukturellen Ebene der Macht. Ein sehr | |
destruktives diskursives Werkzeug ist die Abwälzung von strukturellen | |
Missständen auf individuelles Handeln. Zum Beispiel eine Aktivistin zu | |
beschämen, weil sie eine Flugreise macht, während die tatsächlich | |
Verantwortlichen in der Politik sich nicht schämen, selbst jene Ziele nicht | |
erreicht zu haben, mit denen sie zu Beginn der Legislaturperiode angetreten | |
sind. Im politischen Betrieb, auf der Ebene der Macht, fehlt diese gesunde | |
Scham. | |
taz: Also geht es weniger um das kollektive Scheitern, sondern vielmehr | |
darum, dass wir uns kollektiv zu wenig schämen? | |
Gümüşay: Schämen wir uns als Gesellschaft denn genug für den Schaden und | |
die Gewalt, die wir in der Welt anrichten? Ich denke, ein so unbequemes | |
Gefühl wie Scham kann uns dabei helfen zu erkennen, wo wir stehen und wo | |
die Grenzen anderer sind, wenn wir diese überschreiten und ungewollt | |
Schaden anrichten, auch jenseits rechtlicher Zwänge. Doch ohne innere, | |
gesunde Scham bleiben diese Grenzüberschreitungen viel zu häufig | |
konsequenzlos. Andererseits kann uns zu viel Scham handlungsunfähig machen. | |
Eine gesunde Portion würde dazu führen, dass wir erkennen, wo wir | |
ausgrenzen, unterdrücken, schaden – das ist der Moment, in dem wir wachsen | |
können. Das kann ein sehr schmerzvoller Prozess sein. Gleichzeitig ist es | |
auch immer der Moment, an dem ein Mensch an die Grenzen des eigenen | |
Horizonts stößt und die Chance hat, diesen Horizont zu erweitern. | |
Das Gespräch entstand im Kontext eines einjährigen Forschungsprojekts für | |
die wochentaz-Ausgabe vom 21.12. und ist in längerer Fassung unter | |
folgender Internetadresse zu finden: | |
[3][www.klima-kollaps-kommunikation.de] | |
22 Dec 2024 | |
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[3] http://www.klima-kollaps-kommunikation.de | |
## AUTOREN | |
Theresa Leisgang | |
Larry Faust | |
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