| # taz.de -- Duell bei Schach-WM: Brutal und seltsam schön | |
| > Das WM-Duell zwischen Ding Liren und dem neuen Weltmeister Dommaraju | |
| > Gukesh verlangte auch den Fans alles ab. Es war eine kathartische | |
| > Erfahrung. | |
| Bild: Fix und fertig: Dommaraju Gukesh während Partie 14 bei der WM | |
| Am Ende war es ganz schnell vorbei: Im 55. Zug der letzten von 14 Partien | |
| verschenkte der [1][Titelverteidiger Ding Liren] ein sicheres Remis durch – | |
| ja, was war das eigentlich? Eine Unachtsamkeit? Ein simpler Gehirnblurp, | |
| ein Riss in der Konzentration, ein Aussetzer, wie er nicht einmal einem | |
| mittelmäßigen Spieler wie mir passieren sollte? | |
| Der Tribut der unfassbar anstrengenden Partien zuvor, die für Ding Liren | |
| selbst, wie er sagte, von Tag zwei an nichts anderes als eine Qual gewesen | |
| waren. Ganz im Gegensatz zu [2][seinem Gegner Gukesh], zarte 18 Jahre alt, | |
| der auch in aussichtslos ausgeglichenen Positionen immer noch ein paar Züge | |
| machte, einfach weil, wie er sagte, er es derart genieße, Schach zu | |
| spielen; wobei er nichtsdestotrotz nach seinem letzten Zug in Tränen | |
| ausbrach, die wohl nicht nur solche der Freude gewesen sind, sondern auch | |
| solche der Erleichterung. | |
| [3][Es wurde viel gemäkelt über das Niveau der Partien], verschiedene | |
| Topspieler meinten sich abfällig darüber äußern zu müssen, dass die | |
| Qualität mancher Züge einer Weltmeisterschaft nicht angemessen sei, Magnus | |
| Carlsen beispielsweise oder auch der amerikanische Großmeister Hikaru | |
| Nakamura. Objektiv betrachtet ist das falsch: Eine Datenanalyse des | |
| Schachwissenschaftlers Mehmet Ismail kommt zu dem Schluss, dass dieses | |
| Match das exakteste seit der Weltmeisterschaft 1995 war, jener legendären | |
| Begegnung zwischen Garri Kasparow und Viswanathan Anand auf dem World Trade | |
| Center. | |
| Warum das von vielen Kommentatoren nicht erkannt wurde, liegt wohl auch | |
| daran, dass sich alle einig sind: In diesem WM-Kampf ist nicht der stärkste | |
| Spieler im aktuellen Schach gekürt worden; das ist bis jetzt noch immer | |
| Magnus Carlsen. | |
| ## Das Fehlen des Besten | |
| Aber ebenjener Magnus Carlsen hatte auf eine Teilnahme an den vergangenen | |
| zwei Weltmeisterschaften verzichtet, weil ihm das Format zu anstrengend | |
| ist. Er versuchte im Vorfeld der letzten WM, neue Formate in diesen | |
| Wettkampf einzuführen: kürzere Formate, die für seine Begriffe | |
| unterhaltsamer und zeitgemäßer sind. Als der internationale Schachverband | |
| Fide sich weigerte, trat er ungeschlagen zurück und kommentiert jetzt | |
| süffisant aus dem Hintergrund. | |
| Wobei es ein zugegebenermaßen sehr valider Grund ist, zu sagen: Das ist | |
| einfach too much, diese Quälerei, die monatelange Vorbereitung, die völlige | |
| Abschottung während der Matches, die tagelang derart beanspruchte Birne, | |
| dass sie notgedrungen irgendwann durchglühen muss. Es ist zu viel, obwohl | |
| die Fide hier schon Konzessionen gemacht hat: Das Weltmeisterschaftsduell | |
| 1984 zwischen Anatoli Karpow und Garri Kasparow zog sich über ein halbes | |
| Jahr und 48 Partien und wurde trotzdem vorzeitig abgebrochen. Das ist kein | |
| Argument: Dass es früher noch verrückter war, heißt ja nicht, dass es heute | |
| noch so zu sein hat. | |
| Es ist auch so anstrengend genug: Auch bei dieser WM konnte man mit jeder | |
| fortschreitenden Partie sehen, wie dieses vermaledeite Brett mit den | |
| Figuren darauf Stück für Stück das Leben aus den Kontrahenten heraussog. | |
| Und nicht nur aus den beiden vorne am Brett: Ein Stück weit gilt das auch | |
| für die Zuschauer*innen, die ja – anders als in Bewegungssportarten – wenn | |
| auch nicht mitspielen, so doch mitdenken, mitrechnen, mitleiden. | |
| Mir ist in meinem Dasein als Sportfan noch kein Event untergekommen, das | |
| derart in der Lage ist, mich zu entrücken. Es hat etwas Mystisches; nicht | |
| das Spiel an sich, das ja allerhand Überhöhungen auszuhalten hat, aber | |
| exakt dieses Format, das Carlsen für aus der Zeit gefallen hält. Genau das | |
| ist aber sein großer Zauber: Es erlaubt einem, aus der Zeit zu fallen. | |
| Insofern hat es auch etwas Kathartisches, einem der besten Spieler der | |
| Welt, der noch zwei Spiele davor eine von Anfang bis Ende perfekte Partie | |
| aufs Brett gezaubert hatte, dabei zuzusehen, wie er wegen eines Zuges | |
| verliert, den selbst ein kleines Schachlicht wie ich sofort als Fehler | |
| erkannt hat. Traurig ist es, aber auf eine seltsame Art auch schön. | |
| 18 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Frédéric Valin | |
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