# taz.de -- Schach-Weltmeister Ding Liren: „Ich möchte ein netter Mensch sei… | |
> Ding Liren ist nach dem WM-Triumph in ein tiefes Loch gefallen. Bald | |
> steht die Titelverteidigung an, in die er mit einem neuen Spielstil gehen | |
> will. | |
Bild: Grübelnder Genius: Ding Liren bei einer Partie Chess 960 | |
taz: Herr Ding, vor mehr als einem Jahr haben Sie gesagt, dass Sie nicht | |
berühmt werden wollen. Dann sind Sie Schach-Weltmeister geworden. | |
Ding Liren: Die Berühmtheit hält sich in Grenzen. Am Flughafen bei der | |
Abflugkontrolle bat mich allerdings ein ausländischer Fan um ein Foto mit | |
mir. | |
Sie sind weltweit eher bekannt als in China. | |
Ja, das kann gut sein. Bei uns ist Go und chinesisches Schach Xiangqi | |
beliebter als das westliche Schach. | |
Sie können also anders als etwa die Tischtennis-Asse Ma Long oder Fan | |
Zhendong unbehelligt über die Straße laufen? | |
Mit Sicherheit. Das sieht man auch in den sozialen Medien. Ich habe dort | |
nur rund 20.000 Follower, das ist nicht allzu viel für ein Milliardenvolk. | |
Normalerweise plustert so ein Titel doch das Ego auf. Man fühlt sich | |
großartig. Bei Ihnen war das anders. [1][Sie fielen in ein tiefes Loch] und | |
waren monatelang weg. | |
Ich hatte einige Probleme, das ist richtig. Ich war erschöpft, konnte aber | |
trotzdem nicht besonders gut schlafen. Das führte zu einer Depression. Ich | |
wurde zweimal in einer Klinik behandelt. Glücklicherweise wird es langsam | |
wieder besser. Schach ist psychisch anstrengend – und wenn man nicht gut | |
schlafen kann, ist das fatal. Immerhin konnte ich meine Tabletten von einst | |
vier am Tag reduzieren auf derzeit eine. | |
Sind Sie ein sensibler Typ? Es hieß auch, Sie hätten nach dem Titelgewinn | |
geweint. | |
Ja, der Weltmeisterschaftszweikampf dauerte so lange und war so | |
anstrengend. Ich habe mein Bestes gegeben und dachte nach dem Titelgewinn | |
an die viele Arbeit vor dem Wettkampf. Die Gefühle und die Erinnerungen | |
übermannten mich. Deshalb musste ich weinen. | |
Sie gehen erstaunlich offen mit Ihren Gefühlen um. Muss ein Profisportler | |
nicht hart zu sich selbst und anderen sein? | |
Ich war wohl so taff, bevor ich meine mentalen Probleme bekam. Deshalb | |
zeigte ich plötzlich Emotionen. Nun versuche ich wieder ausgeglichener zu | |
werden. Ich habe nun auch einen Arzt, der mir mental hilft. Mit dem | |
bespreche ich allerlei. Einen Mentalcoach wie die Tischtennisspieler, der | |
einen für die spielrelevanten Dinge wappnet, habe ich nicht. | |
Sie setzen gern auf wenige Kräfte, scheint mir. Auch Ihr Sekundantenteam | |
war mit Ihrem ungarischen Freund Richard Rapport sehr schmal besetzt. | |
Magnus Carlsen leistet sich dagegen einen ganzen Stab an Helfern, die ihm | |
Eröffnungsideen zutragen. | |
Ich mag es nicht, wenn zu viele Leute um mich herum sind. Ich hatte aber | |
neben Richard schon Sekundanten im Hintergrund, die mir zusätzlich bei der | |
Eröffnungsvorbereitung halfen. | |
Sind Sie vielleicht zu empfindsam für einen großen Spieler? Die Legenden | |
der Schachszene waren Egomanen und restlos von sich überzeugt, allen voran | |
der US-Amerikaner Bobby Fischer, aber auch der Russe Garri Kasparow. | |
Ich versuche, ein netter, freundlicher Mensch zu sein. Ich pflege auch | |
andere Hobbys wie Fußball, Basketball oder Tischtennis. | |
Wen halten Sie als berufener Mann vom Fach für den besten Schachspieler | |
aller Zeiten? | |
Carlsen und Kasparow liegen eng beieinander. Nimmt man die Zahl der | |
gewonnenen Weltmeisterschaftstitel als Maßstab, liegt Kasparow um einen | |
Titel vorn. Er hat die Szene damals über alle Zeitkontrollen hinweg | |
beherrscht – von Blitzschach über Schnellschach bis zum klassischen | |
Turnierschach. Nichtsdestotrotz denke ich, dass Carlsen der stärkste | |
Spieler aller Zeiten ist. | |
Sie haben ja auch schon mit ihm zusammengearbeitet. | |
Ja, 2015 gehörte ich zu seinem Team in Katar. Wir spielten ein paar | |
Schnellschachpartien und ziemlich viel Basketball. Im Basketball waren wir | |
ähnlich gut, im Fußball ist er deutlich besser. Wir sind aber beide keine | |
großen Redner, weshalb wir uns nicht sonderlich ausgetauscht haben. | |
Nervt es, dauernd auf Carlsen angesprochen zu werden? Sie sind doch der | |
Weltmeister. | |
Es ist okay für mich, weil er der stärkste Spieler ist. Außerdem hat er den | |
größten Einfluss auf die Schachwelt und auch außerhalb. Ohne ihn würde | |
weniger passieren. Er ist ein charismatisches Vorbild. | |
Sehen Sie den WM-Titel als Geschenk von ihm an Sie an? | |
Seine Entscheidung, nicht mehr anzutreten, hat mich wirklich überrascht! | |
Den Titel kampflos abzugeben, ist eine wirklich harte Entscheidung. Wir | |
erfuhren aber auch als Grund, dass er kein Interesse mehr hat an Schach mit | |
klassischer Zeitkontrolle. Er spielt lieber mit kurzer Bedenkzeit Blitz- | |
oder Schnellschach. Er setzt außerdem verstärkt auf [2][Chess 960]. | |
Das ist die Schachvariante, bei der die Grundstellung vor der Partie unter | |
960 Möglichkeiten ausgelost wird. Was halten Sie davon? | |
Ich mochte es, auch wenn ich beim ersten Mal nicht so gut war. Das Spiel | |
frei von Eröffnungsvarianten war wie frische Luft, die in ein Zimmer | |
strömt. Ohne all das Eröffnungswissen ist es allerdings für mich eben | |
schwieriger zu spielen. Vom ersten Zug an denken zu müssen, ist ungewohnt | |
und schwierig. | |
Könnten Sie sich nach der Erfahrung mit Ihrer Depression vorstellen, wie | |
Carlsen auf eine Titelverteidigung zu verzichten, weil die möglicherweise | |
zu anstrengend wäre? | |
Nein, sich zu solch einer weitreichenden Entscheidung durchzuringen, | |
scheint mir unvorstellbar. Richard Rapport hat mir als guter Freund | |
geholfen, besonders im mentalen Bereich, damit ich während der WM mit dem | |
Druck klarkomme. | |
Rapport gilt als sehr origineller Spieler, der verrückte Ideen hat. Er | |
ergänzt sich mit Ihnen vermutlich, weil er ein anderes Denken als Sie hat. | |
Ja, wir haben unterschiedliche Herangehensweisen. Am Anfang der | |
Zusammenarbeit war es deshalb schwierig mit uns. Er spielt anders als die | |
meisten. Aber nachdem wir zusammen alle Partien analysiert hatten, | |
erweiterte das meinen Horizont und verbesserte mein Spielverständnis. Bei | |
der WM hat er mich auch immer mit Witzen aufgeheitert. | |
Beim Turnier aktuell in Karlsruhe haben Sie nur das Spiel um Platz fünf | |
gegen den Qualifikanten Daniel Fridman gewonnen. Haben Sie sich nicht mehr | |
erwartet? | |
Ich wollte nicht Letzter werden. Das habe ich geschafft. Beim letzten | |
Turnier in Deutschland wurde ich Letzter. Das wollte ich vermeiden. | |
Ein bescheidenes Ziel für den Weltmeister. | |
Ich dachte auch erst, dass ich nach dem WM-Sieg einige Turniere gewinnen | |
sollte. Inzwischen denke ich zwangsläufig anders: Meine Bilanz ist seitdem | |
wirklich mies. | |
Einst haben Sie die Fans mit einer Serie von mehr als 100 Partien, in denen | |
Sie ungeschlagen geblieben sind, begeistert. | |
Ja, das stimmt, ist aber vier Jahre her. Mein Stil hat sich verändert. | |
Früher habe ich solider gespielt und war kaum zu schlagen, jetzt gehe ich | |
aggressiver heran. Dadurch wurde ich verletzlich und verliere zuweilen. | |
Was halten Sie von dem 19-jährigen [3][Vincent Keymer]? Kann der deutsche | |
Großmeister mal Ihr Nachfolger werden? | |
Er spielt sehr gutes Schach. Er hat mich vor Karlsruhe schon zweimal | |
geschlagen (überlegt kurz). Nein, Entschuldigung, sogar dreimal! | |
Dann fürchten Sie ihn mehr als Magnus Carlsen? | |
Der Bilanz nach schon. Ich habe ihn nur einmal bezwingen können – bei einem | |
Onlinewettbewerb. | |
Lassen Sie uns über Tischtennis reden, den chinesischen Nationalsport. | |
Spielen Sie öfter? | |
Ja, eigentlich täglich, wenn ich zu Hause bin. | |
Mit wem? | |
Mit meinem Vater Ding Wenjun. | |
Wer gewinnt? | |
Ich gewinne meistens, aber es ist meist äußerst knapp. Oft geht es in den | |
engen Sätzen 4:3 für mich aus. Ich spiele mit Shakehand-Griff, mein Vater | |
spielt wie die meisten Chinesen Penholder. | |
Ihr Freund Wei Yi, der einst im Alter von 11 Jahren jüngster Großmeister | |
aller Zeiten wurde, hat Ihnen zur Weltmeisterschaft ein Gedicht gewidmet. | |
Er soll auch gern Tischtennis spielen. Zeigt er an der Platte auch seine | |
Künste? | |
Das Gedicht hat mich damals sehr bewegt. Aber an der Platte ist er | |
schlechter (schmunzelt). Da spielt er nicht so gut. | |
Spielen Sie lieber Schach oder Tischtennis mit ihm? | |
Tischtennis mit ihm macht mehr Spaß. | |
Welche Ziele haben Sie noch im Schach? Vielleicht Magnus Carlsen in der | |
Elo-Weltrangliste überflügeln, um endlich die Fragen nach ihm loszuwerden? | |
Ich bin schon froh, wenn ich bei den Turnieren gut spiele. | |
22 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Hartmut Metz | |
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